Textatelier
BLOG vom: 31.03.2008

Überladen: Weichenlaternen und das SBB-Cargo-Debakel

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Die Wirtschaft ist ein ständiger Veränderungsprozess, wie die Natur auch. Alles ist immer in Bewegung, alles fliesst. Man kann das selbst an den ständig herumfahrenden Bahnen ablesen, die sich ständig verändern.
 
In Kontinentaleuropa verband die erste Dampfeisenbahn 1832 Lyon mit St-Etienne (Frankreich). Dann dampften immer mehr Lokomotiven auf einem laufend erweiterten Streckennetz. Die Gotthardbahn nahm 1882 den Betrieb auf. Die Bemühungen um die Elektrifizierung der Bahnen sind fast so alt wie die Eisenbahnen: 1842 schon liess der Schotte Robert Davidson eine kleine elektrische Lokomotive zwischen Glasgow und Edinburgh verkehren. Die erste Bahn, die in der Schweiz ihre Energie aus einer elektrischen Oberleitung bezog, zirkulierte ab 1888 zwischen Vevey, Montreux und Chillon. Die Maschinenfabrik Oerlikon begann 1904 einen Versuchsbetrieb mit hochgespanntem Einphasen-Wechselstrom zwischen Seebach ZH und Wettingen AG. Die Elektrifizierung der Bahnen wurde wegen des Kohlenmangels ab 1919 noch schneller vorangetrieben. 1960 besassen die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) als erste Staatsbahn ein vollständig elektrifiziertes Netz.
 
Ich erzähle das hier aufgrund meines Besuchs im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern, wo die Verkehrsgeschichte anschaulich illustriert ist. Damit wollte ich zeigen, dass es einerseits unaufhaltbare Entwicklungen gibt, und anderseits möchte ich in diesem Zusammenhang auf die momentan desolaten Zustände im Güterbereich „SBB Cargo“ hinweisen; der Begriff cargo ist aus der Globalisierungssprache Englisch abgeleitet und bedeutet Ladung.
 
Der Güterverkehr nahm ganz allgemein globalisierungsbedingt zu, aber die SBB Cargo fuhren 2007 dennoch einen Verlust von 190 Mio. CHF ein und kündigten am 7.März 2008 den Abbau von mehr als 400 Stellen In Bellinzona, Basel, Freiburg und Biel an. Darauf traten die 430 Angestellten der Industriewerke Bellinzona TI, wo 126 Arbeitsplätze wegrationalisiert werden sollen, sofort in den Streik und fügten dem maroden Unternehmen dadurch einen zusätzlichen täglichen Verlust in der Grössenordnung von 250 000 CHF zu. Die Cargo-Führung mit dem neuen SBB-Chef Andreas Meyer machte gewisse Zugeständnisse in Bezug auf die Lokomotiven-Wartung in Bellinzona, die den Streikenden aber zu wenig weit gingen. Moderne elektrische Lokomotiven brauchen halt deutlich weniger Wartung als ältere Modelle. Wegen der Unnachgiebigkeit der Streikenden und ihrer Weigerung, auf Teilzugeständnisse einzugehen, war die Geduld bei den SBB nach einem dreiwöchigen Arbeitskampf erschöpft; die Stimmung kippte auch im Volk und in der Politik allmählich: Das Verständnis für die Tessiner, die um ihren Arbeitsplatz kämpften, schwand, verschwand zum Teil ganz. Und dennoch wollen sie weiterstreiken.
 
Die Tessiner seien halt immer besonders kämpferisch gewesen, erzählte mir ein heute über 80-jähriger ehemaliger SBB-Angestellter, der seine Aussage mit einer Reminiszenz aus der Zeit während der erwähnten SBB-Elektrifizierung untermauerte. Darin spielen die Weichenlaternen die zentrale Rolle, die bei Schienenverzweigungen anzeigten, ob der Zug nach links oder rechts abgelenkt wurde. 2 breite, je nach Laternendrehung nach links oder rechts aufeinander zulaufende helle Balken im dunklen Metallkörper der Laterne gaben dem Lokomotivführer diese wichtige Information.
 
Während der Dampfphase mussten diese Laternen, in denen sich eine Öllampe befand, abends sozusagen von Hand angezündet und am Morgen wieder gelöscht werden. Mit dem Löschen waren auch das Reinigen der verrussten Laterne und das Auffüllen des Öls verbunden. Doch auch diese Lampen wurden elektrifiziert, was natürlich einen Arbeitsplatzverlust für die meisten Laternenbetreuer bedeutete. Und während dieses Prozesses sollen sich laut dem erwähnten Bähnler die Tessiner besonders lautstark gegen diese Neuerung gewehrt haben, auch wenn diese das ganze Land erfasste.
 
