Textatelier
BLOG vom: 30.07.2008

Unterwegs in Tschechien (I): Auf den Spuren der Vorfahren

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
Als Wanderfreund Toni erfuhr, dass Walter und ich im Sudetenland (Nordmähren im heutigen Tschechien) geboren wurden, schlug er vor, doch einmal dorthin zu fahren, um unsere Geburtsorte kennenzulernen und im Altvatergebirge zu wandern. Anfangs war ich doch etwas skeptisch, hatte ich doch von den Tschechen nicht allzu Gutes gehört. Aber bald darauf dachte ich mir: Warum sollten wir nicht hinfahren, um uns ein Bild von der gegenwärtigen Situation der dortigen Bewohner und EU-Mitglieder zu machen? Toni war bereit, uns 1000 km mit seinem Auto ans Reiseziel zu bringen. Am 12.07.2008 war es so weit: Wir fuhren zu Viert ‒ mit von der Partie war noch Jürgen, der auch zu unserer Wandergruppe gehört – in das für uns unbekannte Land. Nur Walter war schon einmal in seiner ehemaligen Heimat gewesen.
 
Bevor ich jedoch „in die Vollen“ gehe und von ungewöhnlichen Begebenheiten in mehreren Blogs berichte, werde ich kurz aufzeigen, wie es 1946 zur Vertreibung gekommen war.
 
Die Deutschen müssen verschwinden
Schon 1918/19 war von der tschechischen Regierung geplant, die Sudetendeutschen aus dem Land zu weisen. Der Staatspräsident Edvard Beneš (deutsch: Eduard Benesch) bekannte in einer am 03.06.1945 gehaltenen Rede freimütig: „Alle Deutschen müssen verschwinden. Was wir 1919 schon durchführen wollten, erledigen wir jetzt.“
 
Der in London im Exil lebende Staatspräsident Beneš (1884‒1948) sicherte sich bereits 1943 von der britischen, amerikanischen und russischen Regierung die Zustimmung für seine Vertreibungspläne. Er sagte in einer Rundfunkansprache am 27.10.1943 dies: „In unserem Land wird das Ende dieses Krieges mit Blut geschrieben werden. Den Deutschen wird mitleidlos und vervielfacht all das heimgezahlt werden, was sie in unseren Ländern seit 1938 begangen haben. Die ganze Nation wird sich an diesem Kampf beteiligen.“
 
Im Mai 1945 wurden per Dekret alle Personen deutscher und magyarischer (ungarischer) Volkszugehörigkeit entschädigungslos enteignet. Es begannen die „wilden Austreibungen“. Die Deutschen wurden aus den Wohnungen geholt und in Viehwaggons Richtung Westen transportiert. Von den 2,5 Millionen Sudetendeutschen sollten 1,75 Millionen in die amerikanische Besatzungszone und 0,75 Millionen in die russische Zone abgeschoben werden dürfen. Das geschah denn auch. Verschiedene Quellen sprechen von bis zu 3 Millionen Sudetendeutschen, die vertrieben wurden. 200 000 wurden nicht ausgewiesen. Es waren Angehörige von Mischehen, in denen ein Elternteil die deutsche, der andere die tschechische Volkszugehörigkeit hatte. Dies kam mir zugute, als ich die Adresse eines „deutschen“ Bewohners meines Geburtsortes erhielt, der mich dann durchs Dorf führte. Darüber berichte ich später.
 
Die Tschechen und auch die Russen rächten sich an den Deutschen, die ja auch nicht gerade human mit den damaligen Bewohnern umgingen. Nach dem Attentat auf den Reichsprotektor Reinhard Heydrich am 26.05.1942 in Prag wurde zur Vergeltung das tschechische Dorf Lidice bei Prag zerstört und die männliche Bevölkerung ab 15 Jahren ermordet (http://de.wikipedia.org/wiki/Lidice). Kurz vor Kriegsende verübten SS-Einheiten einige Gräueltaten.
 
