Textatelier
BLOG vom: 16.02.2008

Vorarlberg (2): Biosphärenreservat aus Bergen und Tobeln

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Für eine Region ist es eine grosse Ehre, wenn sie zum Unesco-Biosphärenreservat erklärt wird. Das sind Gebiete, die nicht unter die Plattwalzen der Globalisierung mit ihrer Fokussierung auf schnellen Ertrag ohne Rücksicht auf Verluste geraten sind. Hier bestehen vielmehr noch Gleichgewichte zwischen Bewahrung und Nutzung, zwischen Naturschutz und Wirtschaft, und die Menschen haben noch einen Naturbezug. Von den Modellregionen werden intelligente Schutz- und Nutzungskonzepte erwartet. Ich kann mir vorstellen, dass allein schon das Bewusstsein, dass die Biosphäre (der Lebensraum für Pflanzen, Tiere und Menschen) etwas Schützenswertes ist, günstige Auswirkungen auf das menschliche Verhalten der Umgebung gegenüber entfaltet. Anderseits ist es möglich (und wahrscheinlich), dass solche Regionen auch an touristischer Attraktivität gewinnen und dadurch stärker beeinträchtigt werden. In bestimmten Fällen mag dieser Effekt aber auch bewirken, dass die Abwanderung aus unattraktiv gewordenen Gegenden verhindert und die überlieferte, auch landwirtschaftliche Kultur bewahrt wird.
 
Wahrscheinlich profitiert das Biosphärenreservat Grosses Walsertal in Vorarlberg (Österreich) im zuletzt genannten Sinne von den ökosystemaren Ansätzen, und das entspricht auch den Erwartungen der Eingeborenen: „Von ihrem Biosphärenreservat erwarten sich die Walser positive Impulse für die Regionalentwicklung, insbesondere für den Tourismus. Die intakte Natur und die kulturelle Identität sollen dabei aber nicht aufs Spiel gesetzt werden“, heisst es im Prospekt „Modellregion mit Zukunft“, der vom Biosphärenpark-Management der REGIO Grosses Walsertal an der Jagdbergstrasse 272, A-6721 Thüringerberg (www.grosseswalsertal.at oder www.biosphaerenpark.com) herausgegeben worden ist. Ich kann diesen Effekt nur bestätigen; denn wäre das Grosse Walsertal (GW) kein solches Reservat, wäre ich wohl kaum hingefahren.
 
Die Unterschutzstellung erfolgte im Herbst 2000. Die touristischen Hauptattraktionen sind hier die Skigebiete Sonntag/Stein, Raggal/Marul und Fontanella/Faschina. Ein kostenloser Skibus verbindet Faschina mit dem angrenzenden Skigebiet Damüls, das bereits zur Region Bregenzerwald gehört.
 
Das grosse Walsertal von unten nach oben
Am unteren Eingang zum Biosphärenreservat befindet sich das landwirtschaftlich geprägte Dorf Thüringerberg (878 m ü. M., 660 Einwohner) am Südhang des Walserkamms. Eine gewisse Industrialisierung ging im 20. Jahrhundert von Thüringen, Ludesch und Bludesch drunten in der Talebene aus, in welche die Lutz hinunterfliesst. Dem Besucher öffnet sich sogleich eine imposante Gebirgskulisse, die vom Schadonasattel über Rote Wand, Hohen Frassen, Litzner in der Silvretta, Zimba, Schesaplana bis zu den Drei Schwestern im Rätikon reicht.
 
Die Faschinastrasse zwischen Walserkamm im Norden mit den rund 20 benannten Gipfeln zwischen 1800 und 2000 m Höhe und den Lechtaleralpen im Süden (Kalkzone aus grauschwarzer Trias und rötliche Juraschichten mit der Roten Wand und den Rothörnern) steigt dann sanft an, bis einen St. Gerold mit der schönen Propstei unterhalb der erwähnten Durchgangsstrasse förmlich zum Anhalten zwingt.
 
St. Gerold (ursprünglich: Friesen) mit dem zentralen Ereignis der Propstei („Ort der Begegnung und Sinnfindung“) ist eine Besonderheit; ein Dorfkern existiert hier nicht. Die klösterliche Anlage, die ausserordentlich gut gepflegt ist, wurde im Jahr 960 gegründet. Zu diesem mittelalterlichen Dinghof mit Leibeigenen, der seinerzeit von Einsiedeln aus verwaltet wurde, gehörten 2 Wohnberge von der im Tal fliessenden Lutz bis zur Berggrenze und von dort bis zur Frutz im Laternsertal. 1648 kamen 2 weitere Wohnberge hinzu, so dass das Propstei-Gelände bis nach Blons reichte. Die Franzosenkriege beendeten die Blütezeit dieser Propstei; sie wurde unter der Bayernherrschaft enteignet und das Gericht aufgelöst. 1806 entstanden die politischen Gemeinden St. Gerold und Blons.
 
