BLOG vom: 09.03.2008
Blick in Chroniken (I): Pest, die Kriege und die Hauptsünden
Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
Eine meiner Freizeitbeschäftigungen der vergangenen Jahre war das Studieren von Ortschroniken aus meiner näheren und weiteren Umgebung. Die meisten Chroniken – es waren sicherlich über 100 an der Zahl – lieh ich mir von der Wissenschaftlichen Regionalbibliothek in Lörrach D aus. Hauptgrund waren das Interesse an geschichtlichen Ereignissen, das Leben der Menschen in der damaligen Zeit und das Notieren von amüsanten und weniger erfreulichen Anekdoten.
Es waren meistens Pfarrer (später auch Lehrer), die sich mit der Dorf- und Regionalgeschichte ihres Wirkungsortes beschäftigten. Sie führten in akribischer Weise ihre Kirchenbücher mit Ereignissen, die das häusliche Leben oder das Gemeindeleben berührten. So gab es Einträge über Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, Unglücksfälle, Naturkatastrophen, Verbrechen, Kriegsereignisse, Seuchen (Pest, Ruhr, Pocken, Cholera), Hungerzeiten und Pfarrwechsel. Mit dem 1. August 1586 begann übrigens das älteste Kirchenbuch der Gemeinde „Wolpach“.
Es gab aber auch Zeiten, in denen die Kirchenbücher unregelmässig geführt wurden. Erst im 19. Jahrhundert wagten sich andere Geistliche, Lehrer und Heimatforscher an die Publikation einer Chronik. Die Aufzeichnungen in den Kirchenbüchern waren dann für die Autoren wertvolle Quellen.
In diesem 1. Artikel befasse ich mich mit der Ortschronik von Wollbach (Kreis Lörrach D). Diese Chronik wurde bereits 1900 von Pfarrer Emil August Himmelsheber (1841‒1904) im Selbstverlag herausgegeben. Weitere Chroniken publizierten 1905 Pfarrer Mulsow für Brombach und 1912 Pfarrer Julius Schmidt für Kirchen (Eifringen-Kirchen). Auch der evangelische Stadtpfarrer in Schopfheim, August Eberlin, brachte 1878 eine bemerkenswerte Chronik heraus.
Die Chronik von Wollbach wurde 2002 nachgedruckt und mit schönen Schwarzweiss- und Farbfotos versehen. In einer Einführung ist Folgendes zu lesen: „Himmelheber hat in seiner ,Geschichte von Wollbach’ den Nachgeborenen ein Vermächtnis von beeindruckend geschlossenem gedanklichem Aufbau hinterlassen und durch seine lebendige Schilderung die oftmals schrecklichen Tragödien der Vergangenheit erfahrbar gemacht.“
Die Geschichte von Wollbach erstreckt sich im 1. Teil bis zur Reformation. Dann folgt der 2. Teil von der Reformation bis zum Dreissigjährigen Krieg. Im 3. und 4. Teil werden die Zeit und das Ende dieses Krieges in den Blickpunkt gestellt. Der 5. Teil ist der Epoche Karl Friedrichs (1728‒1811 – er war Badens 1. Grossherzog) bis zur Neuzeit gewidmet.
Auf wichtige und interessante Ereignisse werde ich eingehen und diese entsprechend kommentieren bzw. einen Vergleich zur Neuzeit herstellen.
Taufnamen gestern und heute
Die Neugeborenen mussten am Tag der Geburt oder einen Tag danach getauft werden. In der Kirchenordnung vor der Reformation wurde alles genau festgelegt. So wurde die Frage, ob der Neuankömmling eingewickelt oder nackt getauft werden sollte, dahingehend beantwortet, dass er bekleidet vor das Taufbecken gebracht werden sollte.
Als Taufnamen tauchten diese auf: Fritzle, Hanssli, Friedlin, Martin, Christian, Barbel, Katharina. Im 1. Kirchenbuch von Wollbach kam der Name Fritz 50 Mal vor. Biblische Namen waren damals auch sehr beliebt: Jakob, Zacharias, Esaias, Philippus. Auch alte deutsche Namen erhielten die Neugeborenen, wie etwa Berchthold, Lienhard, Hyldgart, Köngelin, Rosina, Waldburg und andere. Viele dieser Namen sind heute verschwunden.
