Textatelier
BLOG vom: 13.06.2008

Die etwas andere Bibersteiner Fanzone: Auen statt Rasen

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Eine Fanzone von der eigenwilligen Sorte bildete sich an jenem Abend vom 11. Juni 2008, als die Schweizer fussballerischen Nationalhelden um Köbi Kuhn und deren in den Wolken schwebende Anhänger hier unten auf der Erde in eine tiefe Melancholie verfielen. Dabei ist es doch nichts als Anstand, den Gästen den Vortritt in der Rangliste zu lassen, ob es nun Tschechen oder Türken sind, und ganz hinten anzustehen.
 
Die anderen Fans: Etwa ein Dutzend Mitglieder der Bürgerlichen Vereinigung Biberstein BVB stand just am Abend des Entscheidungsspiels Schweiz‒Türkei auf dem Schulhausparkplatz Biberstein im Halbkreis bei Plastikmodellen von allerhand Amphibien: einem Grasfrosch, einem Silberweidenzweig als Symbol für die nahe Auenlandschaft und bei Bestandteilen des Wappentiers Biber wie einem Schädel mit den Nagewerkzeugen, einem gummiartigen Biberschwanz-Präparat mit Kunststofffüllung und einem dicht behaarten Biberfell. Auch das Stopfpräparat eines goldgelben Pirols verschönerte das Idyll. André Stapfer, der Leiter der Sektion Natur und Landschaft vom aargauischen Departement Bau, Verkehr und Umwelt, Abeilung Landschaft und Gewässer, war mit diesen Demonstrationsobjekten angereist, um jenseits des Balltretens und Stolperns über hochtrainierte, innig verehrte Fussballerbeine auf einer Rasenmonokultur zu den wahren, wirklichen Werten hinzuführen.
 
Der gut gelaunte Referent outete sich vorerst als seinerzeitiger Erbauer eines Tümpels beim Schulhaus Biberstein, den er eigenhändig mit Wasserfröschen bestückt hatte. Er hatte die Amphibien in einer Kiesgrube im Kanton Thurgau eingesammelt, wobei er von einem anderen Naturschützer mit Gewehrschüssen verscheucht wurde; der Schütze hatte vermutet, es handle sich da um einen hungrigen Froschschenkel-Liebhaber. „Heute würde man das nicht mehr tun“, fügte Stapfer, ökologisch gereift, hinzu. Er meinte damit die Frosch-Deportation.
 
Naturschutz und Bürgertum
In der Schweiz sei der Naturschutz von den Bürgerlichen ausgegangen; so sei etwa der Schweizerische Nationalpark im Kanton Graubünden eine Gründung, die von diesem politischen Lager ausgegangen war, sagte der Referent. Auch im Aargau, der als Vorbild des Natur- und Landschaftsschutzes gilt, sind die Bürgerlichen motiviert und sensibilisiert, auch wenn heute eher Klima- und Energiepolitik im Vordergrunde stehen und der Pflanzen- und Tierschutz ein Schattendasein fristet. Es brauche nur die richtigen Leute, wie damals in den USA den Preservationisten John Muir, welcher 1904 den US-Präsidenten Theodore Roosevelt für die Schönheiten der Natur, wie es sie damals in den USA noch gab, dermassen begeisterte, dass dieser gleich serienweise Naturreservate – 51 an der Zahl – schuf und die Zahl der Nationalpärke verdoppelte. Das war ein netter Ausgleich zum Ausleben der Machtansprüche im Hinblick auf Mittelamerika, für dessen Bau sich Roosevelt ebenfalls stark machte. Wichtig ist, dass die Natur ihre Schützer hat, woher auch immer sie kommen mögen.
 
Land am Wasser und unter Wasser
Im Alemannischen heisse Aargau „Land am Wasser“, und dieses Wasser sei für den Aargau ein bedeutendes Element, rief Stapfer in Erinnerung – nur wenige Meter von der gerade viel braunes Wasser führenden Aare entfernt; da sind bei starkem Regen offenbar wieder ein paar verdichtete Maisäcker bachab gespült worden. Das ist meine persönliche Interpretation der Lage, die ich Herrn Stapfer nicht in die Schuhe schieben möchte.
 