Die Propstei gilt als kulturelles Zentrum des Biosphärenreservats. Die Anlage dient heute für Seminare und andere Veranstaltungen. Die Tradition der klösterlichen Selbstversorgung blieb weitgehend erhalten (Land-, Milch-, Forstwirtschaft sowie Gemüse- und Kräuteranbau). Von hier aus wurde übrigens vor über 1000 Jahren die Siedlungsgeschichte des GW eingeleitet.
 
Die Klosteranlage ist ein eigentlicher Kirchenbezirk mit vielen Annexbauten wie Wohn- und Wirtschaftsgebäuden und berühmtem Klosterkeller neben der romanischen Steinkirche. Hier sind viele Haflingerpferde, die hippotherapeutische Trainings z. B. bei neurologischen Bewegungseinschränkungen, Autismus usw. ermöglichen.
 
Die nächste Siedlung talaufwärts ist Blons auf 903 m und 318 Einwohnern, ebenfalls eine landwirtschaftlich geprägte Streusiedlung mit barocker Pfarrkirche und exzentrisch im Osten gelegenem Ortskern. Im Tal unten ist der Raggal-Speichersee, der zum Kraftwerk Lutz Oberstufe gehört, seit 1967 in Betrieb. Gelegentlich bereitet der See wegen der Versandung mit Wildflysch etwas Mühe, was aber nicht unverhofft so gekommen sein sollte, denn schliesslich bedeutet der Name Lutz Schlamm- oder Trübbach, abgeleitet vom lateinischen lutum. 30 grössere und kleinere Wildwasser gehören zu seinem Einzugsgebiet. Wenn sich das Wasser durch die enge Felsenschlucht zwängt, nimmt es manchmal ein Körnchen vom weichen Flysch (mit Vorliebe rutschende Sand- und Tonsteine) mit – und stetes Korn füllt den See.
 
Die Gemeinde Blons hat durch eine Lawinenkatastrophe am 10./11.01.1954 mit 57 Opfern eine traurige Berühmtheit erhalten; insgesamt wurden 13 Lawinen gezählt. Schon früher waren hier oft Lawinen niedergegangen. Inzwischen wurde der sonnige Südhang mit umfangreichen Lawinenschutzbauten und Aufforstungen abgesichert. Wie im ganzen GW, haben auch hier die Walser im 14. Jahrhundert die Rätoromanen verdrängt; die Oberherrschaft aber hatten die allmächtigen Habsburger.
 
Fast auf gleicher Höhe (888 m), aber weiter ostwärts, folgt die Gemeinde Sonntag, die 7 Tage in der Woche so heisst (zirka 700 Einwohner). Den Flecken erreicht man über eine Steilrampe von der Talstrasse B 193 aus. Oben auf einer Terrasse steht die 1687 erbaute Kirche mit ihrem zugespitzten Giebelturm. In der Arche der Kirche erinnern Symbole an die Gefallenen der Schlacht bei Frastanz vom 20.04.1499 in der Nähe von Feldkirch. Sie fand im Rahmen des Schwabenkriegs statt. Truppen des Schwäbischen Bunds und Eidgenossen schlugen und stachen aufeinander ein, bei der insbesondere die Schweizer Spiesskämpfer ein fürchterliches Gemetzel anrichteten; doch der Söldnerführer Heini Wolleb aus Uri kam dabei ums Leben. Neben der Kirche erzählt eine Informationstafel davon.
 
Mehr Erbauung bietet in wärmeren Jahreszeiten das grösste Pflanzenschutzgebiet des Landes Vorarlberg, das den gesamten Talkesser zwischen dem Blasenka-Rothorn und der Roten Wand umfasst (6420 Hektaren), momentan aber unter einer dicken Schneedecke den Winterschlaf absolvierte.
 
Das Tal, dem die Talsohle fehlt, ist nur gegen Südwesten offen und somit von den rauen Nord- und Ostwinden geschützt, hat infolgedessen ein mildes Klima. Die Siedlungen kleben zwangsläufig an den Hängen der Talflanken und sind weit verstreut – eine Walser-Spezialität, welche sich auf den wenig fruchtbaren Böden nicht allzu sehr zusammenballen konnten. Sie brauchten, um überhaupt überleben zu können, grössere Flächen wie Magerwiesen, um genügend Viehfutter einheimsen zu können. Die Walser Häuser bestehen meistens aus Holz; aber manchmal kamen auch andere an Ort und Stelle vorhandene Materialien wie Steine für die Zweckbauten zum Einsatz. Meistens sind Wohnhaus und Stall ein paar Meter voneinander entfernt, wahrscheinlich auch aus Gründen des Brandschutzes. Die gemauerte Küche befindet sich in der Regel hinter der Stube und der Schlafkammer. Ausschliesslich um die Kirchen haben sich kleine Ortskerne mit Gaststätten, Läden und anderen Dienstleistungsunternehmen gebildet, so auch in Sonntag.
 
