BLOG vom: 19.06.2008
AG/LU: Das reformierte und das katholische Hallwilerseeufer
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Der Wanderwegabschnitt zwischen dem Restaurant/Hotel „Seerose“ in Meisterschwanden AG und Aesch LU am östlichen Hallwilersee-Ufer hält eine respektable Distanz von rund 500 m zum See ein, damit sich die Natur dort allein, also ungestört von menschlichen Einflüssen, erholen kann. Allerdings muss einschränkend gesagt werden, dass auf dem Gebiet der luzernischen Gemeinde Aesch ein grosser Teil des Seeufers durch Einfamilienhäuser mit ausladenden und eingehagten Grundstücken in Beschlag genommen worden ist. Im Aargau wurde die Bedeutung der Seelandschaft schon früher erkannt: Bereits 1935 erliess der Regierungsrat eine erste Schutzverordnung für dieses einzeitliche Erbe. (Ein Seitenarm des Reussgletschers stiess bei seiner grössten Ausdehnung bis Seon vor, und dabei wurde das Seetal ausgehobelt.)
1977 wurde die beruhigende Hallwilersee-Mulde ins Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler aufgenommen, und dieses betraf nicht nur den Aargauer Teilbereich, sondern auch den Kanton Luzern, in dem sich der südliche Teil des Sees befindet – 1/6 der Fläche. Auf einer Informationstafel in Aesch gibt das Luzerner Amt für Natur- und Landschaftsschutz unumwunden zu, dass „das Seetal in den letzten Jahrzehnten einen grossen Teil seiner natürlichen Vielfalt verloren hat“. Der Luzerner Teil des Sees und die angrenzenden Flächen (Gebiet Altmoos) wurden 1992 durch eine kantonale Verordnung geschützt – also erst zu einem sehr späten Zeitpunkt, als die Überbauung (Verhäuselung) schon weit fortgeschritten war. 1994 hat der Gemeindeverband Baldegger- und Hallwilersee zudem ein „Konzept zur Gesundung und Nutzung der Gewässer des Seetals“ genehmigt. Besser spät als nie.
Bei der Wanderung von Meisterschwanden nach Aesch springt der Übergang vom Aargau in den Kanton Luzern markant ins Auge. Auf dem Gebiet der Aargauer Gemeinde Meisterschwanden befindet sich ein Naturlehrpfad (Motto: „Der Natur auf der Spur“). Anschliessend führt der Wanderweg durch ödes Landwirtschaftsland mit Weizen, Mais, Runkeln an einem grossen Holzkreuz mit unleserlicher Inschrift auf dem Querbalken in ein auch baulich bis ans Seeufer dichter genutztes Gebiet zum Luzerner Dorf Aesch. Davon tritt zuerst einmal der 1908 anstelle eines Dachreiters erstellte Turm mit dem roten Zwiebelhelm der katholischen Kirche St. Luzia in Erscheinung. Dann folgen die erwähnten, zahlreichen eingehagten Privatgrundstücke. Am Dorfeingang führt der Weg an einem Munimastbetrieb mit Bergen von Siloballen vorbei. In den beiden Kantonen ist die Bewertung des Natur- und Landschaftsschutzes also offensichtlich höchst unterschiedlich.
Naturkunde-Unterricht
Wie ein intaktes Seeufer auszusehen hat, lehren eine Infotafel und der Anschauungsunterricht im Bereich des Naturlehrpfads, den Meisterschwanden eingerichtet hat: „Seen sind meist so tief, dass das Sonnenlicht an den tieferen Stellen nicht mehr bis auf den Grund reicht. Der Seeboden ist deshalb nur an den Rändern bewachsen. Ein intaktes Seeufer wird von einem breiten Röhrichtgürtel, einer angrenzenden Schwimmblattgesellschaft und Unterwasserflur umsäumt. Ein derartiges Ufer ist biologisch ausserordentlich vielfältig. Das offene Wasser wird von frei schwimmenden, mehrheitlich mikroskopisch kleinen Pflanzen, dem so genannten Phytoplankton, belegt. Es handelt sich hierbei vor allem um Grün-, Kiesel-, Joch- und Blaualgen, die sich hauptsächlich in den obersten, lichtdurchfluteten Wasserschichten aufhalten.“
Zu meiner Überraschung stellte ich bei meiner Exkursion vom 08.06.2008 fest, dass restlos alle Burgunderblutalgen wegen der Wassererwärmung abgetaucht waren; das Wasser war hell und klar. Und 2 ausgewachsene Ratten, denen wir am Weg begegneten, schienen nichts dagegen zu haben.