In unserer Zeit tauchen neumodische Namen oder auch Neuschöpfungen in den Geburtsregistern auf. Die 10 beliebtesten Mädchennamen des Jahres 2007 waren in Deutschland: Hanna (Hannah an 1. Stelle), Leonie (Leoni), Lena, Anna, Lea (Leah), Lara, Mia, Laura, Lilli (Lilly, Lili) und Emily (Emilie). Bei den Jungs war die Rangliste diese: Leon, Lukas (Lucas), Luca (Luka), Finn (Fynn), Tim (Timm), Felix, Jonas, Luis (Louis), Maximilian und Julian. Die Namen Walter und Heinz tauchen in den ersten 250 Namen nicht mehr auf (dafür für Heinz oder Heinrich: Henry oder Henri). Wer Emil heisst, hat es da viel besser. Dieser Vorname rangiert auf Platz 70. Einen Trost gibt es (bevor bestimmte Vornamen aussterben): Die Rangfolge ändert sich von Jahr zu Jahr.
(Infos unter: www.beliebte-vornamen.de/2007.htm)
Besondere Hauptsünden
Einen weiteren Blick in die Kirchenordnung vor der Reformation lohnt sich: So muss bei der Beichte jeder „einzeln besonders verhört und besonders absolviert“ werden. Die Privatbeichte wurde im Beichtstuhl zunächst beibehalten. Auch wurde beschlossen, dass nicht mehr „zu Wetter“ geläutet wird. Streng untersagt war auch, dass kein Pfarrkind die Messe ausserhalb der Gemeinde besuchen darf. Gerügt wurden das Schwätzen während einer Predigt und das Nichtbesuchen einer Messe von Kindern, auch wenn sie auf dem Feld arbeiten mussten. In der Kirchenordnung wurden auch 2 besondere Hauptsünden erwähnt: Das Fluchen und die Trunksucht.
Nicht nur die Schäfchen der Kirchengemeinde, sondern auch die Pfarrer wurden ermahnt. Sie sollten sich um eine geordnete Haushaltung kümmern und darauf achten, dass keine armen Leute betteln gingen. Später wurden die Armen der Gemeinde durch den Armenfonds unterstützt.
Hat ihn der Teufel erwürgt?
Auch das Wirken von Hexen fand in die Kirchenbücher Eingang. So wurde der Tod der Hausfrau Wirsslin durch den Einfluss einer Hexe aus Hauingen verursacht.
Am 10. Februar 1603 lief Lutij Müller zur Betzeit im Zorn nach Rötteln. Er sollte sich der Obrigkeit „oder wohl auch in Thurm stellen“. Er wurde später zwischen den Reben tot aufgefunden. Er wurde dann an einer Ecke des Friedhofs begraben (damals wurden auch Selbstmörder entweder ausserhalb oder in einer Ecke des Friedhofs ohne Klang und Gesang beerdigt). Der damalige Pfarrer schrieb in sein Kirchenbuch: „Hat In der Teuffel erwürget. Wie gelebt so gestorben. Also strafft Gott wucherer, geizige, hässige, Rachgierige leüt.“
Gottesdienstverordnungen Anfang des 18. Jahrhunderts – die Grundlagen stammten vom Münsterpfarrer Simon Sulzer aus Basel – schrieben genau vor, wie Taufen, Hochzeiten und Gottesdienste abgehalten werden mussten. Die Gebete und Gottesdienste waren damals bedeutend länger als heute. So umfassten die längsten Gebete 9 Seiten, die Predigt dauerte mindestens 1 Stunde und der ganze Gottesdienst 1½ bis 2 Stunden.
Ich kann mich noch gut an meine Kirchenbesuche in der Jugendzeit erinnern. An hohen Festtagen, wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten zog sich der Gottesdienst so in die Länge, dass wir das Ende kaum erwarten konnten. Meistens gingen wir ganz „verorgelt“ nach 1½ Stunden nach Hause. Einige der Kirchenbesucher schliefen während der Predigt ein, andere, wie wir Kinder, schwätzten manchmal ganz ausführlich über interessantere Dinge. So kam es vor, dass der gestrenge Hauptschullehrer den einen oder anderen Schwätzer abwatschte. Da regte sich keiner auf. Aber die Eingeschlafenen wurden nicht unsanft geweckt; das fand ich damals ungerecht.
