BLOG vom: 04.01.2008
Aufforderung zum Tanz: Wenn Neujahrswünsche Horror sind
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Die Zeit der Neujahrsglückwünsche ist jetzt definitiv vorbei. Hoffentlich. Zwar haben mich viele Kundgebungen freundlicher Anteilnahme wirklich gefreut, und ich selber habe grosszügig mit solchen um mich geschmissen. Gute Wünsche haben sicher ihre Bedeutung, ihren beziehungsfördernden Reiz. Und manchmal auch nicht.
So treffen in meinem Briefkasten immer wieder Karten aus aller Welt ein, die knapp an den Rand der Vergessenheit geratene liebe Menschen in Schönschrift aufgesetzt haben und die annehmen, ich hätte ihre Adresse, die von Buchstaben und Zahlen umwickelt ist, selbstverständlich noch im Kopf. Sie nennen wohl ihren Vornamen – und das wars dann. Mir fällt dann die ehrenvolle Aufgabe zu, mit Methoden, wie sie in der Kriminalistik üblich sind, zu fahnden, oft stundenlang, falls ich die Beziehung nicht abbrechen und als unhöflicher Mensch erscheinen will. Ich habe schon alte Computer-Festplatten nach der betreffenden Adresse abgesucht, motiviert von der unbändigen Hoffnung, auf die antiquierten Angaben zu stossen. Und ich wandte die endlich gefundenen und in lesbare Formate umfunktionierten kuriosen Strassenbezeichnungen und teilweise verschlüsselte Städtenamen dann in der Hoffnung an, dass die netten Menschen inzwischen nicht umgezogen seien und die Strasse selbst in diesen Zeiten der Totalerneuerungen ihren Namen behalten durfte. Manchmal kommt Ende März solch ein Brief mit dem Vermerk „abgereist“ oder „unzustellbar“ in der entsprechenden Landessprache zurück. Ich empfange meine eigenen Postsendungen dann wie alte Bekannte und frage sie, ob ihnen die Rundreise durch verschlungene globalisierte Postpfade wenigstens gefallen habe.
Besonders reizvoll sind telefonische Glückwünsche, die gezielt zur Zeit der Festessen an Weihnachten oder am Silvesterabend als Stimmungskiller ganze Clans mit schrillen Klingeltönen aufschrecken, ausgelöst von einem gut meinenden, nahe stehenden Menschen, der sich so wichtig nimmt, dass er glaubt, sein Anruf werde als Krönung des feierlichen Abends betrachtet. Auch ganze Kriminalfilme können durch entsprechende schrille Aktionen um die schönsten spannendsten Momente amputiert werden: Da hat man 40 Minuten tapfer vor der Mattscheibe durchgehalten, und wenn sich der Mörder aus all dem Filmpersonal allmählich herauszukristallisieren scheint, wird man um diese Enthüllung betrogen. Auf diese makabre Weise habe ich schon viele Bekanntschaften mit Kriminellen verpasst. Ich kenne sie schlicht und einfach nicht. Eine gefährliche Sache.
Selbstverständlich kann man dem im dümmsten Moment störenden Anrufer beziehungsweise der Anruferin höflich sagen, ihr Telefon komme jetzt wirklich in einem unglücklichen Moment und ein beiderseits genehmes Anrufdatum aushandeln, währenddem sich der mit Zwetschgen gespickte Rindsbraten im Teller bedrohlich abkühlt. Aber mit solch einer Verschiebungsaktion ist das Risiko verbunden, dass sich die einsame Person in der Leitung an die Wand geschoben, zweitrangig und beleidigt fühlt. Die beabsichtigten Glückwünsche verwandeln sich so leicht in ein Beziehungspech. Und so muss man manchmal einfach durch. Das Telefon hat heute noch, wie zu Beginn des technischen Zeitalters, schliesslich Vorrang.
