Textatelier
BLOG vom: 17.12.2007

Die Fussballstadion-Sitten sind nun in die Politik geschwapst

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Die Situation in Fussballstadien kenne ich nur vom Hörensagen. So hörte ich sagen, dort gebe es 2 Mannschaften, die einander feindlich gegenüberstehen und mit den Füssen versuchen, einen Ball ins feindliche Tor, das durch 2 Pfosten und eine Querlatte markiert ist, zu kicken. Daher die Wörter Fussball und Torheit.
 
Jede dieser Mannschaften, so vernahm ich im Weiteren, habe einen eigenen Fanclub. Dieses Wort ist von Fanatiker (englisch: fanatic) abgeleitet, das heisst also, es sind fanatisierte Anhänger. Und die den beiden Parteien zuzuordnenden Fanatiker-Ansammlungen in den abgesperrten Fanmeilen sind einander logischerweise ebenfalls feindlich gesinnt. Da sie über keinen Ball verfügen, gehen sie direkt aufeinander los, beutzen als Wurfgeschosse, was gerade herumliegt.
 
Aus alledem erklärt sich die ausserordentlich grosse Beliebtheit des Fussballsports in dieser Zeit, in der die Gewaltförderung die weit grössere Bedeutung als die Bildungsbemühungen hat. Dementsprechend soll die EU-Kommission, die durch ihre von Weisheit geprägten Beschlüsse immer wieder auffällt, Computerspiele, in denen Menschen ihre Feinde wenigstens virtuell umbringen können, als „Teil der Kultur“ anerkennen; jedenfalls ist diese Information bei der Verleihung des Deutschen Entwicklerpreises Mitte Dezember 2007 in der Essener Lichtburg durchgesickert. Schliesslich gelten auch Hollywoodfilme, in denen sich die Akteure gegenseitig erschiessen und ganze Völker wie die Indianer ausrotten, ebenfalls als Kultur. Angeblich soll der deutsche Landtagsabgeordnete und medienpolitische Sprecher der christlichen CDU, Thomas Jarzombek, gesagt haben, der Bund (Deutschland) wolle die Computerspiele-Kultur durch Fördergelder in der Höhe von 600 000 Euro (etwa 1 Mio. CHF) unterstützen. Wahrscheinlich aus dem Kriegsbudget, vermute ich.
 
Aus demselben fortschrittlichen Kulturverständnis heraus werden in aller Herren und Damen Ländern auch Millionen in neue Fussballstadien ebenso öffentlich gefördert und subventioniert wie die Polizei- und Armeeeinheiten, welche an Fussball-Meisterschaftsspielen dann die ausrastenden Fans im Zaume halten müssen. In der Schweiz werden zur Vorbereitung der Fussball-Europameisterschaft 2008 gerade Abwehrstrategien zusammen mit ausländischen Sondereinheiten ausgearbeitet. Das ist die moderne Kultur. Und unser Alt-Bundesrat Adolf Ogi, der als ehemaliger „Uno-Sonderberater für Sport im Dienst von Entwicklung und Frieden“ von Kofi Annans Gnaden ausgerechnet das Fussballspielen (und nicht etwa das Lesen) als höchstes Menschheitsgut propagiert und Bälle statt Bücher verteilt hat, wurde im Rahmen der „Sports Awards“ am 15.12.2007 als „grösster Sportpolitiker der Schweiz“ gefeiert. Zu Recht: Er ist eine gross gewachsene, stattliche Persönlichkeit.
 
Aber eigentlich wollte ich gar nicht darüber schreiben, da die ins erwähnte Kultursystem eingebundenen Medien sich bereits ausreichend darüber ausgelassen haben. Ich wollte in diesem Tagebuch bloss festhalten, wie das überbordende Fussball-Fantum überall seine Spuren hinterlässt, zum Beispiel auch bei den ständigen Ratespielen, mit denen die Fernsehstationen zu den besten Sendezeiten erfolgreich dafür sorgen, dass nicht noch aus Versehen eine Sendung mit einem gewissen Bildungscharakter ins Programm rutscht, obschon auch Bildung „spannend“ sein könnte.
 
Damit die Spannung erhöht werden kann, wird ein Studio-füllendes Publikum aus TV-Begeisterten eingeladen, das dann als Applaudierkulisse zu fungieren hat. Wenn immer es einem Kandidaten gelungen ist, den Unterschied von „Schlaf“ und „Schaf“ herauszufinden oder einer sogar weiss, wer nach Verlängerung beim letzten Fussball-Match im Halbfinal des Swisscom-Cups gewonnen hat, wird er mit anhaltendem frenetischem Applaus überhäuft. Bei Mannschaftsspielen ist dieser jeweils selbstredend nach Fangruppe aufgeteilt, so dass immer in einer Ecke applaudiert und vor Freude geschrieen wird. Ein deutscher Spassmacher warf gerade die anspruchsvolle Quizfrage auf, ob der derzeitige US-Präsident „Busch“ oder „Hecke“ heisse. Ich bin restlos überzeugt, dass noch nie in der Geschichte der Menschheit so viel applaudiert, gepfiffen, gejubelt und gebuht worden ist wie heutzutage. Das Aufstehen von den Sitzgelegenheiten und Hochwerfen der Arme kann die Enthusiasmuskundgebungen noch optisch akzentuieren.
 