Strenge Verordnungen bei Hochzeiten
Brautpaare, welche sich „vergangen“ haben, mussten Strafen bezahlen. Die Braut durfte dann bei der Hochzeit keinen Kranz tragen. Dieser wurde von Mädchen beim Kirchgang ihr vom Kopf gerissen. Hochzeiten wurden nicht in der Christwoche, in der Kar- und Osterwoche, in der Pfingstwoche und an allen hohen Festtagen abgehalten. Nach der Hochzeit (Copulation) musste jedes Brautpaar eine Bibel kaufen. Arme Leute bekamen die Bibel vom Markgrafen geschenkt.
Üppige Mahlzeiten waren verboten, man wollte verhindern, dass arme Leute ruiniert wurden. Noch 1803 wurde eingeschärft: „Die Hochzeitsfeierlichkeiten dürfen nur einen Tag währen; höchstens 24 Gäste dürfen eingeladen werden; die Morgen- oder Brotsuppe vor der Copulation ist verboten, nur ein mässiges Frühstück ist gestattet; verboten sind alle Nacht- und Nebenmahlzeiten; es darf nur am 1. Tag getanzt werden und nur unter Anwesenheit von 2 Gerichtspersonen zur Beobachtung guter Zucht; nachts 10, höchstens 11 Uhr muss Alles ein Ende haben.“
Rühmlich: Kein uneheliches Kind
Rühmend hervorgehoben wurde im Kirchenbuch, dass von 1657‒1677 kein uneheliches Kind geboren wurde. Die Pfarrer entrüsteten sich immer wieder, wenn die Kinder unehelich zur Welt kamen. Sie bezeichneten dies als Sittenlosigkeit. Als in den Jahren nach 1677 mehr uneheliche Kinder geboren wurden, brachte Pfarrer Küstner diese Sittenlosigkeit in kräftigen Worten zum Ausdruck und wünschte: „Gott wolle, dem unsittlichen Wesen steuern und diese Gemeinde solchen üppigen lebens halben nicht strafen.“
Brautpaare wurden nach Verfehlungen vor den Pfarrer geladen und gestraft. „Ehrbare Brautpaare“, so hiess es stets, hatten „christlich copuliert, wurden christlich eingesegnet, ehrlich zusammengegeben und ordentlich copuliert“. 1702 erschien der Begriff „ehelich ledig“.
Kurz nach dem Krieg, als wir als Heimatvertriebene aus dem Sudetenland nach Bayern kamen, galten Ledige mit ihren Kindern als Aussenseiter. Die armen Kinder wurden von den anderen geschnitten und standen auf der untersten Stufe der Gesellschaft. Oft waren die Kinder Folgen einer Vergewaltigung von Russen und auch Tschechen. Zum Glück wurden die bedauernswerten Kinder später tüchtige Leute.
Unsittliche wurden eingesperrt
Unter der Regierung von Markgraf Karl Friedrich (1728‒1811) wurde versucht, den sittlichen Stand des Volkes zu heben. Diebstahl, Unsittlichkeit und Trunksucht wurden streng bestraft. So musste sich ein Dieb „mit der Stellung in die Geige“ am Sonntag vor der Kirchentür aufstellen. Er hatte eine Holztafel um den Hals gehängt, worauf die Schandtat verzeichnet war. Unsittliche Frauen wurden in den „Karren“ gesperrt und bei einer neuerlichen Verfehlung ins Zuchthaus gesteckt. Männer kamen relativ glimpflich davon. Untreue Ehemänner mussten entweder eine Strafe bezahlen oder wurden für jeden Gulden* einen Tag in den Turm gesperrt.
Auch Nachtschwärmer traf es hart. Die unter 20-Jährigen bekamen Stockschläge verabreicht und die über 20-Jährigen mussten eine öffentliche Arbeit verrichten.
An bestimmten Feiertagen war das Tanzen verboten. An Sonn-, Feier- und Werktagen war das Kegel-, Karten- und Würfelspiel untersagt. Wer dagegen verstiess, musste 10 Kreuzer** bezahlen.
An Sonn- und Feiertagen war das Zechen in Wirtshäusern verboten. „Wer sich volltrinkt, zahlt einen Saufgulden“, beim 3. Mal kam der Säufer in den Turm (bei Wasser und Brot) und musste öffentliche Arbeit verrichten. Auch der Wirt bekam sein Fett ab. Wer herumschwörte und herumfluchte wurde mit einer Strafe von 30 Kreuzern belegt. Gegen die fahrenden Bettler wurde rigoros vorgegangen. Jede Gemeinde hatte einen kräftigen „Bettelwächter“, der dafür sorgte, dass die ungebetenen Gäste bald verschwanden.
