BLOG vom: 26.01.2008
Vindonissa (1): Amphitheater als brutale Erziehungsanstalt
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Das aargauische Windisch bezieht sein Ansehen vor allem aus der Geschichte seit dem Altertum, deren Monumente zunehmend sichtbarer werden. Um 50 vor unserer Zeitrechnung, vor über 2000 Jahren also, liessen sich die Kelten auf dem Windischer Sporn nieder, im Plateau zwischen Aare und Reussmündung, dieser breiten Schotterterrasse, wo die Juraketten vom Wasser in einem Zug durchtrennt worden sind. Um die Zeitenwende errichteten die Römer hier einen Stützpunkt, der allmählich zu ihrem grössten Heerlager auf dem Gebiet der heutigen Schweiz ausgebaut worden ist. Laut den Archäologen Rudolf Laur-Belart (1898‒1972) war es die „zentrale Garnisonsstadt der ganzen Reichsverteidigung am Oberrhein“. Daneben gab es noch Legionslager des obergermanischen Römerheers in Strassburg (Argentorate) und Mainz (Monontiacum).
Zur Garnisonsstadt Vindonissa, die über 6000 Legionären Unterkunft bot, kam es aufgrund folgender Konstellation: 58 v. u. Z. hatte der römische Politiker und Feldherr Gaius Julius Caesar die Gallier mit den auswandernden Helvetiern bei Bibracte (bei Autun im französischen Departement Saône-et-Loire) besiegt. Das damalige Gallien umfasste etwa das heutige Frankreich, Belgien und das schweizerische Mittelland. Die Helvetier wurden mit Auftrag in ihre Heimat zurückgeschickt, die Wacht am Rhein gegen die Germanen zu übernehmen. Weil sie so tapfer gekämpft hatten und nicht davongerannt waren, empfingen sie das mildeste Untertanenrecht und behielten als Verbündete (foederati) ihre kommunale Selbstständigkeit.
Zur Sicherung der nördlichen römischen Reichsgrenze gründete Tiberius 15 v. u. Z. die Militärstation Vindonissa als strategischer Schlüsselpunkt der Verteidigungs- und Angriffslinie gegen die Germanen. Die Garnisonsstadt hatte einen respektablen zivilisatorischen Standard, worauf u. a. 2 unterirdische Wasserleitungen hindeuten, die Vindonissa mit Frischwasser aus dem Birrfeld versorgten und von denen heute noch eine 2 km lange Leitung den Springbrunnen vor der Psychiatrischen Anstalt Königsfelden speist bzw. tränkt; ich werde dieses sensationelle Infrastrukturwerk im Vindonissa-Blog 2 noch eingehender vorstellen.
Vindonissa entstand an der Kreuzung der grossen Heerstrassen innerhalb des römischen Strassennetzes; hier trafen sich ausser den 3 Flusstälern von Aare, Reuss und Limmat die schon zu vorrömischer Zeit benutzten Verkehrslinien. Und vermutlich gab es auch schon eine Brücke. In diesem Gebiet drohte ein Barbareneinbruch aus dem Norden am unmittelbarsten.
Vindonissa, wie es in der Römersprache heisst, diente, wie die anderen Lager auch, in erster Linie dazu, die Alemannen (Alamannen) in Schranken zu halten. Die Lage zwischen den beiden ehemals schiffbaren Flüssen Aare und Reuss bot gute Voraussetzungen für Handel und Wirtschaft, die sich im Mittelalter auch die Habsburger zunutze machten. Ein prägendes Ereignis in diesem Zusammenhang war die Ermordung von König Albrecht I. von Habsburg an der Reuss am 1. Mai 1308 – vor 700 Jahren also. Diese innerfamiliäre Bluttat wegen eines Erbschaftsstreits führte zur Gründung des Klosters Königsfelden (1311) innerhalb der Gemeinde Windisch; die Klosterkirche bietet Höhepunkte der europäischen Glasmalerei: die Chorfenster aus dem 14. Jahrhundert, die zwischen 1988 und 2002 renoviert worden sind und internationale Beachtung finden.
Das Amphitheater
So hat sich in Windisch also eine geballte Ladung an Denkmälern aus einer bewegten Geschichte angesammelt. Dazu gehört das grösste römische Amphitheater der Schweiz (neben Avenches, Augusta Raurica, Martigny, Nyon und auf der Engehalbinsel bei Bern). Das Amphitheater Vindonissa wurde im Jahr 30 erbaut und bestand ursprünglich aus Holz. Der aus der griechischen Sprache stammende Wortbestandteil amphi bedeutet doppel-, auch beidseitig bzw. herum; ein Amphitheater war also ein „Doppeltheater“, das um den Schauplatz der oft grauenvollen Darbietungen herum gebaut worden ist, so dass die sportlichen und die blutigen Spiele von beiden Seiten betrachtet werden konnten (im Gegensatz zu den halbrunden Theatern). Das bekannteste und grösste Amphitheater ist das Kolosseum in Rom mit dem Unterbau und der Fassade aus Travertinsteinblöcken, wo die Zuschauerreihen 2 bis 3 Stockwerke hoch hinter- und gleichzeitig übereinander angelegt waren und 60 000 Personen fassten – Vindonissa × 6. Das soeben im Bau befindliche Stadion in Peking, das die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron im Hinblick auf die Olympischen Sommerspiele 2008 entworfen haben (genannt Birds Nest= Vogelnest, der filigranen Verstrebungen wegen), bietet vergleichsweise 100 000 Personen Platz – chinesische Dimensionen.
