Aufschrei und Schweigen für Lebewesen 2. Klasse
Autor: Walter Hess
Die Tiere verhalten sich immer intelligenter als wir Menschen, ob bei Tsunami-Katastrophen, vor denen sie sich rechtzeitig in Sicherheit bringen, beim Essen, beim Umgang mit ihrem Lebensraum usw. Nur Haus- und Nutztiere zeigen Verhaltensstörungen und Zivilisationskrankheiten, wenn ihnen von den Haltern, die meistens auf Eigennutz bedacht sind, eine falsche Lebensweise aufgezwungen worden ist. Dennoch massen wir uns an, die Tiere als Lebewesen 2. Klasse zu behandeln und sie nach Belieben permanenten Folterungen auszusetzen, wie diese in irakischen Gefängnissen und auf Guantánamo unter USA-Vorgaben offenbar ebenfalls erlaubt sind.
In der Schweiz wird demnächst das geltende Tierschutzgesetz (TSchG), das aus den Jahren 1978/1981 stammt, revidiert. Dieses hat solch eine Revision im Sinne einer Verbesserung für die Tiere nötig. Aber selbst mit dem Vollzug der eher produktions- als tierfreundlichen Vorschriften hapert es in der Regel. Nur gerade Steuergesetze werden minuziös vollzogen; man könnte dieses Vorbild durchaus auf andere Gesetze des Lebens ausdehnen, selbst wenn damit kein materieller Gewinn zu erwirtschaften ist. „Nicht selten werden in der Öffentlichkeit Tierschutzmissstände bekannt, die von den Behörden, auch von den Strafuntersuchungsbehörden, gedeckt werden“, schrieb Antoine F. Goetschel, Geschäftsführer der Stiftung für das Tier im Recht mit Sitz in Zürich, in der „NZZ“ vom 30. 04. 2002. Die Vollzugsdefizite beruhen im Wesentlichen darauf, dass sich Tiere nicht selber wehren können und nur in Ausnahmefällen Tieranwälte haben (löbliche Ausnahme: Kanton Zürich).
Der bundesrätliche Vorschlag für die gesetzlichen Neuerungen kann die Tierfreunde nicht zufrieden stellen, weil darin zum Beispiel nichts über die Freilandhaltung und auch nichts über die für Tiere nötigen Sozialkontakte steht. Der Schweizer Tierschutz (STS) hat die folgenden Forderungen aufgestellt:
œ Das Kriterium der wirtschaftlichen Tragbarkeit bei der Festlegung von Mindestanforderungen zur Nutztierhaltung soll gestrichen werden.
Âœ Grundsätze zur Haltung von Wild- und Heimtieren müssen definiert werden.
Âœ Der Bund soll Schlachttiertransporte beschränken.
œ Der Bundesrat soll mindestens einen verbindlichen Regelungsauftrag erhalten.
Âœ In den Kantonen sollen Tierschutzanwälte eingesetzt werden, um das Vollzugsdefizit bei der strafrechtlichen Verfolgung von Tierquälerei zu beheben (der Kanton Zürich kennt bereits seit Jahren einen kantonalen Anwalt für Tierschutz in Strafsachen).
œ Schwere Tierversuche sollen per Gesetz durch Alternativmethoden ersetzt werden.
Âœ Die Dokumentationsstelle für Tierversuche und Alternativmethoden, die vom Bundesrat aus dem Gesetzesentwurf gestrichen worden sei, solle weitergeführt werden.
Soweit die erstaunlich zahm ausgefallenen STS-Forderungen, eigentlich Selbstverständlichkeiten. Der lendenlahme Vorstoss, mit dem offenbar niemand vergrault werden sollte, müsste unbedingt noch ergänzt werden, etwa durch eine strikte Begrenzung der Überzüchtungen. Auch die Kastration von Schweinen ohne Betäubung ist ein heute nicht mehr tolerierbares Relikt aus einer peinlichen Vergangenheit. Und auch Pferde müssten ausdrücklich dem Tierschutz unterstellt werden, damit die Anbindehaltung überwunden werden kann – und so weiter.
Wenigstens in einem Bereich lobt der STS die Schweizer Verhältnisse: In Bezug auf die Legehennenhaltung kennt die Schweiz bereits seit 1991 ein Käfigbatterie-Verbot. Die Nachbarländer sind noch nicht so weit. Also: Esst Schweizer Eier, vor allem solche aus der Freilandhaltung.
