Textatelier
BLOG vom: 16.04.2008

Abschuss des Bären JJ3: Mieser Etikettenschwindel. Schäbig!

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Das 2 Jahre alte Bärenmännchen JJ3, Sohn der leutseligen Jurka, die in Italien eingefangen und in ein Gehege gebracht wurde, ist am Montagabend, 14. April 2008, in der Region Thusis (Innerglas, Mittelbünden) abgeschossen worden, ein miserables Zeichen für das heute vorherrschende Naturverständnis, ein Skandal. Bären sind offenbar im zivilisierten Raum nur noch aus Edelmetall toleriert – als „Goldene Bären“ als Filmer-Auszeichnung oder als Börsensymbol für fallende Kurse. Jetzt wird das arme Tier ausgestopft – eine stolze Trophäe der nationalen Schande. Man kann dann zu seiner Besichtigung noch Eintrittsgeld verlangen.
 
Der Bruder von JJ3, so etwa JJ2, genannt „Lumpaz“, der als erster die Dummheit beging, in die Schweiz einzureisen, ist sogleich verschollen. Ich mache mir meinen eigenen Reim darauf, was man mir bitte gestatten möge. Und JJ1, der andere Bruder des Erschossenen, genannt „Bruno“, wurde im Juni 2006 in Bayern nach einer fünfwöchigen, heldenhaften Jagd abgeschossen (Jägersprache: erlegt). Offenbar besteht dort eine gewisse Geistesverwandtschaft mit der Schweiz. Am Fuss der Karpaten in Rumänien (in Racadau) aber lebt man seit Menschengedenken mit „Müllbären“ zusammen, hat sich an sie gewöhnt, auch wenn sie gelegentlich noch auf Strassen um Futter betteln.
 
Das sündhafte Tun des Bären JJ3, der mit einem Halsbandsender ausgestattet war und somit immer lokalisiert werden konnte (was uns Menschen wohl aufgrund von US-Vorschriften wohl demnächst auch passieren wird), nach vollendetem Winterschlaf: Er suchte und fand Nahrung in Abfallcontainern von Bündner Dörfern. Den Menschen gegenüber hat er sich nie aggressiv verhalten, im Gegenteil: Er ergriff immer die Flucht und kam, vom Hunger getrieben, später wieder. Statt ihm ein kleines Schlemmermahl aus Abfallcontainern zu gönnen und dies als Wiederverwertung von Resten, die wir Wohlstandsmenschen in ungeheurer Menge produzieren, zu feiern, wurden ständige Vergrämungsaktionen (Vertreibungen) mit Gummischrot und Knallpetarden inszeniert, das heisst im Klartext, dass er sich an Menschen gewöhnen konnte und gewöhnte. Mit der blöden Feuerwerkerei kann man ja nicht einmal Menschen vertreiben, im Gegenteil … Ich selber bin da wohl eine Ausnahme.
 
Er sei „immer unverfrorener“ und zum Problembären geworden, heisst es im offiziellen Mainstreammedien-Ton, und damit hatte man auch gleich den triftigen Grund für den Abschuss beisammen. Eine billige Masche, nach deren Muster selbstredend in Zukunft jeder Bär abgeschossen werden kann. In diesem Fall ist das schwammige „Konzept Bär Schweiz“  (unbedingter Vorrang für die menschliche „Sicherheit“) grundfalsch und dringend änderungsbedürftig. Dieses erlaubt das „Feuer frei“, wenn ein freundlicher Bär keine Scheu mehr vor Siedlungen und Menschen hat. Es müsste stattdessen lauten: „Das Abschiessen von Bären ist verboten.“ Und keine Spielräume für verängstigte schiesswütige Behörden offenlassen. Man könnte die Menschen schliesslich auch darüber aufklären, wie sie sich beim Auftauchen eines harmlosen Bären zu verhalten haben, auf dessen Speiseplan schliesslich kein Menschenfleisch zu finden ist.
 
Es ist ja wirklich höchst merkwürdig, dass jeder Wolf und jeder Bär, der in der Schweiz seine Nahrung sucht, gleich mit der Etikette „Problemwolf“ und „Problembär“ versehen wird. Das kann nur daran liegen, dass wir „Problem(jagdschutz)behörden“ haben, die vor Etikettenschwindel nicht zurückschrecken. Dieses Problem mit den Problembehörden müsste einmal nach der in der Zoologie üblichen Wissenschaftlichkeit ergründet werden.
 