Bericht von meiner Mutter
In den 70er-Jahren wurde ich von Josef Walter König gebeten, doch einmal meine Mutter zu interviewen, was sie bei der Vertreibung erlebt hat. Er publizierte später den Bericht und weitere Episoden im Buch „Die Heimatvertriebenen des Landkreises Donau-Ries“.
 
Josef Walter König (1923‒2007) war Redakteur und Literaturhistoriker. Er wurde in Hotzenplotz (Osoblaha) geboren und besuchte die Schule in Brünn und legte in Freudenthal das Abitur ab, um danach in Prag Germanistik, Zeitungswissenschaft und Philosophie zu studieren. Er war Herausgeber des „Altvater-Jahrbuches“, verfasste etliche Heimatbücher und setzte mit seinem Buch „Ascona – Ruf und Echo“ ein liebenswertes Denkmal. Er beschrieb in seinem Werk „Des Lebens Buntheit“, wie einst Deutsche und Tschechen in seiner nordmährischen Heimat gemeinsame Wege gingen. Er war übrigens in den 50er-Jahren mein Klassenlehrer an der Mittelschule Hl. Kreuz in Donauwörth. Er unterrichtete uns in Deutsch und Geschichte.
 
Hier der Bericht meiner Mutter (verfasst von mir): „Kurz vor Kriegsende hiess es, der Einmarsch der sowjetischen Armee stehe bevor, und wir sollten uns in Sicherheit bringen. Die meisten Bewohner von Zossen (meinem Geburtsort) wurden 70 km westwärts auf Bauernhöfen untergebracht. Viele Besitzer dieser Höfe waren schon geflüchtet. Nach einigen Wochen kam der Befehl zur Rückkehr.
 
Ich setzte meine einjährige Tochter (meine Schwester Ursula) in den Kinderwagen, nahm meinen dreijährigen Sohn (das war ich) an die Hand und marschierte mit den anderen die 70 km zurück. Etwa auf halbem Weg tauchten die ersten russischen Tiefflieger auf. Sie schossen über unsere Köpfe hinweg; mehrmals gingen wir in Deckung. Auch brausten die ersten Panzer und Mannschaftswagen an uns vorbei. Es war ein ohrenbetäubender Lärm. Geschütze ballerten, Motoren heulten, und die Russen stimmten ein Siegesgeheul an. Die Gesichter der Marschierenden wurden durch die russhaltigen Auspuffgase der Panzer regelrecht geschwärzt. Grosses Aufatmen, als alle wieder heil das Dorf erreichten.
 
Bald kamen immer mehr Russen in unser Dorf. Wir hatten höllische Angst – hörten wir doch von Vergewaltigungen und Plünderungen. Aus diesem Grunde wurde folgende Parole ausgegeben: ,Sobald ein russischer Konvoi auftaucht, alle Frauen und Kinder am Strassenrand aufstellen!’ Diese Massnahme sollte die Soldaten freundlicher stimmen.
 
Als ich eines Tages einem Konvoi nachschaute, wurde ich von hinten am Arm gepackt. Ich drehte mich um und erschrak fürchterlich, als ich einen pockennarbigen Russen erblickte. Ich dachte schon, er wolle mich abführen. Als er ,Uhr, Uhr!’ schrie, war ich erleichtert. Da er mir keine Uhr abnehmen konnte, wandte er sich anderen Frauen zu.
 
Die russischen Soldaten inspizierten Häuser, durchwühlten Schränke, Kommoden und Betten. Sie nahmen Stiefel, Anzüge, Uhren und Wertgegenstände aller Art mit. Bei einer Nachbarin zerschlitzten sie die Federbetten, wirbelten die Federn im ganzen Raum herum, fegten Bücher von den Regalen und warfen Teller und Tassen an die Wände. Überall, wo sie auftauchten, hinterliessen sie ein Tohuwabohu.
 