Die Flüsse als Wasserstrassen führten zur historischen Bedeutung des Aargaus (Vindonissa, Habsburger); sie sind aber auch wichtige Erholungsräume, und zudem haben sie einen Zusammenhang mit der Energiegewinnung. Die Auen als Räume, die immer wieder überschwemmt werden müssen, sind die artenreichsten überhaupt. Und solche Räume werden im Aargau gerade fleissig renaturiert; etwa 11 Mio. CHF gibt der Aargau pro Jahr für den Naturschutz aus. Die Bergkantone, wo noch vieles zu retten wäre, strengen sich finanziell nicht besonders an, üben sich in Zurückhaltung.
 
Laut Stapfer, mit allen baurechtlichen Wassern gewaschen und dennoch immer guter Laune, ist es unendlich mühevoll, ein Gebiet für die Rückgabe an die Natur aufzubereiten. Oft müssen zuerst Altlasten beseitigt und Infrastrukturanlagen verlegt werden – in Rupperswil musste ein ganzer Fussballplatz weichen. Ein weiteres Beispiel für die Höherbewertung der Natur vor dem Fussball, wie sie den Abend an der Aare im Raum Biberstein prägte.
 
Am einfachsten kommt der Kanton zum Ziel, wenn es ihm möglich ist, das Land zu erwerben. Im Übrigen hat der Aargau 3400 Hektaren von total rund 1000 Landwirten unter Vertrag, auch wenn es den Bauern offenbar noch immer missfällt, Landschaftsgärtner spielen zu müssen, selbst wenn das WTO-kompatibel ist. Stapfer: „Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten.“
 
Die BVB-Gruppe stapfte dann zügigen Schritts ins Feld: über die Aarebrücke durch den verfichteten Wald Richtung Aarschächli zu den Giessen (Grundwasser führenden Bächen) mit ihrem wunderbar klaren Wasser beim verträumten Roten Haus und zum künstlich angelegten Aarschächlisee, ein reiner Grundwassersee, der bereits in die Landschaft eingewachsen und ein akzeptierter Brutplatz für Wasservögel sowie ein Biotop für eine überraschende Vielzahl von Fischen ist. Früher hatten sich hier Fichten und Kanadische Pappeln nach Försterart breit gemacht.
 
Am Aaredamm, auf dem wir den Rückweg bewältigten, blühte die rot-violett leuchtende, anderweitig seltene Pyramidenorchis (Anacamptis pyramidalis, Spitzorchis) in grosser Zahl, ein Hinweis auf unsere klimatisch begünstigte Region. Kein Fussballrasen kann schöner als eine kalkhaltige Magerwiese sein.
 
Bibersteiner Traktanden
Im Gartenrestaurant der berühmten Bibersteiner Bio-Badi ackerten wir aufgrund der Informationen von Vizeammann und BGB-Vizepräsident Markus Siegrist noch die Traktanden im Hinblick auf die Gemeindeversammlung vom 24. Juni 2008 durch.
 
Die Notwendigkeit einer Erhöhung des Stellenplans der Gemeindeverwaltung um eine 50%-Finanzverwalter-Stelle auf total 290 Stellenprozente wurde lustlos zur Kenntnis genommen; es geht um eine Trennung von Gemeindeschreiber und Finanzverwalter, auch wenn das die Abläufe eher komplizierter macht. Und wenn die Verwaltung der jetzt etwa 1350 Einwohner zählenden Gemeinde zu teuer wird, schaufelt sie ein bisschen an ihrem eigenen Grab, weil dann Rationalisierungsbestrebungen und Fusionsgelüste auftauchen. Immerhin wurde eingesehen, dass mit der Aufstockung die Stellvertreter-Regelung verbessert würde, falls es überhaupt gelingen sollte, einen halben Finanzverwalter aufzutreiben.
 
