BLOG vom: 18.03.2008
Seenger Moos: Ried, Riesling×Sylvaner, Blauburgunderalgen
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Eine der schönsten Ecken am Hallwilersee ist das Seenger Moos, wo der träge Aabach (Hallwilerseeauslauf) dem Schloss Hallwil zusteuert, das seinerseits als das schönste Wasserschloss der Schweiz bezeichnet wird (beim Schloss gibt es einen bewirtschafteten Parkplatz, wo man sein Auto für etwa 1 CHF pro Stunde stehen lassen kann). Das Schloss ist aus kleinen Anfängen heraus während Jahrhunderten zur heutigen Grösse herangewachsen. Es war im späten 12. Jahrhundert durch die Herren von Hallwyl gegründet und auf 2 künstlich angelegten Inseln erstellt worden. Seit 1994 gehört es dem Kanton Aargau und ist jeweils ab 1. April bis zum 31. Oktober öffentlich zugänglich (www.schlosshallwyl.ch).
Familiengeschichtliches
Hier sind also so markante Superlative vereint, dass eine Art Nekropsie erträglich wird. Die Leichenschau ist auf Grabsteine und Grabplatten am Rande der Parkanlage neben dem künstlich angelegten Wassergrabensystem landeinwärts reduziert. Man erfährt dort, dass die Familie von Hallwyl bis 1450 ihre Angehörigen im 40 km entfernten Kloster Kappel am Albis begraben habe. Anschliessend befand sich die Kirchengruft bei der ehemaligen Kirche in Seengen, die zu den ältesten und bedeutendsten Landeskirchen des bernischen Aargaus gehörte und 1820/21 durch eine achteckige, klassizistische Kirche ersetzt wurde. Das Dorf Seengen (das Schloss Hallwil steht auf Seenger Gemeindegebiet) befindet sich weniger als 1 km vom Schloss entfernt.
Nach dem Abbruch der alten Kirche wurden die Grabsteine zum Schloss verfrachtet, so das Denkmal für Hans von Hallwyl (1776‒1802) und Dorothea Ustery (1765‒1804), errichtet durch Franziska Romana und jenes für Adèle Isabelle Gräfin von Hallwyl (1836‒1863). Wer sich für die Familiengeschichte interessiert, findet die Angaben dazu auf der Webseite www.ag.ch/hallwyl/de/pub/geschichte/familiengeschichte.php. Man begegnet hier auch der Ehefrau von Walter von Hallwyl, der Wilhelmina, geborene Kempe (1844‒1930), welche die Hallwil-Stiftung ins Leben rief, so dass das Schloss für die Öffentlichkeit zugänglich wurde. Sie beschenkte 1926 das Staatsarchiv in Bern mit dem Familienarchiv und 1 Jahr später auch noch das Schweizerische Landesmuseum in Zürich mit den Privataltertümern aus dem Hause Hallwil (Möbel, Gemälde usf.). Die Nachwelt hat ihr also vieles zu verdanken.
Im Seenger Moos (Seengermoos)
Der Samstag, 15. März 2008, war ein lichterfüllter Vorfrühlingstag; die Nebel hatten sich verzogen, und es war überdurchschnittlich warm. Ich verliess den Schlossbereich, bewegte mich dem Aabach (der „Aa“) entlang seewärts; der Bach seinerseits treibt via Seon der Aare zu. Die kahlen Sträucherbüschel spiegelten sich im rötlichen Wasser, das kaum in Bewegung war, wie es schien. Die anschliessenden grossen Riedflächen des 100,02 Aren umfassenden Seenger Moos’, ein Naturschutzgebiet von kantonal-aargauischer Bedeutung, waren frisch und sauber gemäht, das Schnittgut abgeführt, um der Verbuschung und Verwaldung vorzubeugen. Der weiche, bis oben durchnässte Boden mit manchmal kleinen Pfützen zeigte noch die Spuren eines kleinen Raupenfahrzeugs, wahrscheinlich der Mähmaschine. Die Pro Natura besitzt in dieser weitgehend zusammenhängenden Riedlandschaft am Nordufer des Hallwilersees 2 Parzellen, die mit Auenwald (am Aabach), Riedwiesen, Hochhecken, Buschgruppen und Entwässerungsgräben versehen sind. Angrenzend ans Riedgebiet wirkt die Landwirtschaft; wahrscheinlich müssen dort Entwässerungsmassnahmen erfolgen. In den Wiesen finden sich noch kleine Schilfflächen. Dahinter sind die Häuser von Seengen aufgereiht. Das ehemalige Pfarrdorf, das zugleich Herrschaftshauptort war, verfügte über viele währschafte Häuser wie den frühbarocken Herrschaftsbesitz Brestenberg, der bis in die 1980er-Jahre ein Hotel war und seither als Wohnhaus dient (es ist im Besitze der Winterthurer Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte). Seengen strahlt Selbstsicherheit aus. Vom Aabach aus scheint es, ob das Dorf zum Sturm auf das Ried- und Schlossgebiet ansetze.
