Textatelier
BLOG vom: 30.04.2008

Persepolis (2) – Marjane Satrapi und das Familienleben

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Im Blog vom 29.04.2008 über Marjane Satrapi bin ich nur bis zur Seite 31 ihrer Bilderfolge angelangt – knapp 1/5 des Buchs. Ich muss Seiten überspringen, um mich aufs Allerwesentlichste zu konzentrieren. Leichter gesagt als getan. Ich steige ins nächste Kapital ein und bleibe stracks  stecken. Mit gutem Grund: Ich empfinde ihr nach.
 
Der Brief
Soziale Unterschiede gibt es überall, auch in Persien. Marjane schämte sich nach der Lektüre der Werke von Ali Ashraf Darvishian, den sie als ein lokaler „Charles Dickens“ bewunderte, im Cadillac ihres Vaters zu sitzen. Aus einer seiner Geschichten sei stichwortartig festgehalten, dass der 5-jährige Reza ein Gepäcksträger wurde, die gleichaltrige Leila Teppiche knüpfte und der 3-jährige Hassan Autofenster wusch.
 
In Marjanes Elternhaus wurde Mehri, die Tochter armer Eltern, mit 8 Jahren als Dienstbotin verdingt. Mehri nahm sich der viel jüngeren Marjane an, spielte häufig mit ihr und wurde wie eine Tochter behandelt.
 
Beim Beginn der Revolution im Jahr 1978 verliebte sich Mehri in einen Burschen, der ihr immer wieder aus dem Fenster des gegenüberliegenden Hauses zuwinkte. Mehri winkte zurück. Eines Tages erhielt Mehri einen Brief des Burschen, den sie weder lesen noch beantworten konnte, trotz der Versuche von Marjanes Mutter, ihr das Lesen und Schreiben beizubringen. Also las ihr Marjane die Briefe des Freiers vor und beantwortete sie in Mehris Namen. Die Liebesgeschichte über Distanz gedieh. Eines Tages besuchte der Nachbar Marjanes Vater und überreichte ihm den Briefwechsel der Verliebten. Ihr Vater stellte Marjane deswegen zur Rede und erklärte ihr, dass eine Heirat über Klassen hinweg nicht möglich sei. „Aber Mehri kann doch nichts dafür“, wandte Marjane ein, was aber nichts bewirkte.
 
Marjane flocht immer wieder politische Inhalte ein, so auch diesmal, als Mehri und Marjane beschlossen, an einer Demonstration teilzunehmen. „Lang lebe die Revolution!“, schrie Mehri; „Nieder mit dem Schah!“ hielt Marjane mit. An jenem „schwarzen Freitag“ verloren viele Demonstranten ihr Leben. Es wurde gemunkelt, dass israelische Soldaten dieses Blutbad verübt hätten … „Aber es waren unsere eigenen Leute, die das Massaker ausgeführt hatten“, steht über dem letzten Bild dieses Kapitels geschrieben. So greifen soziale Unterschiede in politische über.
 
Die Partei oder der Aufstand gegen den Schah
Als der Schah nach kurzem Hin und Her des Landes verwiesen wurde, brach der grösste Jubel aus – von Marjane ganzseitig und einzigartig eindrücklich aufs Blatt gebracht. Jimmy Carter, damals Präsident der Vereinigten Staaten, verweigerte seinem einstigen Freund das Asyl. Marjanes Vater meinte dazu kurz: „Es ging Carter bloss ums Öl.“ Anwar Al-Sadat, das Staatsoberhaupt von Ägypten, bot schliesslich dem Schah Asyl. „Vielleicht bot er ihm Gastrecht, weil der Schah einst mit einer Ägypterin verheiratet gewesen ist“, mutmasste Marjane. „Gewiss nicht“, antwortete ihr Vater, „denn Politik und Gefühl lassen sich nicht miteinander mischen.“
 
Die Helden
Eine Geschichte ohne Helden, wo führte das hin? Nach dem Regimewechsel wurden 3000 Gefangene freigelassen, vorwiegend Kommunisten und Revolutionäre. Unter ihnen waren Siamak und Mohsen, Freunde der Familie Satrapi, und sie wurden von ihr eingeladen. Sie berichteten, wie sie von der CIA gefoltert worden waren. Diese Leute trainierten Schergen mit Peitschenhieben, heissem Bügeleisen auf dem Rücken – wie von Marjane illustriert. „Diese Folterknechte werden kriegen, was sie verdienen“, sagte ihre Mutter. „Aber man sollte doch verzeihen“, wandte Marjane ein. „Schlechte Leute sind gefährlich“, vertrat die Mutter ihren Standpunkt. „Vergebung ist gefährlich. Aber mache dir keine Sorgen, es gibt Justiz in dieser Welt.“
 
„Ich wusste nicht, was Justiz bedeutet, nachdem die Revolution endlich vorbei war. Ich gab die ‚Dialectic Materialism‘ (philosophische Grundlage des Marxismus) auf und rettete mich in die Arme meines Freundes (dem Propheten).“
 
„Mein Vater war kein Held“, kam Marjane zum Schluss. „Wäre er doch im Gefängnis gewesen … Es gibt viele Helden in unserer Familie: Mein Grossvater war im Gefängnis, auch mein Onkel Anoosh – sogar während 9 Jahren!“ begann Marjane aufzuzählen.
 
Ihr Onkel Anoosh verweilte im Familienhaus, und Marjane erfuhr von ihm, dass die Revolution von den Kommunisten ausgelöst worden ist – „und jetzt will die Republik als islamische gelten. Nicht zu glauben.“
 
Die Schafe
Der Exodus Richtung Amerika begann, als gebildete Leute aus der islamischen Republik flohen. Auch ihr Freund Kaleh, den sie besonders mochte, verreiste mit seiner Familie nach Los Angeles. Die Treibjagd auf die Helden steigerte sich – die alten Helden wurden wieder zu Feinden, diesmal als Feinde der islamischen Republik gebrandmarkt. Siamaks Familie entkam der Razzia. Versteckt in einer Schafherde, entkamen sie über die Grenze. Hingegen wurde Marjanes Onkel Anoosh aufgegriffen und kam ins Gefängnis. Er glaubte fest daran, dass sich alles zum Guten wenden würde und dass die islamische Republik nur eine vorübergehende Phase sei.
 
„Liebling, hast du einen guten Tag in der Schule gehabt?“ fragte sie ihr Vater. „Willst du nicht etwas essen?“ Der Anschein eines normalen Familienlebens wurde gewahrt.
 
Ihr geliebter Onkel Anoosh wurde als russischer Spion hingerichtet.
*
Das war keine heile Kinderwelt für die aufgeweckte Marjane. Es folgte der Krieg zwischen Irak und Iran. Die islamischen Fanatiker schlossen Universitäten und würgten die Grundfreiheiten mehr und mehr ab. Was geschah nicht alles, ehe sie vom Mehrabad-Flughafen nach Wien floh?
 
Die Geschichte ihrer verlorenen Kindheit wird fortgesetzt. Welche Folgerungen lassen sich daraus ableiten? Ihr Glaube, dass die Kraft der altehrwürdigen persischen Kultur auch diesen Einbruch überwinden wird, ist felsenfest. Hoffentlich behält sie Recht. (Der 3. und letzte Teil ist in Arbeit.)
 
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