Textatelier
BLOG vom: 27.02.2008

Schweizerisches Landesmuseum: Bewahrender Charakter

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Das Schweizerische Landesmuseum beim Hauptbahnhof in Zürich ist wie der Hauptbahnhof eine ständige Baustelle; beide sind immer zu klein, und der Platz ist beschränkt. Diese Bauwerke sind gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und haben nationale Bedeutung. Der Bahnbetrieb ist selbstverständlich grösseren und schnelleren Entwicklungen unterworfen als das Museum, das ein „Bilderbuch der Geschichte“ ist und gelegentlich wieder eine neue Seite erhält.
 
Beide Institutionen, welche die Limmatstadt prägen, werden gerade erweitert. 16 m unter dem Hauptbahnhof Zürich und unter dem Flussbett der Sihl entsteht der unterirdische Durchgangsbahnhof Löwenstrasse. Die Sihl, die ihr Recht und ihr Bett verteidigt, muss während des Baus etappenweise stillgelegt werden, wozu bei der Post- und Zollbrücke eine Wehranlage mit Toren erstellt wird. Die Tore ermöglichen es, jeweils 2 der 5 Durchlässe zu schliessen, damit trockenen Fusses am Untergrund-Bahnhf gebaut werden kann.
 
Der Durchgangsbahnhof Löwenstrasse ist das Kernstück der Durchmesserlinie AltstettenZürich HBOerlikon, zweifellos ein ganz neues Gefühl für die an den Sackbahnhof gewohnten Zürcher. Auch die Sanierung des gleich nebenan stehenden Altbaus des Landesmuseums hat seine Tücken. So müssen die Stablilität (die Traglasten) des Mauerwerks erhöht und die Erdbebensicherheit verbessert werden. Dem Brandschutz wurde mehr Aufmerksamkeit zuteil. Die Bauzeit erstreckt sich hier von 2005 bis 2009.
 
Die Aufgabe des Landesmuseums
Die Rechtsgrundlage des von Gustav Gull unter Beizug gotisierender Elemente entworfenen Landesmuseums mit dem Torturm (Kopie des Stadtturms von Baden) als Blickfang und den markanten Rundtürmen ist im Prinzip noch die gleiche, wie sie im Bundesbeschluss von 1889 erwähnt ist: Es ist dazu „bestimmt, bedeutsame vaterländische Altertümer geschichtlicher und kunstgewerblicher Natur aufzunehmen und planmässig geordnet aufzubewahren“. Meines Erachtens ist es zwingend, solch eine Institution mit ausgesprochen (auf-)bewahrendem Charakter zu betreiben, eine Dokumentation früherer Lebensstile als ein anschaulicher Beitrag zur Kulturgeschichte, die in der üblichen Geschichtsschreibung ein Schattendasein fristet. Sie kapriziert sich vor allem auf die Mächtigen. Zudem konnte dank des Museumsbaus der Verkauf unersetzlicher beweglicher Kulturgüter ans Ausland gebremst werden.
 
Das Landesmuseum, das 1972 von Stadt und Kanton Zürich an die Eidgenossenschaft überging, ist nicht einfach eine verstaubte Rumpelkammer, sondern die Gegenstände sind sehr geschickt zu lebensnahen Stimmungsbildern komponiert, und es wird darauf geachtet, dass sie nicht zerfallen. Die Aussagekraft der durchweg gut beschrifteten Gegenstände, die man sich zum Teil auch aus Kopfhörern erklären lassen kann, ist stark genug, ohne dass da noch eine spezielle Eventkultur nötig wäre. Sie erlauben ein stilles, tiefgründig-beschauliches Studium innerhalb des rückwärts gewandten Märchenschlosses, das unsere Herkunft veranschaulicht.
 
Im Laden des Museums konnte ich noch eines der letzten Exemplare des Buchs „Das Schweizerische Landesmuseum Zürich. Bau- und Entwicklungsgeschichte 1889‒1998)“ von Hanspeter Draeyer für 15 CHF kaufen. Es dokumentiert die Gründung und die Bau- und Entwicklungsgeschichte des Nationalmuseums in seinen ersten 100 Jahren. Das Landesmuseum ist ja selber zum musealen Schaustück geworden.
 