Der Wanderer erreicht bald einmal das rote, von einer schwungvollen Bretterfassade eingefasste Frauenbad, in dem sich sonnenhungrige Menschen beiderlei Geschlechts sonnten; die Geschlechtertrennung war nicht durchzuhalten. Daneben war das Männerbad geschlossen; Stacheldraht verhindert, dass aufs Dach des Holzbaus geklettert werden kann. Ich weiss nicht, ob damit voyeuristische Damen abgehalten werden sollen …
In der Nähe des Frauenbads hatte der Landschaftsschutzverband Hallwilersee (LSVH) gerade den Aushub für 2 kleinere offene Naturweiher gemacht, um dieses auch von Menschen gern genutzte Gebiet ökologisch aufzuwerten; die Stillgewässer sollen noch mit einheimischen Heckenpflanzen versehen werden.
Im gleichen Gebiet begegnet man dem Pfahlbauhaus von Seengen, das 1989 vom Rotary-Club Lenzburg zusammen mit Max Zurbuchen, Steinzeitwerkstatt-Betreiber in Seengen, gebaut wurde. Nach dem Hochwasser von 1999 sank es etwas ab, weshalb es unterfangen und mit einer innen sichtbaren Stützkonstruktion versehen werden musste. Das Reetdach und die Wände wurden 2003/04 repariert.
Eine Informationstafel ruft in Erinnerung, dass in der Stein- und Bronzezeit auch am Hallwilersee (wie an den meisten Seen des Schweizer Mittellands und der Voralpen) Menschen lebten. Wörtlich: „In der Jungsteinzeit (Neolithikum, zwischen 5500 und 2300 v. Chr.) standen in Meisterschwanden (südliche Nachbargemeinde von Seengen) beim Erlenhölzli und vor der Seerose mehrere Dörfer. Während der Spätbronzezeit, zwischen 1100 und 850 v. Chr., wurde im Riesi – in Sichtweite des Pfahlbauhauses – gesiedelt.“ Im Seenger Gebiet Riesi fanden zwischen 1923 und 1925 unter der Leitung von Reinhold Bosch Ausgrabungen statt. Die Funde (Keramik, Stein, Knochen, Holz- und Bronzeobjekte) deuteten auf mehrphasige Siedlungen zwischen 3600 und 2700 v. u. Z. hin.
Offenbar haben schon die Pfahlbauer das Seetal, das als „aargauische Visitenstube“ gilt, zu schätzen gewusst. Das ist ein freundliches, einladendes Gebiet, in dem auch an jenem Samstag ganze Völkerwanderungen unterwegs waren, welche die beruhigende, wegen der Burgunderalge oft rötlich gefärbte Wasseroberfläche und den Blick bis zu den Innerschweizer Alpen genossen und sich gelegentlich auf einer abgetreppten Sitzstelle am Ufer niederliessen, um die Ruhe wirken zu lassen.
Unter den Reben
Wo das Riedgebiet aufhört, beginnt am rechten (östlichen) Talhang der Rebbau. Und vom Seenger Rebgebiet „Ghei“ stammt der bekannte „Brestenberger“. Einer der Rebbauern war gerade dabei, pro Rebstock (Riesling×Sylvaner) einen Trieb an den Drahthag zu befestigen; eine kleine, sich auf Zug drehende Greifzange erleichterte dem Novartis-Pensionär Christian Brechbühl aus Egliswil AG die Arbeit. Wir sprachen lange über die Ertragskraft der Reben, über den seit 2 Jahren nur noch mit schweizerischen Weinen erlaubten Verschnitt, der den typischen Charakter eines Gewächses überdeckt, nivelliert und die Billigweine aus aller Welt. Einig waren wir darin, dass es beim R×S nicht auf viele Oechsle ankommt – im Gegenteil: eine gewisse Alkoholarmut begünstigt die frische und die Spritzigkeit, wie man sie von diesem leichten Wein erwartet.