Die Ansiedler erhielten von den Feudalherren das so genannte Walserrecht (Kolonistenrecht), das heisst die persönliche Freiheit, das Recht zur Bildung eigener Gerichtsgemeinden und das Recht der freien Erbleihe von Grund und Boden. Für die Herren brachte das die Festigung und wohl auch Vergrösserung ihres Herrschaftsbereichs. Auch wurden so oft schwierige, aber wichtige Alpenübergänge gesichert.
 
Kurz vor Mittag erreichten wir am 11.02.2008 Fontanella (1145 m); der Name bezieht sich auf eine alte Heilquelle. Fontanella (etwa 430 Einwohner) zählt zu den schönsten Hochgebirgsdörfern im Lande Vorarlberg. Die Lechtaleralpen sind von hier aus wunderbar einsehbar, vom Hohen Frassen bis zum felsigen Zitterklapfen. Auch in diesem Gebiet gäbe es Wandermöglichkeiten noch und noch; allein auf dem Gemeindegebiet sind 21 Alpen neben den tiefen Schluchten des Türtsch-, Berger-, Garlitter- und Seewaldtobels.
 
Im Dorf Soldanella, auf dem Kirchberg 25, betreibt der Verein Grosses Walsertal Tourismus seit 2006 ein Informationsbüro und im Obergeschoss die „Bibliothek der Vorarlberger Walservereinigung“ (www.vorarlberger-walservereinigung.at) eine stattliche Walser-Bücherei mit vornehmlich deutschsprachiger Literatur über die Walser in Vorarlberg, Tirol, Schweiz, Liechtenstein und Italien. Marlies Bouzo verhalf uns zu umfangreichem Material, das mir für die Verbesserung der Ortskenntnisse und dieses Blog nützlich war, so der „Führer und kleine Heimatkunde für das Grosse Walsertal“ von Eugen Dobler (1981), dem ich einige Angaben entnommen habe.
 
Unser Tagesziel war Faschina, ein höher gelegener Ortsteil (1500 m) von Fontanella, seit der Fortsetzung der Strasse nach Damüls ein Passübergang. Die Strasse, die 1942/45 von Kriegsgefangenen bis zum Joch gebaut wurde, war mit stattlichen Schneewänden und Steinschlagtafeln garniert, und ein Stück weit ist sie untertunnelt. Doch ist die Fahrt aufs Joch problemlos. Auffallend sind die zahleichen Lawinenverbauungen und die dunklen, die stotzigen Hänge empor kletternden Ansammlungen von Spitzfichten, die genau andersherum als Lawinenverbauungen konstruiert sind: Sie haben kurze, abwärts weisende Äste, so dass der Schnee gleich zu Boden fällt.
 
Oben ist ein mooriges, morastiges Gebiet, das von den Säumern nur durchquert werden konnte, weil der Boden mit Faschinen (Bündeln aus Reisig und Hölzern) abgedeckt war und das Einsinken so verhindert werden konnte. Im Winter übernimmt das Eis diese Aufgabe.
 
Die Strasse nach Damüls wurde 1985 eröffnet, nachdem eine dicke Moorschicht ausgehoben worden war; bis dahin hatte es nur einen Saumweg gegeben. Das Gasthaus „Rössle“, in dem wir nächtigten und das im vorangegangenen Blog beschrieben worden ist, soll schon um 1700 den Durchreisenden Obdach geboten haben. Daneben gab es hier oben, auf dem Gipfel der Einsamkeit, nur ein paar armselige Vorsässhütten. Rudolf Sperger liess 1932 gleich neben dem „Rössle“, auf der anderen Strassenseite, das erste Hotel „Faschina“ erbauen.
*
So richtet sich also jedes Lebewesen nach seinen eigenen Bedürfnissen ein. Wir taten das auch, sassen auf die Terrasse des Hotels „Faschina“ und genossen das Mittagessen und stärkten uns für alles, was noch kommen sollte: Das Skipistenwandern, von dem ich im vorangegangenen Tagebuchblatt erzählt habe.
 
Und so weiss ich jetzt endlich, was es mit dem GW auf sich hat: eine urtümliche, wilde, zerfurchte Landschaft, die nicht nur am Sonntag, nicht nur im Winter, sondern zweifellos rund ums Jahr ihre Faszinationen freigiebig enthüllt und den Walsern beste Voraussetzungen bietet, ihre Überlebensübungen zu absolvieren – heute allerdings bei wesentlich mehr Komfort als ehedem.
 
Hinweis auf das vorangegangene Blog über das Grosse Walsertal
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