Spezialausstellungen
Am 19. Februar 2008 nahmen wir uns wieder einmal ein paar Stunden Zeit für eine Exkursion in diesem gewaltigen Museum, das wegen der momentanen Sanierung und Erweiterung des Hauptgebäudes für rund 150 Mio. CHF zwar nicht überall zugänglich ist, aber dennoch wesentlich mehr zu bieten hat als man aufs Mal aufnehmen kann. Zudem sorgen viele Spezialausstellungen für ständig neue Attraktionen.
 
Wir konnten gerade noch einen Blick in die Ausstellung der „Swiss Press Photo 07“ werfen, die am 24. Februar 2008 zu Ende ging. Der amerikanische Name rührt vielleicht daher, dass das Siegerbild von Michael Würtenberg (Zürich) die Greenpeace-Aktion des amerikanischen Foto-Inszenators Spencer Tunick, in der 600 nackte Menschen auf dem Aletschgletscher, welcher wie die anderen Eismeere auch der Schwindsucht zusteuert, die „Verletzlichkeit der schmelzenden Gletscher“ symbolisieren. Die Pressefotografie mit ihren modernen technischen Möglichkeiten, die den Text in zunehmendem Masse in den Hintergrund drängt, bringt immer wieder Meisterwerke hervor, so einen Pferdekopf im Nebel der eigenen Ausdünstungen bei kaltem Wetter, ein Wiederholungsbild zum Thema Landschaftsveränderung durch den Autobahnbau oder Bundesrat Samuel Schmid, der sich nach einem tödlichen Lawinenunfall von Schweizer Soldaten unter seiner Brille eine Träne abwischt. Oft genügt es für einen Fotografen, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein.
 
Eine weitere, vollkommen andere Ausstellung findet unter dem Titel „Maria Magdalena Mauritius“ noch bis an Ostern 2008 (24. März) statt: eine umfangreiche Sammlung mittelalterlicher Holzskulpturen (meist aus Lindenholz geschnitzt). Mit Hilfe moderner Audiotechnik kann man sich auf dem Rundgang von Musik aus dem Mittelalter einlullen lassen. Die Begegnung mit den niemals lächelnden biblischen Gestalten, vor allem Heiligen, aber auch der Mutation der Maria im Verlaufe der Zeit, wird dadurch beschwingter. Man möchte den trübseligen Gestalten gern einmal einen harmlosen Witz erzählen, um sie ausnahmsweise einmal lächeln zu sehen. Die heilig gesprochenen Menschen lernt man auch als Helfer und Fürbitter kennen, die es sogar zu einer eigenen Webseite gebracht haben (www.heilige.ch). Das hätten sie sich wohl nie träumen lassen, falls sie nicht allwissend sind.
 
Diesen Holzskulpturen, die meist in einer Stickstoffatmosphäre vor besonderen Liebhabern mit religiösen Vorlieben wie Holzwürmern geschützt werden müssen, begegnet man im Rahmen des Rundgangs von der Steinzeit bis zur frühen Neuzeit, also von der Ur- und Frühgeschichte (100 000 vor bis 800 nach unserer Zeitrechnung unter dem Titel „Gesellschaft und Kirche“ (800‒1520). Die hölzernen Gestalten sind umgeben von Objekten zu „Handel und Politik“ (14501520) und von der mit Zinnfiguren nachgestellten Schlacht bei Murten (1476), sodann von Erinnerungen an die Zeit der Reformation (15191531) und von einem Einblick in die Apotheke der Benediktinerabtei Muri AG (17231751). Die Zeit des sich erneuernden Weltbilds (15001600) mit den Vertretern der Vorindustrie (15661620) schliesst sich an, woran etwa die „Winterstube“ aus dem Schlösschen Wiggen in Rorschach SG (Leinwandindustrie) und die Stube aus dem Alten Seidenhof in Zürich (Seidenindustrie) mit der prächtigen Kassettendecke, dem Getäfel und dem Ofen erinnern – Schaustücke der Kunst- und Prunkliebe. Eine Münzsammlung ihrerseits weist vielleicht auf die wachsende Bedeutung des Gelds hin, auf das ja heute die gesamte neoliberale Philosophie ausgerichtet ist und dem alle anderen Werte untergeordnet sind. Eine Etage weiter oben, im 2. Obergeschoss des Waffenturms mit seinen runden Erkern auf Dachhöhe, ist das Wohnen und Leben zwischen 1700 und 2000 dargestellt, auch Goldschmiedearbeiten und Waffen haben ganz oben (3. Obergeschoss) Zuflucht gefunden – das Landesmuseum weist auf den nachdenklich stimmenden Umstand hin, dass Waffen vor den Werkzeugen das menschliche Leben begleiteten, und heute spielen sie – so füge ich bei – eine grössere Rolle denn je, wie die Kriegsnation USA belegt, welche durch ihre Machtgier die ganze Welt zur Aufrüstung zwingt und den Krieg gegen den Terrorismus zum Abbau persönlicher Rechte und Freiheiten nützt.
 