Ein Erlebnis bleibt mir unvergessen. Eines Abends stürzten plötzlich 2 Soldaten ins Zimmer und warfen ihre Gewehre auf die Betten, in denen meine Kinder schliefen. Mir blieb fast das Herz stehen. Ich war der Meinung, die Soldaten würden meine Kinder umbringen. Zum Glück war der eine Soldat ein Kinderfreund, und er erzählte von seinen Kindern. Der andere durchwühlte unterdessen den Kleiderschrank und riss einige Anzüge heraus. Ich war sehr erleichtert, als sie bald darauf abzogen.
 
Es war für mich ein grosses Glück, dass ich eine sehr couragierte Tante (es war die Tante Anna) hatte. Sie trat den Russen mutig entgegen und überzeugte sie, dass bei ihr nichts zu holen sei. Nach den ersten negativen Erlebnissen mit Russen ging ich mit den Kindern oft zu ihr. Auch etliche junge Frauen und Mädchen aus der Nachbarschaft suchten bei ihr Schutz.
 
Sobald die Russen an die Tür schlugen, sprangen wir aus dem Fenster zum Hinterhof und suchten im Garten unsere Verstecke auf. Meine Tante hatte dann die Aufgabe, die Russen möglichst geschickt abzuwimmeln. So blieben wir unbehelligt. Andere kamen nicht so glimpflich davon. Einige Frauen wurden geschlagen und vergewaltigt.
 
Im August 1946 stand die Aussiedlung bevor. Jede Familie durfte Handgepäck, Kleider, die sie am Leibe trugen, und 50 kg Gepäck mitnehmen. Ich packte meine Holzkiste voll, zog meinem Sohn – trotz des hochsommerlichen Wetters – einen Wintermantel an und setzte meine Tochter in den Kinderwagen. Wir wurden zunächst in das Freudenthaler Sammellager gebracht. Dort spielten sich bewegende Szenen ab. Als am Abend vor der Abreise Lehrer Schaffner das wunderschöne Lied ,Heimat, deine Sterne’ sang, hatte jeder Tränen in den Augen.
 
Am nächsten Tag ging es per Viehwaggon Richtung Westen. In Prag mussten alle den Zug verlassen und die Latrinen aufsuchen. Ich hörte, dass schon Menschen in die Latrinen gefallen seien, deshalb wurde jeder zur Vorsicht gemahnt. Nach dem Essenfassen – es gab eine dünne Erbsensuppe – fuhren wir weiter über Karlsbad nach Bayern, von dort ins Sammellager Friedland. Nach der üblichen ,Entlausung’ wurden wir in ein Lager nach Augsburg und später nach Monheim gebracht. Das Lager in Monheim befand sich in der Nähe des Sägewerkes am Waldrand.
 
Nach 8 Tagen wurden die Insassen per Lieferwagen in die umliegenden Ortschaften transportiert. Bekannte von mir kamen nach Sulzdorf, Daiting, Fünfstetten, Wemding, Baierfeld, Harburg und Buchdorf. Ich kam mit meinen Kindern nach Buchdorf. Da kein Wohnraum zur Verfügung stand, mussten wir eine Woche in der Schule verbringen. Danach bekamen wir ein winziges Zimmer ohne Ofen zugeteilt. Den drauffolgenden Winter verbrachten wir in einem eiskalten Zimmer. Wir wärmten uns im Bett oder sassen dick eingehüllt in Decken vor einer brennenden Kerze.
 
1947, im Frühjahr, erhielten wir im Gemeindehaus – damals ,Armenhaus’ genannt – ein grösseres Zimmer. Jede Familie bekam einen Herd, einige Möbel und einen Ster Holz. Ein grosses Problem war die Ernährung. Wir hatten zwar einige Lebensmittelmarken, aber dafür bekamen wir nur winzige Portionen Mehl, Milch, Brot, Butter und Kartoffeln. Da wir hungerten, blieb mir nichts anderes übrig, als Nahrungsmittel zu beschaffen. Ich sammelte auf den abgeernteten Feldern Ähren und Kartoffeln ein, klaubte Fallobst zusammen und holte Beeren aus dem Wald. Aus Zuckerrübenschnitzeln bereitete ich Sirup.
 