Im Gebiet zwischen Seerose und Aesch sind Schilfzonen üppig vertreten, die sich landeinwärts ausbreiten, bis in die leicht erhöhten Wiesen hinauf. Das Schilfröhricht, die Grossseggenriede und auch die Staudenflur (wo nicht gemäht wird) sind wichtige Lebensräume. Auch Fische (sogar Hechte) finden im Schilf Schutz, Nahrung und Laichplätze, und Vögel brüten in solchen Dickichten gern. Zudem sind solche Uferzonen Lebensräume für mindestens 20 teils schwer bedrohte Libellenarten, deren Larven sich im seichten Seewasser und in den angrenzenden Tümpeln entwickeln. Der Edelkrebs ist ein weiterer Vertreter der Fauna der Wirbellosen, die an naturnahen Ufern leben.
Auch Ufergehölze als Überreste des Auenwalds sind begehrte Biotope. Sie dienen dem Erosionsschutz. Hier trifft man Schwarzerle, Weidenarten, Zitterpappel, Traubenkirsche, Kreuzdorn, Faulbaum usf. Es handelt sich dabei um chronische Trinker, die sich auch von Grundwasserschwankungen nicht beeindrucken lassen. Seltene Arten werden durch Unterhaltsequipen oft gefördert, schnell wachsende Arten etwas im Zaume gehalten. Ast- und Steinhaufen werten den Lebensraum auf.
Auf einer gerodeten Fläche wird das Totholz (abgestorbene Äste, Stammteile und ganze Baumstämme) als besonders lebendiges Biotop gefördert. Dieses Holz, das früher von Industrieförstern gedankenlos verbrannt wurde („Waldputzeten“), wird von der Natur zu 100 % wiederverwertet. Käfer, Hautflügler (Bienen), Schmetterlinge, Wirbeltiere und auch Moose und Flechten ziehen reichlich Profit daraus, und auf den Wert des daraus entstehenden Humus’ muss wohl nicht weiter hingewiesen werden.
Bemerkenswert schienen mir auch die Informationen zum Thema Wassergräben, die es in diesem in einigermassen naturbelassener und kanalisierter Variation (als Abflussrinne) gibt. Oft wurden Wassergrabensysteme angelegt, um Feuchtgebiete landwirtschaftlich nutzbar zu machen. Die Gräben gleichen manchmal einem Bach, dann wieder einem Weiher, und die entsprechenden Lebensgemeinschaften treffen sich hier. Weil das Wasser nährstoffreich und sauerstoffarm ist, sind räuberische Fische selten, was den Kleintier-Reichtum begünstigt. Auch dienen solche Gräben dem Austausch von Pflanzen- und Tierarten, also der Vernetzung der Landschaft.
Das Naturverständnis hat sich in den letzten Jahrzehnten zweifellos entwickelt. Noch in den 1950er-Jahren und später wurden nach ingenieurtechnischen Gesichtspunkten zahllose Bach- und Flusskorrekturen veranstaltet; das an den Hochschulen vermittelte ökologische Wissen war ganz allgemein auf einem katastrophal tiefen Niveau, wie auch die Forstwirtschaft augenfällig werden liess. Ich habe das schon damals in verschiedenen Publikationen, z. B. über den ETH-Lehrwald, nachgewiesen.