Das Schloss Hallwil im Landesmuseum
Bei der Rückkehr ins Erdgeschoss besuchten wir noch die „Sammlung von Hallwil“, die als „Museum im Museum“ bezeichnet wird. Dicht gedrängt sind hier eine Fülle von Objekten aus dem Schloss Hallwil im aargauischen Seetal, das seit dem Mittelalter und bis in die Neuzeit von der gleichen Familie bewohnt wurde, also während fast 800 Jahren. Zum Inventar der letzten Bewohner gehörten Bodenfunde und Gegenstände aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die Funde aus dem Boden bestehen vorwiegend aus Keramik und aus alltäglichen Gebrauchsgegenständen seit dem Mittelalter, die bei der grossen Grabung 1910/11 in den verschlammten Wassergräben und im Hof zum Vorschein gekommen sind. Eigentlich würden sie ja nach Hallwil gehören.
 
Die Grabung war von der Gräfin Wilhelmine, geb. Kempe, veranlasst worden, der Gemahlin von Walter von Hallwyl, der das Schloss von seinem Bruder Hans Theodor von Hallwyl gekauft hatte. Wilhelmine, eine schwedische Grossbürger- und Erbtochter, wollte das Gebäude in den mittelalterlichen Zustand zurückversetzen und als Denkmal des Spätmittelalters unbewohnt bleiben lassen; in Stockholm hatte sie bereits das „Palais Hallwyl“ in einem pompösen, historisierenden Stil erbauen lassen und mit ihren Sammlungen ausstaffiert.
 
Die Fundgegenstände aus Hallwil AG und das noch vorhandene Inventar vermachte die Gräfin dem Schweizerischen Landesmuseum zu Studienzwecken, das dafür einen speziellen Saal einrichtete. Darin sind ein Wintermodell vor und ein Sommermodell nach der Restaurierung des Schlosses vorhanden. Die Sammlung der „von Hallwil’schen Privataltertümer“ wurde 1927 dem Publikum geöffnet. Sie präsentiert sich heute weitgehend so, wie sie von der Gräfin konzipiert und durch rechtliche Bestimmungen „für alle Zukunft“ gesichert worden ist – ein Museumsideal aus dem 19. Jahrhundert. Wie heute das Wegwerfen dem Zeitgeist entspricht, so war es um 1900 die leidenschaftliche Sammeltätigkeit – und schliesslich erbaut man sich an dem, was erhalten und nicht etwa an dem, was weggeworfen worden ist ... In einem Begleittext zur Von-Hallwyl-Sammlung steht zu jener Zeit im Weiteren: „Trotz des steigenden Lebensstandards durch Industrialisierung und weltweiten Handel wird ein Unbehagen der technischen Zivilisation gegenüber spürbar. Der Adel übt zwar noch fast überall in Europa die politische Macht aus, geht aber mit dem Grossbürgertum eine Symbiose ein. Ihr gemeinsamer Nenner heisst Reichtum. Am anderen Ende steht die Arbeiterschaft. In der Schweiz mildern demokratische Regierungsformen die Gegensätze. Der sozialen Umschichtung und der modernen Technik begegnet insbesondere der Adel mit zähem Festhalten an antiquierten Lebensformen und am Erbe einer alten Tradition.“
 
Soweit ein paar Spotlichter aus dem Landesmuseum, das nur einen symbolischen Eintrittspreis verlangt. Jugendliche bis 16 Jahre können das Museum gratis besuchen, Erwachsene 10 CHF und Rentner, die wir am Hungertuch nagen, 8 CHF.
 