Da wir anfangs fast überall auf Misstrauen und Ablehnung stiessen, war es nicht verwunderlich, dass unsere Bettelaktionen wenig einbrachten. So ging ich eines Tages mit einer Freundin von Bauernhof zu Bauernhof. Die Ausbeute war mager; wir erhielten nur ein einziges Ei. Später legte sich das Misstrauen etwas, und wir erhielten öfters Nahrungsmittel von den Einheimischen.
 
1949 lernte ich meinen späteren 2. Mann kennen (der erste kehrte aus dem Krieg nicht mehr zurück). Er stammte ebenfalls aus dem Sudetenland. Als Kaufmann tauschte er oft Waren gegen Essbares ein, so dass wir endlich wieder gefüllte Teller hatten. Das Hungern hatte ein Ende, und ich gewöhnte mich, wenn auch nur sehr langsam, an das neue Zuhause.“
 
So weit der Bericht meiner Mutter.
 
Erfolgreiche Integration
Zum Glück erfolgte die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Deutschland innerhalb weniger Jahre. Die „Fremden“ brachten Kenntnisse und Fähigkeiten mit, welche besonders die agrarisch strukturierten Länder bereicherten. Dies war beispielsweise in Bayern der Fall. Dort wurde ein Zuwachs der Bevölkerung um fast 25 % registriert. In Bayern wurden sogar eigene Neuansiedlungen geschaffen. In Kaufbeuren-Neugablonz entwickelte sich eine Schmuckindustrie und in Waldkraiburg und Traunreut die Glasveredelung. Die Aufbauarbeit der Vertriebenen trug wesentlich zum „Wirtschaftswunder“ bei.
 
Es ist leider immer so: Wenn Kriege geführt werden, müssen Unschuldige dafür büssen, was die Oberen angeordnet und verbrochen haben. Das ist auch in der heutigen Kriegsführung so.
 
Ich habe mich immer gefragt, warum eine Autonomie nach dem Vorbild Südtirol nicht im Sudetenland möglich war? Dann hätte man auf eine Vertreibung verzichten können. Trotz des Verlusts der Heimat konnten sich die Vertriebenen in ihrer neuen Umgebung etablieren und auch Grossartiges leisten. So bin ich mir heute sicher, dass ich in meinem Geburtsort nicht die Ausbildung bekommen hätte, wie dies im Westen geschah. Vielleicht wäre ich Handwerker oder Landwirt geworden. Alle die grossartigen Menschen in meinem Bekanntenkreis hätte ich nie kennen gelernt. Und kein einziges Blog wäre ans Textatelier.com gesandt worden.
 
Eine Tante von Wanderfreund Walter, die Gelder für eine Kirchenrenovierung in ihrer alten Heimat sammelte, machte eines Tages diese Bemerkung: „Wir sollten trotz allem, was uns angetan wurde, uns versöhnlich geben, da wir Deutschen uns nicht immer fein gegenüber den Tschechen benommen haben.“ Das sehe ich genauso.
 
Fortsetzung folgt.
 
Internet
http://de.wikipedia.org/wiki/Sudetenland (Infos über Abgrenzungen, Geschichte usw.)
http://de.wikipedia.org/wiki/Sudetendeutsche (Infos über die Sudetendeutschen)
 
Schrift
„Bundestreffen 50jähriges Patenschaftsjubiläum“ (15. und 16. Juli 2006, Stadt Memmingen und Kreis Freudenthal).
 
Hinweis auf ein weiteres Blog über Tschechien
09.03.2007: Entriegelung des Städtchens Olomouc in Tschechien
Hinweis auf weitere Blogs von Faber Elisabeth
Gebänderte Prachtlibelle
Neuntöter – ein Spießer unter den Vögeln
Schwarzblauer Ölkäfer oder Maiwurm
Marienkäfer als Mittel gegen Läuse
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