Textatelier
BLOG vom: 19.12.2007

Im Aarauer „Schlössli“, wo man die eigene Broschüre heftet

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Der Umgang mit dem Bostitch ist mir vertraut; ich bringe es sogar fertig, ihn mit neuen Klammern zu munitionieren. Aber eine Broschüre mit Kartonumschlag zu heften, eine Illustration in den Deckel zu prägen und die Ecken der Seiten abzurunden, waren für mich unerreichbare kunsthandwerkliche Dimensionen. Doch seit meinem Besuch im Stadtmuseum Aarau im Schlössli liegt eine von mir persönlich in handwerklicher Manier gebundene Broschüre mit dem Titel Die Industrialisierung des Buchbindens“ vor. 28 Seiten aus 150 g schwerem Papier umfasst sie. Ein Bekannter, Hans-Rudolf Signer aus Unterentfelden, der im Schlössli gelegentlich die Besucher betreut, hatte uns darauf aufmerksam gemacht, dass Axel Friedrich aus Lenzburg AG seine Buchbinderei-Maschinen ausstelle, was ich mir nicht zweimal sagen liess.
 
Als wir am Donnerstagnachmittag, 13. Dezember 2007, im Stadtmuseum am Aarauer Schlossplatz 23 (E-Mail: schloessli@aarau.ch), dem ältesten Aarauer Gebäude als mächtiger Turm aus Findlingen und Aarekieseln, aufkreuzten, startete Axel Friedrich gerade mit einer Führung von einer Gruppe interessierter Personen. Rund ums wunderschöne Aarauer Stadtmodell gruppierten sich zudem Buchbinde- und Kartonagemaschinen aus der Zeit des Beginns der Rationalisierung und Standardisierung vor rund 100 Jahren, teilweise schwere Ungetüme aus massivem Eisen, die für die Ewigkeit gebaut worden sind. Mit ihnen lassen sich Arbeiten wie das Nuten, Stauchen, Bördeln und Fadenknotenheften exakt ausführen, wobei die Bedienung allerdings recht aufwendig ist und einige Kraft braucht. Das Maschinenarsenal erinnert auch an die Pappprägeindustrie, an die Vollpappeschachtelherstellung, welche leider gerade in den letzten Zügen ist, und an die Geschäftsbücherfabrikation.
 
Die Maschinen stammen aus dem berühmten Aarauer Verlagshaus Sauerländer mit seiner 200-jährigen Geschichte (www.sauerlaender200.ch) , das zugleich auch eine der ersten Grossbuchbindereien der Schweiz war und um 1890 in diesem Bereich mehr Angestellte beschäftigte als in der Druckerei. 1885 wurde ein Neubau mit den besten Maschinen aus Leipzig bestückt, das damals das Zentrum der Maschinenindustrie für diese Branche war. An der Führung im „Schlössli“ nahm gerade auch der Historiker Dominik Sauerländer, Aarau, teil, der Impulse zu dieser Ausstellung gegeben hatte.
 
Die Geschichte der Maschinen
Die Buchbinderei ist eine vielseitige Aufgabe, die mit dem Beschneiden der Papierstösse (Druckbögen) beginnt. Diese Schneidarbeiten, die sich auch auf die Bücher erstrecken, erfolgte erst ab 1813 maschinell (damals wurde die erste Schneidemaschine in England entwickelt) bzw. 1844 (erstes französisches Modell von Guillaume Massiquot). Der diesbezügliche technologische Durchbruch aber kam erst mit der wesentlich verbesserten Schneidemaschine von Karl Krause (1858) und anschliessend (1877) mit einem Dreiseitenbeschneider aus demselben Hause. Damit konnte der Buchblock nach dem Einpressen auf 3 Seiten beschnitten werden. Anschliessend wurden die Schneidemaschinen (mit der schrägen Messerführung) rasch weiterentwickelt.
 
Das Falzen seinerseits war bis ins 20. Jahrhundert eine reine Handarbeit, auch wenn schon früher die ersten Falzmaschinen entwickelt wurden, so 1849/50 in den USA und 1851 in England, wo Andrew Blake eine Schwertfalzmaschine konstruierte, die pro Stunde 1000 Bogen falzen konnte. Ein Gerät mit guten Eigenschaften wurde von der noch heute existierenden Firma Martini (heute: Müller Martini Buchbinde-Systeme AG) in Frauenfeld TG entwickelt. 1925 baute dann die Firma Spiess in Leipzig eine Stauchfalzmaschine nach amerikanischem Vorbild; nach diesem System sind auch die modernen Einzelbogen-Falzmaschinen konstruiert.
 
Das Heften war eine besonders schwierige Angelegenheit. Nachdem eine Maschine zur Drahtheftung der Ecken von Faltschachteln entwickelt war, wurde 1875 von den Gebrüdern Brehmer in Leipzig auch das erste Buch mit Draht geheftet. Die oft schlecht verzinkten Drahtklammern aber begannen oft schnell zu rosten, und es entstanden Rostflecken auf dem Papier (in meinem eigenen Archiv sind auch viele Büroklammern rostig geworden und haben Dokumente in Mitleidenschaft gezogen). In Preussen gab es während 2 Jahren denn auch ein Verbot der Drahtheftung für Schulbücher und Hefte, wonach im Jahr 1900 gleich 3 Fabriken Fadenknotenheftmaschinen für die Broschürenheftung anboten. Diese Fadenheftung stellte höhere konstruktive Anforderungen als Drahthefter. Eine erste wirklich befriedigende Fadenheftmaschine brachte das Unternehmen Brehmer 1884 mit seinem „Modell 16“ auf den Markt. 1898 kamen auch Schweizer Fadenheftmaschinen von Martini ins Angebot.
 