Die ältesten Amphitheater waren ovale Holzbauten; später wurden sie aus Stein errichtet. Und das geschah auch in Vindonissa nach einem Brand um 46 n. u. Z. Das neue Steinbauwerk aus Jurakalk mit hölzernen Aufbauten entstand. Damals war die 13. Legion (Legio XIII Germania) dort stationiert, und beim Neubau half auch die aus Castra Vetera (heutiges Xanten) angekommene 21. Legion (Legio XXI Rapax). Bei Zirkus- und Gladiatorenspielen fanden hier etwa 10 000 Zuschauer Platz; das Volloval misst 112 × 98 m. Die Anlage wurde gleichzeitig zum Testen neuer Kampftaktiken benutzt. So mussten germanische Kriegsgefangene gegen Kriminelle kämpfen, was Gelegenheit bot, von den kämpfenden Germanen zu lernen.
Das Wort Gladiator wird vom lateinischen gladius = Schwert abgeleitet. Und bei den Gladiatoren des antiken Roms handelte es sich um Berufskämpfer, die Schaukämpfe veranstalteten. Auf der Informationstafel beim Amphitheater Windisch steht: „Die Gladiatoren, die sich in der Arena auf Leben und Tod bekämpften, waren Bestandteile des römischen Lebens von 264 vor bis Anfang des 5. Jahrhunderts nach Christus.“ Ich bin immer wieder überwältigt von der Kraft, die in diesem Volke steckte. Und nebenan steht: „Die Faszination am Spiel mit dem Tod wurde auch in Wandgemälden eingefangen. Die Abbildungen erzählen von einer Gesellschaft, die Gewalt und militärische Stärke vergöttert. ,Wir sind in eine Welt geboren, in der es kein Pardon gibt!’ schreibt der römische Philosoph Seneca. Eine Schwarz-Weiss-Gesellschaft, die nur Sieger oder Besiegte kennt.“
Im Jahr 101 verlor das Amphitheater seine Bedeutung, als die 11. Legion (Legio XI Claudia), die bis dahin die Vorgänger-Legionen abgelöst hatte, abzog. Während einer 160 Jahre dauernden Zeit des Friedens war Vindonissa nicht besetzt. Es erlebte im 3./4. Jahrhundert wegen des ersten Alemannen-Einbruchs eine Renaissance; die ganze stadtartige Anlage wurde neu befestigt. Doch dann begrub die Geschichte sie und das Theater.
Im 19. Jahrhundert trat das Amphitheater bloss noch als Geländesenkung in Erscheinung, die „Bärlisgrueb“ (Grube der Bären) hiess, eine Anspielung an die Kämpfe mit Raubtieren. Das Amphitheater wurde zwischen 1897 und 1907 unter der Leitung der Gesellschaft Pro Vindonissa Brugg ausgegraben und erstmals restauriert; es ist seit 1898 im Eigentum des Bundes, also schweizerisches Staatseigentum. Eine weitere Restaurierungsphase erfolgte 1950, und 2006 begann eine neuerliche sanfte Restauration, die 2009 abgeschlossen werden soll. Schadhafte Mauerteile werden neu gebaut, und auch ein Entwässerungskonzept soll umgesetzt werden. Hinzu kommen neu gestaltete Zugänge und eine neue Toilettenanlage, auf dass das Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung eine nicht weiter zerfallende Arena für Geschichtsfreunde bleiben kann. Die originalen Mauerteile sollen so weit als möglich erhalten werden; schadhafte Partien werden neu aufgemauert. Sie sind zurzeit mit Plastikfolien abgedeckt.
Der Sinn der Kämpfe
Am Nachmittag des 19. Januar 2008 habe ich wieder einmal diese Amphitheater-Stimmung in Windisch auf mich wirken lassen. Ich war allein in dem Riesenoval, dachte an das, was ich schon über die römischen Gladiatorenkämpfe und Tierhatzen gelesen hatte, so etwa im Buch „Der Aufstieg Roms und das Imperium“ von Will Durant (Naumann und Nobel, Köln 1944): „Zum Tode Verurteilte wurden, manchmal in Tierfelle eingenäht, den Raubtieren vorgeworfen, die man für diesen Anlass hungrig gelassen hatte; der Tod kam in diesen Fällen unter erdenklichen Qualen, und die Wunden waren manchmal so tief, dass Ärzte diese Menschen zum Studium der inneren Anatomie benutzten (…). Am aufregendsten war es, wenn bewaffnete Männer im Zweikampf oder massenweise gegeneinander antraten. Die Kämpfer waren Kriegsgefangene, Verurteilte oder ungehorsame Sklaven.“ In Gladiatorenschulen wurden die Kämpfer ausgebildet. Ausbildung und Zucht waren sehr streng. Die Kost wurde von den Ärzten überwacht, die Gerste zur Entwicklung der Muskeln verschrieben. Ich habe mich sogleich entschlossen, wieder einmal eine Gersten- und Bohnensuppe zuzubereiten.
