Textatelier
BLOG vom: 24.03.2008

Adler, Nebikon LU: Gourmet-Höhenflüge im Biedermeierstübli

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Manchmal hat man im Leben delikate Entscheidungen zu treffen, beispielsweise wenn es gilt, das richtige Lokal für ein festliches Essen auszuwählen, wie es oft zum Familienleben gehört. Man hat jeweils einige Gaststätten-Namen im Kopf, die aus Empfehlungen von Bekannten herrühren. Sie fussen auf persönlichen Vorlieben, und wenn man einem Geheimtipp folgt, ist man manchmal weniger begeistert; aber auch alle Variationen bis zur vollständigen Begeisterung sind denkbar. Dabei kommt es auf die Befindlichkeit der in einem Gasthof Tätigen und der eigenen Verfassung an. Wir waren kürzlich an einem Sonntagabend in einem netten Haus im unteren Suhrental, in dem sich zuvor eine Konfirmationsgesellschaft mit mehreren Gängen gütlich getan hatte, und nun war das Küchenpersonal vielleicht etwas müde. Wir erhielten jedenfalls das Gefühl, es habe an der letzten Sorgfalt gefehlt, oder aber wir selber waren mit zu hohen Erwartungen hier eingekehrt.
 
Nebikon LU
In den letzten Jahren ist mir von verschiedenen Seiten der „Adler“ in CH-6244 Nebikon LU empfohlen worden. Im „GaultMillau Schweiz 2008“ hat er 17 von 20 Punkten („beste Qualität und hohe Konstanz“). Und auch Martin Weiss zeigt sich im Buch „Urchuchi“ (Rotpunktverlag, Zürich 2005) begeistert: „Ab in den Adler in Nebikon! Hier wird frisch und wirklich hausgemacht gekocht.“ Es brauchte viel, bis bei uns eine Gelegenheit da war, all diesem vorauseilenden Lob nachzureisen, zumal das Dorf Nebikon im unteren Teil des Luzerner Wiggertals nicht eben zu den überwältigenden Ortsbilderscheinungen gehört. Es ist an der SBB-Linie Luzern‒Basel und nahe beim A2-Anschluss. Auf der Webseite der Gemeinde www.nebikon.ch steht, es befinde sich „im Herzen der Schweiz“. Ich habe das schon oft mit Bezug auf andere Gemeinden gelesen, so dass ich daraus schliesse, diese Schweiz habe ein sehr grosses Herz, und dagegen ist ja nichts einzuwenden.
 
In Nebikon (2100 Einwohner) hat die gute Verkehrslage dazu geführt, dass sich hier viele Gewerbe- und Industriebetriebe niedergelassen haben, sogar die Zahnradfabrik Grob AG und die Imbach & Cie. AG, die Anlagen für die Lebensmittel- und Futterindustrie baut; ich erwähne das Unternehmen, weil dieses Blog schliesslich von Fütterungen handelt. Die Industrie ist bis in den Dorfkern vorgedrungen, durch den auch die Hauptverkehrsachsen (inkl. Bahnlinie) wie Trennlinien führen. Doch die Finanzen der Gemeinde sind gut, der Steuerfuss (1.80 Einheiten) verhältnismässig tief. Und die Bildungsanstrengungen sind vorbildlich.
 
Im „Adler“
Ein baulicher Glanzpunkt ist der Gasthof Adler (www.adler-nebikon.ch) mit dem vorspringenden Satteldach und einem quer zum Hauptdach ausgerichteten Giebel. Dieses Haus hatte als „Schwarzer Adler“ das Tavernenrecht schon 1798, also vor 210 Jahren, erhalten, das Gebäude aber dürfte weniger älter sein. Die grossen Fenster sind mit Läden versehen und üppig geschmückt, und ein schönes Wirtshausschild mit einem Adler beim Flügelschlag ist eine weitere Zierde, so dass der Ort im breiten Tal der Wigger, der durch Bauten aus dem 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts geprägt ist, punktuell doch noch so etwas wie einen traditionellen Charakter erhält.
 