Blauburgunder, durch Algen produziert
Wie ein leichter Rotwein sah das Wasser im Uferbereich am Seeuferweg Richtung Tennwil und Meisterschwanden (Tennwil ist ein Gemeindeteil von Meisterschwanden) aus. Die Rotfärbung stammt vom „Burgunderblut“ (Planktothrix rubescens), einer Phosphor-liebenden Alge, die im Vorfrühling ihre Blütezeit hat. Den Namen hat sie einst bei ihren Auftreten im Murtensee erhalten; sie gab zur Sage Anlass, das Blut der bei der Schlacht bei Murten 1476 im Rahmen der Burgunderkriege ertränkten Burgunder kehre wieder; da aber im Hallwilersee keine Burgunder ertränkt wurden, ist die Sage entkräftet …
Im Hallwilersee begann die Alge in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufzutreten, als die Überdüngung des Sees einsetzte. Dann wurde sie bei weiter zunehmender Nährstofflast verdrängt. Jetzt ist sie wieder da. Seit 20 Jahren wird mit einer Seebelüftung (in Meisterschwanden) versucht, mehr Sauerstoff ins Wasser zu bringen, zumal der Wasserdurchfluss im See nur minim ist. Offenbar ist es noch nicht gelungen, dem See seine Regenerationsfähigkeit zurückzugeben, obschon der Phosphorgehalt reduziert werden konnte.
Die wichtigsten Phosphatquellen sind für den See Abschwemmungen aus gedüngten Landwirtschaftsböden, die in gemeinsamen Anstrengungen Öffentliche Hand/Landwirtschaft reduziert werden konnten, und die Auswaschung der Atmosphäre; Abwässer werden selbstverständlich nicht mehr in den See eingeleitet. In der Sondernummer 24 (Dezember 2007) der Zeitschrift „Umwelt Aargau“, welche der Hallwilersee-Sanierung gewidmet war, heisst es zum Auftreten der Burgunderblutalgen, wie es jeweils im Frühjahr zu beobachten ist: „Paradoxerweise ist dies ein Zeichen für einen Rückgang der Nährstoffbelastung, denn die Burgunderblutalge kann sich nur bei solchen Verhältnissen gegen die anderen Arten durchsetzen. Bei einer vollständigen Gesundung des Sees wird auch sie wieder auf ein normales Mass zurückgedrängt.“ Unter dem Satteldach eines baufälligen, kapellenartigen Häuschens nahe am Ufer in einem Park mit befestigtem Spielplatz zwischen Moor und Reben steht „in aqua salus“ – im Wasser ist Gesundheit (Wohlergehen). Vor allem im unbelasteten Wasser.
Warten wir geduldig ab. Ich ging meines Uferwegs weiter, vorbei an den in den See hinaus gebauten Wochenendhäusern; der Seeuferweg wird dadurch nicht gestört. Ein Hausbesitzer entfernte gerade Eiben, Symbole für das ewige Leben. Ob sich dieses auch auf die roten Algen erstreckt, wird die Zukunft weisen.
Beim Gemeindegrenzstein Seengen‒Meisterschwanden (M/S) im Gebiet Schlossrain kehrte ich um, wanderte in Richtung Schloss Hallwil zurück, das im 15. Jahrhundert, ausgerechnet zur Zeit der Burgunderkriege eine Verstärkung durch 2 kräftige Rundtürme erhalten hatte: den südlichen Archivturm und den nördlichen Verliessturm. Dort fischten 2 junge Männer nach Alets, die wie Brachsen, Egli, Felchen, Hechte, Karpfen, Kaulbarsche, Rotaugen, Schleien und Sonnenbarsche häufig sein sollen. Aber vielleicht verdeckte das Burgunderblut den Fischen die Sicht auf den Köder.
Die getrübte Sicht ist allerdings kein Zustand, der nur bei Fischen anzutreffen ist.
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