Verzierungen aller Art waren früher an der Tagesordnung, und auch die Buchdeckel wurden durch Prägungen verschönert. Seit etwa 1830 wirkten Prägepressen an der Gestaltung der Buchgesichter mit, während bis anhin Stempel, Fileten und Rollen diese Aufgabe übernommen hatten. Wiederum war es der Erfinder Karl Krause, der 1857 eine verbesserte Kniehebelpresse schuf, deren Oberteil zuerst mit glühenden Eisenstäben und dann mit Gasbrennern erhitzt wurden; 1896 begann die Aufheizung mit Elektrizität. 1910 wurden 40 Tonnen schwere Riesenprägepressen gebaut, die eine Fläche von 1000×1250 cm ausprägen konnten und eine Druckkraft von 1000 Tonnen entwickelten. Sie wurden in Buchholz im Erzgebirge unter anderem zur Verschönerung von Sargdeckeln (und damit wohl der Bestattungsrituale) und anderen Pappartikeln eingesetzt.
 
Die Verpackungsindustrie entwickelte sich als Branchenzweig der Buchbinderei. Faltschachteln, die mit einer Schnur zusammengebunden wurden, kamen ab 1839 in den USA auf. Und 1872 kam August Bremer auf die Idee, die Schachteln mit Draht zu heften. Damit die harten Kartons rissfest umgebogen werden konnten, baute Krause 1860 eine Ritzmaschine mit scheibenförmigen Messern. Später wurde das Nuten erfunden, wobei ein feiner Kartonspan ausgehoben wurde, wodurch aussen und innen scharfkantige Ecken entstanden; dadurch wurde der Karton aber geschwächt. Das konnte mit einer 1892 patentierten Stauchbiegemaschine von Theodor Remus verhindert werden.
 
Die Antriebskraft
Ein grosser Teil der Buchbinderarbeiten wurde durch Menschenkraft bewerkstelligt, und im „Schlössli“ habe ich selber erfahren, wie anstrengend das sein kann, etwa beim Drehen des grossen Rads zur Betätigung der schweren Schneidmaschinen-Messer, die sich langsam senken und wieder heben.
 
Mit der ständig zunehmenden Bücherproduktion entstanden Grossbuchbindereien. Für diese wurden für den Kraftantrieb geeignete Maschinen mit exzentrischer Bewegung konstruiert. Die erste Dampfbuchbinderei war das Unternehmen Sperling in Leipzig ab 1866. Von Dampfmaschinen wurde die Kraft mit Transmissionen, Riemen und Rädern auf die einzelnen Maschinen in den verschiedenen Stockwerken des Fabrikationsgebäudes verteilt. Später setzten Gas- und dann Elektromotoren die Transmissionen in Betrieb. Die Transmissionen könnten durch das Verschieben der Riemen von einem Rad aufs Partnerrad nebenan gesteuert werden – die Redensart „De Rieme übere rüere“ (den Riemen hinüberwerfen für vorwärts machen) stammt von hier. Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts wurde dann jede Maschine mit einem kleinen Elektromotor bestückt.
 
Die Rolle der Frauen in der Buchbinderei
Die Aarauer Ausstellung ist mit verschiedenen Schrifttafeln versehen, denen die hier wiedergegebenen Fakten entnommen sind; sie stammen vom ausgesprochen fachkundigen Axel Friedrich, der in Lenzburg die Siebdruckwerkstatt „Alligator“ betreibt und der auch den zur Eigenheftung bestimmten, gepflegt gedruckten Katalog geschaffen hat (E-Mail: axel@pipifax.ch).
 
Darin findet sich auch ein Kapitel über die „Frauen in der Buchbinderei“. Ab Beginn des 16. Jahrhunderts wurden Frauen, die oft in Buchbindereien gearbeitet hatten, wieder in den Haushalt zurückgedrängt, eine Folge restriktiver Zunftordnungen. Wer eine Frau für Buchbinderarbeiten einsetzte, wurde mit Gefängnis bestraft. Das änderte sich aber in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder, als die Zünfte ihren Einfluss verloren hatten. Die Frauen waren Billigarbeitskräfte, die regelrecht ausgebeutet wurden. Was sich heute im Zeichen der neoliberalen Philosophie (reines Ertragsdenken) abspielt, gab es im kleineren Rahmen schon damals.
 
Das „Schlössli“
Im Aarauer Schlössli können die Besucher übrigens selber eine Faltschachtel herstellen, einschliesslich der Heftung – auch Frauen ist das problemlos gestattet. Die Ausstellung dauert bis zum 24. Februar 2008. Das Stadtmuseum, von Karin Barbara Rössler geleitet (E-Mail: kaba.roessler@aarau.ch), ist jeweils von Mittwoch bis Sonntag von 14 bis 17 Uhr offen. In diesem Stadtmuseum sind viele Kostbarkeiten („Preziosen“ wie Zinnfiguren, Porzellan, Schmuck, Klaviere, Möbel und unzählige Dinge mit Lokalbezug) zu entdecken. Martin Pestalozzi hat dazu 2 gepflegte Broschüren geschrieben. Vor allem kann man im Schlössli auch lernen, wie vom 16. bis 19. Jahrhundert in Aarau und Umgebung gewohnt worden ist.
 
Die Broschüren sind mit einer Drahtheftung versehen. Ich achte jetzt mehr auf solche Dinge.
 
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