Bei Sprünglis essen
Der Kontrast mit dem Stadtzürcher Leben 2008 empfanden wir als gewaltig, als wir das Museum verlassen hatten. Wie stillos bis schlampig ist doch vieles geworden – auch die Bekleidung, und überall muss zum Sauberhalten der Stadt aufgerufen werden! Dennoch gibt es keine andere Grossstadt mit einer solch hohen Lebensqualität wie Zürich.
 
Thema Hungertuch beziehungsweise Recht auf Nahrung: Wir suchten nach 14 Uhr nach einem Lokal, wo noch ein Mittagessen serviert wurde, (b)rannten aber laufend an. Doch in der Confiserie Sprüngli am Paradeplatz war noch etwas Futter zu haben, bei einer ausserordentlich freundlichen, entgegenkommenden Bedienung: Zanderfilet auf einem Peperonigemüse (28.50 CHF) bzw. 6 kleine Crevetten mit Trockenreis und knackigem Gemüse, in gutem Öl zubereitet (27 CHF). Ein Stück Apfelkuchen, dem die innere Bindung fehlte, diente als Abschluss. Wir hätten uns für Schokoladetrüffel oder Luxemburgerli entscheiden müssen – denn schliesslich sind diese die Sprüngli-Kernkompetenz, das Erbe des Zuckerbäckers David Sprüngli. Er hat 1836 die Lust des Volks am Süssen zu befriedigen begonnen, d. h. die 1720 gegründete Zuckerbäckerei Vogel an der Marktgasse übernommen, und das berühmte familiär geprägte Unternehmen konnte alle Wirrnisse überstehen.
 
Der Zuspruch war enorm; alle Tische waren besetzt und die Geräuschkulisse, im Inneren erzeugt, imposant. Ein eingeschüchterter Hund zog sich unter eine Sitzbank zurück, ein Kind schrie. Vielleicht war es ähnlich Stadt-ungewohnt wie wir Freilandeier.
 
Wir hatten einen schönen Fensterplatz in der 1. Etage mit Blick zum schlichten UBS-Gebäude und zum CS-Haus gleich nebenan – schliesslich steht das Wort „Paradeplatz“, einst ein Exerzierplatz, heute als Synonym für das Geld-Zürich. Der CS-Bau stammt aus dem Jahr 1876 (Architekt: Jakob Friedrich Wanner, der auch den Hauptbahnhof Zürich und zahlreiche weitere Bahnhöfe wie Aarau, Frauenfeld, Turgi AG, Winterthur, Weinfelden, Brugg usf.) entworfen hat.
 
Die 2 Grossbanken machten einen etwas leidenden Eindruck. Gerade hatte die Kreditkartenkrise, Folge der unbeherrschten US-Konsumsucht und der Raubzüge auf Anleger in aller Welt, die Credit Suisse erwischt, welche sich noch eine Woche vorher mit einer vorgespielten Weitsicht in Szene gesetzt hatte – eine höchst peinliche Sache und eine kumulierte Glaubwürdigkeitseinbusse. Der monumentale Bankenpalast (ehemalige Neue Hauptpost, seit 1898 im Besitz der Schweizerischen Kreditanstalt SKA, heute CS) aus der Gründerzeit mit Formen des Barocks und der Renaissance sowie üppigen Bauplastiken vermochte die UBS nicht mehr in den Schatten zu stellen. Die tragenden Figuren an der CS-Fassade, die liebenswürdigen Karyatiden nach Akropolis-Muster, und die männlichen Hermen (Toprsen auf Pfeilern) schienen unter der gewachsenen Last mehr zu leiden als früher.
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Das war mein Zürich, wie ich es diesmal erlebt habe. Je nach Blickrichtung und Zeitumständen präsentiert es sich ganz anders. Die direkt zum Zürichsee führende Bahnhofstrasse vermittelt, auch wenn sie etwas profaner geworden ist, noch jenes Sonntagsgefühl, das schon den Schriftsteller Franz Kafka überwältigt hat. Die Stadt mit ihrer stolzen Vergangenheit weiss sich in jeder Lebenslage gut in Position zu setzen.
 
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