Aber auch darüber wollte ich nicht berichten, zumal ich schon einmal zum Abschaffen der Applaudierkulissen aufgerufen habe, selbstverständlich ohne jeden Erfolg; das Applausentum hat sich inzwischen ständig noch aufgebläht.
 
Woraus ich hinaus wollte, ist die Feststellung, dass das politische Geschehen, das sich im Zeichen der Eventisierung von Sachfragen gelöst hat und zur reinen Personalityshow umfunktioniert worden ist, zunehmend ebenfalls von Begeisterungsstürmen und lautstarken Missfallenskundgebungen geprägt wird. Mir ist das bei den kuriosen, abgekarteten Schweizer Bundesratswahlen am 12./13. Dezember 2007 aufgefallen, damit das Volk erfahre, was es mit Ränkespielen auf sich hat.
 
Als Präsident der Vereinigten Bundesversammlung, die bis zur Einführung der Bundesratswahl durch uns, das Volk, die Landesbehörde vorläufig noch zu bestimmen hat, amtete der SVP-Nationalrat André Bugnon. Der Landwirt und Weinbauer aus St-Prex VD ist ein distinguierter im Sinne von betont vornehm wirkender Herr, der auf Formen, auf Stil achtet und mir ausgesprochen sympathisch ist. In sachlicher, unterkühlter Art gab er die Bundesratswahlergebnisse bekannt, die Stimmenzahlen wirken lassend. Er schrie also nicht in den Saal: gewählt ist Eveline WIIIIDMER-SCHLUUUUUUMPF, begleitet von einer markanten Gestik. Sondern er gab Namen und Zahlen immer im gleichen Tonfall bekannt, gleichgültig, ob es sich um Bekanntgabe der Anzahl der leer eingelegten Stimmen, des Absoluten Mehrs und der erzielten Stimmen des einzelnen Kandidaten handelte: „Est élue avex 125 voix: Eveline Widmer-Schlumpf", sagte er ruhig; es war das Resultat nach dem 1. Anti-Blocher-Wahlgang. Diese persönliche Zurückhaltung hat mir imponiert.
 
Doch in den vereinigten Parlamenten (Stände- und Nationalrat) herrschte Fussballstadion-Atmosphäre, insbesondere auf der Siegerseite. Als den Linksgruppierungen gelungen war, eine Sprengkandidatin aus dem SVP-Lager aufzubauen, die vor lauter Ehrgeiz durch ihr Mitspielen dem eigenen Ansehen einen Bärendienst leistete, und diese auch noch durchzubringen, brach frenetischer Jubel aus. „Freude herrschte“ (Ogi-Sprache) auf jener Seite, die während der wenige Wochen vorher stattgefundenen Volkswahl 2007 zum schweizerischen Parlament auf der Verliererseite gestanden hatte und die nun mit Hilfe einer willfährigen Politikerin ihre Schmach übertünchen wollte. Endlich ein Pyrrhussieg! Es war, als ob bei einer Fussball-WM das entscheidende Goal, der Siegestreffer, geschossen worden sei. Die Fans rasteten aus.
 
Der Mitte-Links-Sektor gab jede Würde auf, jubelte, brachte stehend eine Ovation dar, wie sie nach jeder unbedarft abgesungenen Songstrophe auf Englisch und jedem öffentlich verkündeten Satz, der gerade irgendwo in den Kram passt, üblich geworden ist. Wenigstens etwas Gymnastik für die Konsumenten.
 
Das dürfte mit der Fussballisierung der vereinheitlichten globalen Gesellschaft zu tun haben. Das Differenzierungsvermögen ist nach dem Stil der Kriegsmacht USA auf Gut und Böse, auf Freund und Feind, reduziert. Das Unterscheiden, Auswählen und Abwägen, das eine Lern- und Denkfähigkeit voraussetzt, sind heute Dinge der Unmöglichkeit. Die Lerngesellschaft ist grösstenteils in Rudel von gedankenlosen, analphabetischen Mitläufern umgewandelt worden, die beliebig instrumentalisierbar sind, die denken, was man ihnen vorgeplappert hat, die kaufen und fressen, was man ihnen vorsetzt. Hans Magnus Enzensberger hat in solchen Zusammenhängen einmal von einer „Blindekuh“-Ökonomie gesprochen; ein Vergleich, den die ehrenwerten Kühe bitte verzeihen mögen.
 
Die „culture matters“, um es in der Sprache der Globalisierung zu sagen, die kulturellen Werte, welche die soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung prägen, weichen dem Fantum. Mit einem Applaus im Sitzen oder im Stehen mag ich diese Torheit nicht belohnen, was man mir bitte nachsehen möge.
 
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