Wohl Hunderttausende von naturverbundenen Menschen haben sich aufrichtig gefreut, als erstmals seit etwa 100 Jahren ein Bär im Kanton Graubünden auftrat (der Bär war 1904 im Engadin ausgerottet worden); „JJ2“ war aus Italien (Südtirol) eingewandert, wo ganz offensichtlich ein toleranterer Umgang mit wild lebenden Tieren herrscht.
 
Habe ich gemeint. Denn die „italienischen Behörden“ (wohl auch Jagd- statt Tierschützer) sollen angeblich Verständnis für die abschussfreudige Schweizer Haltung bekundet haben. Und dann bemüht man sogar ausgerechnet noch die Tierethik: „Aus tierethischer Sicht ist es fragwürdig, einen wilden Bären in einem Gehege einzusperren, denn er könnte darin kaum artgerecht gehalten werden.“ So begründeten die Behörden den Abschussbefehl. Das Tier wurde dann artgerecht abgeschossen, obschon der Berner Tierpark Dählhölzli Asyl angeboten hatte. Die naturverbundenen Behörden wie das so genannte Bundesamt für Umwelt (BAFU) lehnten ab … der Namensbestandteil „für Umwelt“ erwies sich als weiterer Etikettenschwindel. Ich wünsche den beteiligten Behörden nichts Schlechtes, schlage bloss vor, dass man die Entscheidungsträger zum Beispiel wie den eidgenössischen Jagdinspektor oder den Bündner Vorsteher für Jagd und Fischerei nach ihrem natürlichen seligen Ende ebenfalls ausstopft und als Mahnmale neben das Bärenstopfpräparat stellt. (Ich nehme an, dass auch ich mir einmal einen Ausrutscher leisten darf.)
 
Seit 2007 ist im Gebiet Engadin/Münstertal/Nationalpark ein weiterer, vorläufig noch lebender, unabgeschossener Bär unterwegs: MJ4 (man spreche diese Buchstaben und Zahlen bitte angloamerikanisch aus, in der Sprache der Schiessfreudigen also). Der Kanton Graubünden, wo die Bärenangst offenbar ebenso sehr grassiert wie das Jagdfieber, ist nun dabei „bärensichere Abfallsysteme“ zu erfinden. Man will den einsamen Bären also zum Jagen zwingen, wenn ihn nach dem Verzehr von Früchten und anderen Pflanzenteilen wieder einmal nach etwas Fleisch gelüsten sollte, damit man ihn dann als Jäger-Konkurrent oder als Landwirtschaftsschädling, wenn er sich an Vieh wie Schafen vergreift, abschiessen kann. Denn es ist kaum anzunehmen, dass er nach dem Vorbild unseres Nationalheiligen Niklaus von der Flüh auf Dauer ohne Nahrung auskommen kann beziehungsweise gelegentlich etwas Bienenhonig leckt. Und sonst wird sich das Problem selber erledigen: Wie denn kann sich ein einsamer Bär fortpflanzen?
 
Der Bärenabschuss hat bei mir persönlich für fallende Kurse, für ein fallendes Ansehen jenen Behörden gegenüber gesorgt, welche den Abschuss aus fadenscheinigen Gründen via Bären-Konzept eingefädelt und jenen, die ein harmloses Wildtier stigmatisiert und zum Abschuss freigegeben haben. Im Umweltschutz, der von einem Naturverständnis begleitet sein sollte, ist infolgedessen noch viel, viel Aufklärungsarbeit nötig. Sie muss von unten kommen, weil selbst Biologen wie der beliebte Fernsehfilmer Andreas Moser keine konsequent tierfreundliche Haltung haben und für die Abschiesser ein gewisses Verständnis bekunden, ein unfassbarer Umstand.
 
Man könnte bei Erziehungsarbeit im Hinblick auf ein Zusammenleben mit Wildtieren gleichzeitig u. a. auch bei unserem eigenen Fressverhalten ansetzen, das auf immer grössere Container angewiesen ist. So weit ein kleiner Gratistipp.
 
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