Die Eingangstür zum „Adler“ erreicht man über eine kleine, dem Haus vorgelagerte Treppe. Wir hatten uns angemeldet und wurden gleich ins Biedermeierstübli mit der Wand- und Deckentäferung aus Kirschbaumholz an den runden Tisch geführt. Alles war festlich aufgedeckt; Tulpen standen in einem Glas mit Stroh und Schieferplättchen. Im Biedermeier-Zeitalter ging es weniger um die Repräsentation, sondern vielmehr ums häusliche Glück, um Geselligkeit in einer schönen, gepflegten Atmosphäre. Man fühlte sich hier tatsächlich wie daheim und machte sich bei einem Prosecco mit hausgemachtem Holderblütensirup gleich ans Studium der grossformatigen, aber nicht überladenen Speisekarte. Dabei kristallisierte sich die Meinung heraus, dass man sich für das 5-gängige Adler-Menu (115 CHF) entschliessen sollte, um einen möglichst guten Überblick über die Leistungsfähigkeit dieses Hauses zu erhalten. Dazu bestellten wir den rosafarbenen, schlanken Château Thieuley Clairet aus dem Bordelais, dem der Merlot-Anteil einen festlichen Stich ins Pupurfarbene verleiht.
 
Das Menu
Zuerst wurden von der gut gelaunten Hausherrin Marie-Louise Tuor hausgemachte Brötchen, darunter Bärlauch- und Olivenbrot, und Butter aus der Napf-Chäsi in Luthern aufgetragen, weil schliesslich, wenn immer möglich, Produkte aus der engeren Region eingesetzt werden. Der kulinarische Willkommensgruss ausserhalb des Menus war überwältigend: ein Meerrettichsüppchen, das nicht nur den Appetit, sondern auch die Lebenskräfte aktivierte, etwas Schinken vom Wollsäuli auf einem Blumenkohl- und Basilikumparfait und Schaffrischkäse aus dem Ohmstal. Das vermittelte eine Ahnung von dem, was noch folgen sollte.
 
Das Menu sei hier ab Speisekarte wiedergegeben:
-- Carpaccio vom geräuchten Schwertfisch mit einem Tatar vom frischen Thunfisch an einer rassigen Tomaten-Passionsfrucht-Salsa;
-- Kleine Paella mit bretonischem Seeteufel;
-- Zweierlei vom Loup de mer auf einem mediterranen Gemüseraviolo;
-- Variation vom Müritzer-Lamm mit Tessiner Polenta und Gemüseallerlei;
-- Erdbeer-Rhabarber-Dessert.
 
Eine derartig mannigfaltige Speisenabfolge erfordert die gesamte Aufmerksamkeit und Zuwendung. Zum Glück hat in meiner Familie das bewusste Geniessen Tradition, so dass uns eigentlich keine Feinheit entgangen sein dürfte. Bereits das Carpaccio hatte den Beweis erbracht, dass hier wirklich beste Zutaten eingesetzt und kunstvoll verarbeitet wurden, um den Eigengeschmack anzuheben. Die Fische in der Paella (Seeteufel, Tintenfisch) mit dem geschmeidigen Reis waren so gut und frisch wie in Spanien. Die Portionen waren so bemessen, dass auch der Hauptgang mit dem saftigen Lammfilet und das erfrischende, fulminante Dessert, auf einem rechteckigen Teller aufgetragen, noch köstlich schmeckten. Die Genügsamkeit, wie sie den Biedermeierstil kennzeichnet, war deutlich überwunden.
 
Auch eine Dorfbeiz
Wir hatten zwischen den Gängen Gelegenheit, mit Frau Tuor zu sprechen und erfuhren von ihr, dass sie und ihr Mann Raphael Tuor-Wismer den „Adler“ Anfang 2005 von Sylvia Hunkeler gekauft hatten, nachdem Raphael Tuor hier schon 1991‒1994 als Küchenchef im Einsatz gewesen war (er war auch beim berühmten Hans Stucki im Bruderholz in Basel tätig).
 
Das Spitzenrestaurant „Adler“  ist gleichzeitig auch eine veritable Dorfbeiz, wie es immer war. Dort kann man auch günstig zu Mittag essen – aber immer bei unveränderter Spitzenqualität. Frau Tuor zeigte mir die Beizlikarte, was sich dahingehend auswirkte, dass ich bei nächster Gelegenheit dort zu Mittag essen werde, zum Beispiel Kalbskopf in der Gemüsebouillon mit steirischem Kürbiskernöl und Salzkartoffeln (17/23 CHF je nach Portionengrösse) oder Kalbskutteln an Tomatensauce, mit Parmesan gratiniert, dazu Salzkartoffeln oder Rösti (zum gleichen Preis).
 
Als wir uns, auch des Lobes voll, verabschiedeten, stellte sich auch noch Raphael Tuor vor, ein gepflegter, freundlicher Koch aus Leidenschaft, der nach Aussagen seiner Frau auch an Tagen, an denen der Adler geschlossen ist, im Familienkreis ebenfalls hervorragend kocht. Er kann nicht anders, liebt seinen Beruf. Das ist schon etwas.
 
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