Die Gewässer werden jetzt allmählich wieder renaturiert. Wo ein Erosionsschutz nötig ist, wird der Lebendverbau gewählt. Dadurch bleibt der Austausch zwischen Fliessgewässer und Grundwasser vorhanden, und es kann sich ein Ufergehölz entwickeln, das unter anderem auch das Landschaftsbild günstig beeinflusst. Die Fichtenmonokulturen werden allmählich zugunsten standortgerechter, vielfältigerer Wälder beseitigt, auch wenn das industrieförsterliche Plantagendenken noch nicht ganz überwunden ist.
Im Hafen von Aesch LU
So erhält der Wanderer viele Informationen und Impulse zum genaueren Beobachten und zum Nachdenken, bis er sich in Aesch dann eben vor allem mit den Rückseiten von Privathäusern und Garageneingängen abfinden muss. Wahrscheinlich um das Defizit hinsichtlich der Zugangsmöglichkeiten zum See auszugleichen, wurde bei der Schiffsanlegestelle Aesch ein ausladender Aufenthalts- und Spielplatz mit Kiosk und Spielgeräten angelegt.
Als wir gegen 18 Uhr dort ankamen, bauten sich im Norden dunkle Gewitterwolken auf, und wir waren froh, dass wir mit dem Schiff „Hallwil“ zwischen 18.05 und 18.28 Uhr zum „Delphin“ zurückfahren konnten (8.50 CHF pro Person). Wir erhielten noch die altehrwürdigen Kartonbilletts, wie sie in der vordigitalen Zeit auch bei den SBB üblich waren – Sammelobjekte. Die freundliche Matrosin, welche die Billetts in einem nostalgischen, unterteilten Kasten gestapelt hatte, sagte, diese seien heute nur noch schwer erhältlich; nur wenige Druckereien fertigen sie noch an.
Wir waren die beiden einzigen Passagiere und hatten also das gesamte Motorschiff mit Kapitän zur Verfügung. Inzwischen hatte sich das Gewitter verzogen; dieses Schauspiel auf hoher See war uns also nicht vergönnt. Die Sturmwarnlichter beruhigten sich. Der See war von hellem Silbergrau und schien sich am Ufer bei den Treibhäusern und Plastikabdachungen über landwirtschaftlichen Kulturen zu spiegeln. Und so erlebten wir die vorher abgeschrittene Uferlandschaft vom See nochmals aus Distanz.
Beim „Delphin“, unterhalb der grossen Schulanlage in Meisterschwanden, ist der Hafen der Hallwilerseeschifffahrtsgesellschaft. Dort war Endstation. Der (im reformierten Aargau gelegene) Hang wird zunehmend massiv überbaut – diesmal kein katholisches Phänomen ... Offensichtlich ist der Druck auf die Seeufer oft übermächtig, allen Schutzbemühungen zum Trotze.
Im Delphin gönnten wir uns je ein Körbli voll Frischknusperli (Felchen, Egli und Zander). Wir hatten das im Selbstbedienungsrestaurant bestellt und setzten uns auf die Terrasse. Nachdem wir 35 Minuten lang auf das Körbchen mit den Fischen und den Sonnenuntergang gewartet hatten, fragte ich noch die junge Serviererin, ob denn der Fischer inzwischen pensioniert worden sei. Irgendetwas war da schief gelaufen – und sie offerierte uns zur Versöhnung einen Espresso – „Isch das en Deal?“ fragte sie. Es war einer.
Zu den Fischen tranken wir einen trüben, vollmundigen Apfelwein vom Fass, der von der Firma Schlör AG in CH-5737 Menziken AG gekeltert worden ist – schön dass es diese regionale Firma noch gibt.
An der Schiffsanlegestelle kam die „Fortuna“ an, wie aus der griechischen Mythologie aufgetaucht. Wie mochte diese an sich wankelmütige Göttin aufgelegt sein? Das Glück war an diesem sommerlichen Abend auf unserer Seeseite.
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