Die meisten Römer befürworteten die Gladiatorenspiele, weil hier auch Schwerverbrecher umkamen, wodurch sie andere Menschen von Übeltaten abschreckten – eine erzieherische Massnahme also. Zudem würde, so hiess es, das Volk zu spartanischen Tugenden ermuntert. Und der häufige Anblick von Kampf und Blut gewöhne die Römer an die Anforderungen und die Opfer des Kriegs, erkannte man. Der jüngere Plinius sprach sich lobend über Traian aus, weil dieser für Spiele sorge, die den Mensch „zu edeln Wunden und zur Todesverachtung“ anhielt. Nur Cicero zeigte sich über die Gemetzel ungehalten: „Was kann ein Mann von feiner Bildung für Vergnügen daran finden, wenn ein schwacher Mensch von einer übermässig starken Bestie zerfleischt oder ein prächtiges Tier mit einem Jagdspiess durchbohrt wird?“
Ich hing der Frage nach, zu wie viel geistigem und gesellschaftlichem Wandel es seither eigentlich gekommen ist. Denn zweifellos sind solche historischen Begebenheiten ein wichtiger Interpretationshintergrund bei der Suche nach unserem gegenwärtigen Standort nach der Sammler- und -Jäger- und der Ackerbauphase innerhalb der Industriegesellschaft. Sind wir nach all den noch kaum bewältigten Entwicklungsstufen bessere Menschen geworden? Die Antwort bleibt mir im Halse stecken.
Mir behagte der Umstand, dass das Amphitheater bei meinem Besuch in einer friedlichen Beschaulichkeit dahindöste. Das Oval ist von einem Kranz aus Pappeln (so hoch wie sie war etwa der Theaterbau) und Einfamilienhäusern und der 1965 erbauten römisch-katholischen Marienkirche mit ihrem Sternenhimmel aus Lichtkuppeln umgeben. In dieser Arena werden sich wohl nie mehr Gladiatoren den Körper mit ihren Schwertern durchbohren.
Unsere modernen Amphitheater sind die Sportstadien mit ihren Schaukämpfen, die nicht mehr zu Tode führen. Höchstens Randalierer halten die Erinnerung an die Zustände im Alten Rom wach – im Hinblick auf die Fussball-Europameisterschaften 2008 werden ganze Polizeiheere mobilisiert, zum Wohle des völkerverbindenden Sports. Vielleicht entspricht halt das, was die Römer offen auslebten, dem menschlichen Wesen mit seinen Aggressionen, die sich je nach Lebensstil in anderer Form präsentieren. Unter solchen Voraussetzungen ist eine friedliche Welt leider unvorstellbar.
Ich fühlte mich etwas niedergeschlagen, als ich aus dem offen gelegten Kanal für das Bedienungspersonal des Amphitheaters heraus trat, nochmals einen Blick in die Arena warf und das weite Mauern-Oval des mit seinen Treppenhausnischen und den rundum angeordneten Wälmen, wo sich Zuschauer am Töten ergötzten, verliess. Ist das vielleicht ein Mahnmal?
Quellen
Busigny, Felix: „Das Altertum“, Verlag Eugen Rentsch, Erlenbach-Zürich 1960.
Felder, Peter: „Der Aargau im Spiegel seiner Geschichte“, AT Verlag, Aarau 1987.
Durant, Will: „Der Aufstieg Roms und das Imperium“, Naumann und Nobel, Köln 1944.
Gagliardi, Ernst: „Geschichte der Schweiz“, 1. Band, Orell Füssli Verlag, Zürich-Leipzig 1934.
Hartmann, Martin: „Das römische Legionslager von Vindonissa.“ Archäologischer Führer der Schweiz, herausgegeben von der Gesellschaft Pro Vindonissa und der Schweizerischen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte, 1983.
Maier-Osterwalder, Franz B.: „Die wasserführende römische Wasserleitung von Hausen nach Vindonissa“, in „Archäologie der Schweiz“ 17.1994.4.
Stettler, Michel, und Maurer, Emil: „Die Kunstdenkmäler des Kantons Aargau“, Band II, Verlag Birkhäuser, Basel 1953.
Informationstafeln beim Amphitheater Vindonissa, verfasst von der Kantonsarchäologie Aargau.
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