Eine Fusion zeichnet sich offenbar allmählich im Feuerwehrbereich mit Aarau oder Küttigen ab. Tagsüber sind in Biberstein zu wenig Leute zum Löschen vorhanden, und selbstverständlich kann die Feuerwehr nicht als reiner Feierabendsport betrieben werden. Zurzeit werden Zusammenarbeitsmöglichkeiten sondiert, wobei Markus Siegrist eher die Anbindung an Aarau sieht, weil Küttigen ähnliche Personalprobleme wie Biberstein hat und das Feuerwehrhaus Aarau ja schliesslich auf der richtigen (linksufrigen) Aareseite steht.
 
Bei diesem Punkt angekommen, übertönte aus der Ferne ein grosses Geschrei aus menschlichen Kehlen das intensive Gequake der am Bio-Badi-Rand versammelten Wasserfrösche. Wahrscheinlich hatten die Kuhn-Boys gerade ihr einsames Tor im Türkenviertel versenkt.
 
Schule total
Wir wussten nichts davon und dachten stattdessen über die Entwicklung des Schulwesens nach, über das Ruth Schlienger-Schnell, die Schulpflegepräsidentin und Gattin von BVB-Präsident Markus Schlienger, eingehend informierte. Ich staunte, zu was für einem unglaublich komplizierten Wesen die gute alte Schule verkommen ist. Sie bietet jetzt neben all der herkömmlichen Lehrtätigkeit auch eine Integrierte Heilpädagogik (IHP) für Kinder an, die schulisch eine etwas gemächlichere Gangart haben, zudem die Logopädie zur Behebung von Sprachfehlern und wenn immer das Schreiben Mühe macht, sodann die Tagesbetreuung im Interesse anderweitig beschäftigter Eltern, Spielgruppen für die ganz Kleinen, den Instrumentalunterricht, das Frühenglisch im Interesse der Globalisierungskompatibilität usf. Und da viele Angebote individuell vollzogen werden, reicht der vorhandene Schulraum nicht mehr aus, so dass auf dem Bibersteiner Schulareal für die Dauer von 3 Jahren 2 Container aufgestellt werden sollen, damit man nicht gleich an eine bauliche Schulhauserweiterung denken muss. Dafür werden 70 000 CHF verlangt. Und weitere 25 000 CHF sollen für die Abklärung des langfristigen Schulraumbedarfs hinausgeworfen werden, also für eine Studie mit zahlreichen Unbekannten.
 
Viele Entwicklungen sind schwer vorauszusehen, über die schwankende Gebärfreude hinaus. So hat der Aargau ein Schulreformvorhaben mit dem botanischen Namen „Bildungskleeblatt“ in petto, das beim BVB-Publikum auf keine grosse Begeisterung stiess, weil es die Schulbildung nach unten nivellieren und das Förder- und Betreuungsangebot weiter ausbauen würde. Und dann steht noch die HarmoS-Diskussion im Raum, ein zentralistischer Überbau über die kleinräumigen Strukturen im Rahmen des Drangs zur Einheitswelt. Vielleicht kann man einst wenigstens das Bildungskleeblatt in den ausrangierten Containern entsorgen.
*
Nach meiner persönlichen Einschätzung läuft das Schulwesen darauf hinaus, dass man die Kinder gleich nach der Geburt im Schulhaus abgeben und sie dann nach vollendeter Spiel- und Schulzeit dort wieder abholen kann. Die Verwechslungsgefahr nach so vielen Jahren könnte mit Gentests beseitigt werden … Ich nehme einmal mehr in Kauf, der Übertreibung bezichtigt zu werden. Es wäre ja zu schön, wenn sich solche Dramatisierungen als falsch erweisen sollten. Leider erweisen sie sich meistens als Untertreibungen.
 
Es ging gegen Mitternacht zu. Grillierte Bratwürste, Cervelats samt Haut und Salat waren verzehrt. Die Wasserfrösche hatten ihr Konzert beendet und Feierabend gemacht, genau wie unsere Fussball-Nationalmannschaft auch. Ein Handy-Anruf hatte uns über den Untergang der Schweizer Tschutter ins Bild gesetzt, obschon sie nach all den vorangegangenen Medienberichten unbesiegbar waren; während Monaten, die rückwärts gezählt wurden, hämmerten sie uns das ein, wie manch anderen Unsinn.
 
Jetzt war es zu spät, um auf Döner umzustellen.
 
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