Streiks gelten bei Arbeitskämpfen als „letztes Mittel“; sie sind eigentlich eine Form von legitimierter Erpressung. Die Arbeiter und Angestellten können damit durch Nichtstun den Tatbeweis erbringen, dass es ohne sie nicht geht. Mit der Streik-Waffe aber sollten sie behutsam umgehen, ansonsten sich diese gegen die Kämpfer selber richtet. Aufgrund solcher Erfahrungen wird eine Unternehmensleitung noch intensiver auf Rationalisierung und damit auf Arbeitsplatzabbau setzen, denn Maschinen, Elektronik und Roboter streiken nicht, wenn sie gut gewartet sind. Sie behindern die Unternehmensführung nicht durch beschränkende Gesamtarbeitsverträge. Und das ist für die Belegschaften tragisch. Das SBB-Gesetz unterstützt die Ausrichtung auf kommerzielle Aspekte: „Die SBB sind nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen zu führen.“ Das ermöglicht auch Ausland-Abenteuer (z. B. nach Deutschland: „Cargo Deutschland“), bei denen SBB Cargo vorerst einen Radschuh voll herauszog – Verluste, die dann im Inland kompensiert werden müssen, auch auf Kosten der Belegschaft (auch wenn die Löhne der Cargo-Bediensteten als vergleichsweise anständig zu bezeichnen sind). Aber vielleicht wird der transeuropäische Güterverkehr zwischen Rotterdam, Deutschland (mit Einbezug von Frankreich) und Italien längerfristig attraktiv.
 
Die neoliberale Globalisierung ist da, eine schwere Geisteskrankheit. Fusionen und Internationalität stehen über allem, und niemand weiss genau, was denn richtig sei. Sie ist auf schnelle Gewinne ausgerichtet, und wenn Weitblick ohne Spontanerfolg nicht dazu dient, gilt er als falsch. Sicher keinen Platz mehr haben soziale Komponenten und Rücksicht auf ökologische Belange. Darauf basiert auch mein Unverständnis, dass die Sozialdemokratische Partei der Schweiz SP mit den eingebundenen Gewerkschaften so begierig auf die Globalisierung (u. a. durch einen EU-Beitritt) ist. Bei den Gewerkschaften hat man aus Profilierungsgründen selbstverständlich Freude an unzufriedenen Arbeitern und Streikmöglichkeiten, an denen die rote Unia-Flagge fernsehtauglich geschwenkt werden kann. Dass aber selbst die SP die Weichen in Richtung Brüssel falsch gestellt hat und ihre angestammten Mitglieder verschaukelt, übersteigt meine Kombinierungsgabe. Die Arbeiter würden gerade beim heutigen neoliberalen Betrieb, bei dem nach US-Vorgaben einer Finanzelite in die Taschen gearbeitet wird, eine starke, ehrliche Vertretung dringend brauchen, sicher keine, die sie ins globale Elend treibt.
 
Gewisse natürliche Abläufe lassen sich nicht aufhalten; man hat sich damit zu arrangieren und das Beste herauszuholen. Doch ist das Streben offensichtlich, selbst auf eindeutige Fehlentwicklungen wie die vereinheitlichende Globalisierung (ohne Biodiversität können sich keine Gleichgewichte einstellen) beschleunigend einzuwirken. Das Chaos ist dann Programm.
 
Die SBB Cargo ist ein Bundesbetrieb, aber ins Wirtschaftsgeschehen fest eingebunden. Und offensichtlich gelang es ihr bei dem anorganischen Wachstum nicht, den Überblick zu behalten, wobei der Güterverkehr selbstverständlich schwieriger zu managen ist als der nach starren Fahrplänen rituell verkehrende Personenverkehr. Noch gibt es bei Cargo keine verlässlichen Zahlen über die Rentabilität der einzelnen Bereiche wie die „Instandhaltung“ von Lokomotiven und Rollmaterial in Bellinzona. Die Unternehmensstrategie hat ständig gewechselt, wobei frühere Zusicherungen nicht erfüllt werden konnten. Die bisherigen Schienenpiloten springen vom fahrenden Zug. Dadurch ist die Glaubwürdigkeit der Betriebsleitung angeschlagen, was sich auch auf die (nun abgebrochenen) Gespräche zur Streikbeilegung auswirkte.
 
Man kann die altehrwürdigen Weichenlaternen nicht wieder aufbauen und mit Leuchtöl betreiben, und das Dampfzeitalter ist definitiv vorbei; schnaubende Dampflokomotiven erfüllen bestenfalls noch hier und dort die Bedürfnisse einiger Nostalgiker. Doch alle Neuerungen unbesehen als Fortschritt zu charakterisieren, wäre vermessen. Zu den Fragwürdigkeiten gehört die Zentralisierungsmanie. Hier wären einige heftig blinkende Elektro-Warnlampen im Interesse aller fällig. Sie finden sich nicht einmal mehr auf dem Trümmerhaufen, der sich täglich weiter auftürmt.
 
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