Zu den trüben Kapiteln gehören hierzulande die Tierversuche, die man vollkommen verbieten müsste; denn die darauf basierende Pseudowissenschaftlichkeit produziert neben dem unsäglichen Tierelend gerade auch noch laufend falsche Resultate. Diese Fehlanzeigen ermöglichen die Zulassung von Medikamenten, welche für den Menschen gesundheitsschädlich sind – die Medikamentenskandale sind ja zu einer Dauereinrichtung geworden; Vioxx war der jüngste Fall. Die Medikamente, die eigentlich eine Heilung bringen sollten, sind mehrheitlich zu Giften geworden, die ständig mit Warnungen begleitet werden müssen. Wahrscheinlich wird das demnächst auch bei den Nahrungsmitteln der Fall sein, wenn sie durch Chemikalienbeigaben und Genverseuchungen noch weiter heruntergewirtschaftet werden.
Ein weiteres Elend sind die Tiertransporte, die im Rahmen der Globalisierung über immer weitere Distanzen ausgedehnt werden müssen. Gerade in diesem Bereich müsste alles getan werden, um die überschaubare Regionalisierung anzustreben. Den Tieren käme solch ein Unfug des internationalen Umherkarrens von Lebware nicht in den Sinn.
Viele ethisch hoch stehende Menschen setzen sich für Tiere ein. Soeben habe ich einen Prospekt „Schweigen für Tiere. Wanderungen an Flüssen“ aus dem Briefkasten genommen, der mir von Dr. Roland Stiefel, General-Guisan-Strasse 60, CH-5000 Aarau, zugestellt worden ist. Er organisiert das „Schweigen für Tiere“ seit etwa anderthalb Jahren und führte bisher etwa 36 Wanderungen auf 12 verschiedenen Routen an Flüssen durch; die Wanderer kommen immer wieder an den Ausgangspunkt zurück. Laut Stiefels Angaben nahmen daran durchschnittlich etwa 12 Personen teil; seine Adresskartei umfasst etwa 300 Adressen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stammen aus allen Altersbereichen und haben ein breit gestreutes berufliches Herkommen. Sie schätzen die unkomplizierte Organisation (keine An- und Abmeldung, Durchführung bei jedem Wetter) und die Unabhängigkeit des Projekts von irgendwelchen Organisationen.
Auf meine Bitte, mir seine Erfahrungen mitzuteilen, schrieb mir der Initiant, der sein Anliegen auch als „Drehspielmann Enki Wolf“ vertritt, soeben: „Bei allen Menschen, denen ich bisher auf den Wanderungen begegnet bin, ist das konkrete und ‚bodennahe’ Tierschutzanliegen spürbar: also keine abgehobene Esoterik, aber auch kein fanatischer Fundamentalismus. Zudem wird immer wieder deutlich − gerade bei teilnehmenden Menschen, die an der Tierschutzfront arbeiten: Die Schweigewanderungen in ihrer inneren Konzentration ersetzen selbstverständlich konkrete Tierschutzmassnahmen keineswegs, aber sie können Kräfte und das Gefühl des Zusammenhalts für die tägliche Tierschutzarbeit vermitteln. Und mit dem neuen Konzept kann man sich jetzt auch für sich und jederzeit auf eine Konzentrationswanderung an einem Fluss begeben...“
Er strebe keine Massenbewegung an: „Aber es ist sinnvoll, wenn sich der Kreis von Gleichgesinnten kraftvoll erweitert. So wird man sich, ob man individuell oder in einer Gruppe wandert, von guten Energien vieler auch unsichtbarer Menschen begleitet fühlen. Die Flussstrecken wurden für die Besinnungswanderungen ausgewählt, weil das Wasser das Symbol für Verbundenheit und Lebensenergie ist.“ Das liest man in Roland Stiefels Prospekt.
Die Idee des lautlosen Protests in der freien Natur hat mich spontan angesprochen. Manchmal muss man schreien, und manchmal ist das Schweigen tatsächlich die sinnvollere, eindrücklichere Lösung.
Schliesslich ertragen die Tiere ihr Elend ebenfalls schweigend, ein weiteres Zeichen von Würde und Weisheit. Laut Chamisso muss man schweigen, wo Sprechen (und Schreien) nicht am Ort ist.
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