* Gulden (bis 1876): Heutiger Wert: etwa 1,20 Euro. In Chroniken taucht die Bezeichnung „fl“ auf, das bedeutet „Florenz“. Die ersten Gulden wurden nämlich in Florenz 1252 geprägt.
** Kreuzer (bis 1873): Bezeichnung nach dem Doppelkreuz auf der Vorderseite der Münze. Heutiger Wert: etwa 2 Cent.
Gebeutelt durch Pest und Kriege
Die Bevölkerung wurde immer wieder durch die Pest und Kriege dezimiert. Auch im Dreissigjährigen Krieg brachte die furchtbare Seuche Schrecken über die Gemeinde. Sie war, wie Pfarrer Himmelheber mutmasste, die Folge einer Einquartierung. „Das fremde Kriegsvolk verbreitete überall Krankheiten und Unsittlichkeit. Die zuchtlosen Soldaten hatten lose Dirnen bei sich, welche mit dem Heere zogen.“
Das Verhalten der Soldaten wirkte demoralisierend auf die Leute, bei denen sie Quartier suchten. So wurde ein 15-Jähriger von einer Dirne verführt, nachdem sie ihm einen Trank gegeben hatte. Der Arme wurde krank, siechte dahin und starb 3 Jahre später. Viele, die unterwegs waren, wurden von den Soldaten überfallen und misshandelt.
Die Bevölkerung litt unter Plünderungen, Brandschatzungen, Misshandlungen, Morden und den Nahrungsmittelabgaben an durchziehende und stationäre Soldaten (im Dreissigjährigen Krieg waren es schwedische, später französische Soldaten). Viele Bewohner flohen in die Wälder und nach Basel.
Dazu der Chronist: „Für die Gemeinde Wollbach war dieser Fluchtaufenthalt in Basel, der sich noch öfters wiederholte, eine schwere Zeit: vorher von den beutegierigen Soldaten ausgesogen, waren die Bewohner geflüchtet, nur Weniges, was sie eben in der Hast zusammenraffen konnten, mit sich tragend und gewiss vielfach an die Barmherzigkeit der Basler angewiesen, die unter den Kriegsläufen selbst zu leiden hatten. Dazu von steter Sorge und Angst um die Heimat verzehrt. Da bedurfte es eines starken Glaubens, um nicht zu erliegen.“
Gestern wie heute: Auf weit entlegenen Schlachtfeldern verbluten
Als nach dem Frieden von Lüneville (1801) die Markgrafschaft Baden zu Frankreich kam, wurden badische Kontingente in den auswärtigen Kriegen „mitverwendet“. Der Chronist: „Badische Landeskinder mussten auf weitentlegenen Schlachtfeldern verbluten oder sterben an Seuchen in entfernten Hospitälern und das Alles für eine fremde Sache.“
Auch in den modernen Kriegen unserer Zeit hat die Zivilbevölkerung am meisten zu leiden. Nur fliegen heute todbringende Raketen und Bomben, die eine unglaubliche Zerstörungskraft haben. Damals, wie heute: Die Zerstörer (Sieger) wurden und werden nie zur Rechenschaft bezüglich ihrer Untaten gezogen.
Und noch eine Parallele: Europäische Soldaten und andere werden in Kriege hineingezogen, welche die Kriegsmacht USA verursacht hat. Unschuldige müssen ausbaden, was die Verantwortlichen dieser Nation vom Zaun gebrochen haben. (Etwas vom Zaun brechen heisst ja, einen Streit, einen Krieg unverhofft, unberechtigt und mutwillig entfesseln!)
Wir alle könnten so schön in Frieden leben, wenn nicht unfähige Staatsoberhäupter ihre Machtspielchen betreiben würden. Die Kriegsmaschinerie muss auf Hochtouren laufen. Die Militärs und Waffenproduzenten hätten bei einem langen Frieden ja keine Daseinsberechtigung mehr (die grössten Waffenproduzenten sind die USA, gefolgt von Russland und Deutschland!).
Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts betrugen 2006 die weltweiten Rüstungsausgaben 1,2 Billionen US-Dollar. Mit diesen riesigen Beträgen könnte man weltweit den Hunger besiegen, die Umwelt schützen und sogar Wüsten begrünen. Aber bestimmte Machtmenschen führen lieber Kriege, die auf Lügen aufgebaut sind.
Im 2. Teil dieser Serie berichte ich über Dorf- und Stadtgeschichten aus verschiedenen Chroniken.
Fortsetzung folgt.
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