Am Neujahrsmittag 2008 machten wir nach dem Mittagessen ein Schläfchen. Weil man ja den Glockenschlag an Silvester/Neujahr nicht schlafend verbringen darf, denn man könnte dabei ja wirklich etwas verpassen, kommt man frühestens in den ersten Morgenstunden des neuen Jahrs ins Bett. Und am Morgen des 1. Januars will man das junge Jahr auch nicht schon in dessen Einlaufstrecke verschlafen, was mit anderen Worten bedeutet, dass man sich ein gewisses Schlafmanko einhandelt. Man versucht, dieses nach der Konsumation des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker sowie nach der Aufarbeitung verschiedener Restbestände, die vom Silvestermenu herrühren, durch ein wohliges Mittagsschläfchen zu kompensieren. Das tut gut, besonders wenn es draussen kühl und regnerisch ist bzw. war, wie diesmal. Wir legten uns ins kühle, von feuchter Frischluft angereicherte Schlafzimmer (der Gestank von Feuerwerk war weggeblasen) und fielen unverzüglich in den Tiefschlaf, 1. Stufe. Ob dieser nun 3 oder 5 Minuten dauerte, mag ich hier nicht genau zu sagen, zumal ich keine Stoppuhr dabei hatte. In den Ohren klang mir das 50. Neujahrskonzert nach; es wurde vom Franzosen Georges Pretre geleitet und reichte vom „Napoléon-Marsch“ bis zur „Pariserin“, garniert mit entzückenden Tanzeinlagen.
Ich befand mich gerade auf Tauchgang zum Unbewussten, das laut dem Psychotherapeuten Carl Gustav Jung „zumindest auf gleicher Ebene mit einer Laus (steht), die sich immerhin des aufrichtigen Interesses der Insektenforscher erfreut“. Die ersten vor Symbolik triefenden Traumbilder begannen gerade, aus dem Unbewussten aufzusteigen. Sie versuchten zum Jahresbeginn gerade, die psychische Balance herzustellen, wie es schliesslich – immer nach Jungs Erkenntnissen – die „komplementäre oder kompensatorische Funktion der Träume“ ist. Genau in diesen ersten wichtigen Tiefschlaf-Minuten brach ein Telefonanruf mit brutaler Wucht über unser Haus herein. Eva schoss aus Morpheus’ Armen auf, wie von einer Tarantel gestochen, eilte zum erstbesten Apparat, erschien nach etwa 5 Minuten wieder. Inzwischen hatte ich mich aufgerappelt und den Entschluss gefasst, auf einen weiteren Einschlafversuch zu verzichten und stattdessen ein Blog über Sinn und Unsinn der Neujahrsglückwünsche zu schreiben.
Was denn da los gewesen sei, wagte ich Eva noch zu fragen. Eine ihrer Bekannten aus dem engeren Telefonistinnenkreis, deren Name sie nannte, sei es gewesen, sagte sie. „Ist etwas Schlimmes oder ausserordentlich Dringendes passiert?“ fragte ich mit vorgetäuschtem Interesse, den Schlaf aus den Augen reibend. „Nein, nein“, beruhigte Eva, sie (die Anruferin) habe bloss ein gutes Jahr wünschen wollen. Ein gutes Jahr wünschen wollen … Das fing ja gut an.
Hoffentlich hat sie es auch getan, so dass dieser Fall wieder für 366 Tage erledigt wäre. Aber selbstverständlich gibts morgen wieder einen anderen Grund, um uns zur Zeit der Mittagsruhe aufzuschrecken.
Telefonate zu unanständigen Zeitpunkten empfinde auch ich wie Tarantelstiche. Diese lösen – so jedenfalls will es die mittelalterliche Auffassung – den Veitstanz, also die Tanzwut (Epilepsia saltatoria) aus.
Für die Aufnahme in ein Wiener Ballett bin ich wahrscheinlich zu alt, zu ungelenkig und zu unförmig. Aber das Tanzen will ich gleichwohl wieder etwas pflegen. Es soll ja so gesund und entspannend sein – falls man dabei nicht von einem Telefon gestört und daran gehindert wird, in Ekstase zu verfallen.
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