Textatelier
BLOG vom: 30.07.2008

Selbstbestimmung und der Zwang zu therapeutischem Glück

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Ein Unfall auf der Unterbergstrasse vor unserem Haus in Biberstein. Nicht der Rede wert.
 
Nicht der Rede wert?
 
Ich hatte gerade einige Klaräpfel geerntet, nachdem sich der Morgentau verzogen hatte. Dann sind sie am gehaltvollsten. Ich schrieb anschliessend bei geöffneten Schiebetüren im Wintergarten. Unten auf der Unternbergstrasse, die von meinem Arbeitsplatz aus nicht einsehbar ist, hörte ich ein Geräusch, als ob jemand Eisenstangen hingeworfen hätte, nichts Besonderes. Vielleicht wurde etwas ausgeladen. Ich sah einen aufgeregten Mann beim unteren Nachbarhaus herumstürmen. „Ist denn niemand hier?!“, rief er. „Ist etwas passiert?“, meldete ich mich. „Läuten Sie sofort 114 (Ambulanz) oder 117 (Notruf) an!“
 
Ich wollte keine Zeit verlieren und kam bei 117 sofort durch. Ich sagte der freundlichen Dame, es sei etwas passiert, sie solle bitte eine Ambulanz organisieren und beschrieb den Ort („Strasse nach Auenstein nach dem Bibersteiner Dorfzentrum“). So, das hatten wir. Ich raste im Laufschritt durch den Nachbargarten, erschreckte das im Schatten liegende Kätzchen und traf am Strassenrand ein jämmerliches Bild an. Eine vielleicht 50-jährige Frau sass in einem Pflanzen-Halbtrog und wurde von einer netten Frau liebevoll im stark geröteten Gesicht gewaschen. In unmittelbarer Nähe, auf der südlichen Strassenseite, ist ein Brunnen mit bestem Bibersteiner Wasser. 2 Velos lagen auf dem Trottoir. Auf dem Asphalt war ein grosser Blutfleck, von dem aus Blutspritzer zum Gehweg führten. Die verunfallte Frau tat mir Leid.
 
„Die Ambulanz kommt sofort“, sagte ich, um die Lage zu beruhigen, und wenige Minuten darauf war das Zweiklanghorn zu hören. „Ich will nicht ins Spital! Ich will nicht ins Spital!“ rief die Frau mit dem blutüberströmten Gesicht verzweifelt, wollte aufstehen, es gehe ihr gut. Ich hatte Verständnis für sie. Wer will denn schon ins Spital? Ich hätte genauso reagiert.
 
Und ausgerechnet ich hatte die Ambulanz aufgeboten. War das voreilig gewesen? Eine hilfsbereite Nachbarin mit einer Berufsausbildung in Unfallbehandlung, Susi Heiz, hatte sich eingefunden und stellte fest, die Frau habe wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung, und es dränge sich unzweifelhaft auf, sie in die Notfallstation des Spitals zu bringen. Ich versuchte, der Patientin gut zuzureden, bin aber nicht sicher, ob sie mich wahrnahm. Ihre Bekannte unterstützte mich dabei mit heftigem Kopfnicken.
 
Die Ambulanz kam, nahm sich der verletzten Frau an, fragte sie nach dem Wochentag … ich hätte gerade auch Mühe gehabt, die richtige Antwort zu geben: Dienstag, 29. Juli 2008. Ich wurde von einem Sanitäter angewiesen, den Verkehr etwas zu lenken, was ich mit Tempo-dämpfenden Armbewegungen erfolgreich tat, wenn einmal ein Auto kam.
 
Ich erfuhr noch, dass die beiden Frauen aus Deutschland eine grössere Velotour in der Schweiz unternommen hatten und, von Andermatt UR am Gotthard, auf dem Heimweg in ihre Heimat waren – in Etappen. Das war schon eine stolze Leistung. Schutzhelme hatten sie zwar dabei, sie aber bei dieser Hitze auf dem Gepäckträger montiert. Auch dafür hatte ich Verständnis, obschon sich das als verhängnisvoll erweisen sollte. Es war schwül. Aus unerklärlichem Grunde war eine der Radfahrerinnen mitten auf der zweispurigen Strasse plötzlich umgefallen, vielleicht waren ein Wassermangel, ein Hitzschlag oder eine Blutleere im Kopf die Ursache.
 
Dann fuhr die Ambulanz mit den beiden Frauen weg. Ich hoffe, dass keine bleibenden Schäden zurückbleiben und wünsche aufrichtig gute Besserung. Bald kamen 2 junge Aargauer Polizistinnen, welche die Velos und die Unfallstelle fotografierten. Ein Velo hatte einen stark abgeschliffenen Handgriff, das andere, Marke „Villiger“, war unversehrt. So war das Unfallvelo einwandfrei auszumachen.
 
Eine der Polizistinnen fragte nach meinem Namen, meiner Adresse, meiner Telefonnummer und meinem Geburtsdatum. Ich bestand diesen Test glänzend. Nur mit einer Konfession hätte ich nicht dienen können – aber so weit ging die Einvernahme nicht. Die Velos wurden von der Nachbarin in vorläufige Obhut genommen. Der Fall war gelöst. Jedenfalls für uns.
 
Alles war vorbei. Ich setzte mich wieder an den Computer. Doch das Erlebnis liess mir keine Ruhe. Ich dachte nach, auch über mein eigenes Verhalten. Hatte ich alles richtig gemacht? Habe nicht auch ich das diktatorisch bestimmende Helfersyndrom praktiziert, mich über den dringenden, klaren Wunsch der Verunfallten, nicht ins Spital zu müssen, hinweggesetzt? Natürlich möchte man das Beste für ein Unfallopfer tun. Vielleicht hätte die Frau bei unterbliebener oder unfachgemässer Behandlung ein entstelltes Gesicht davongetragen; denn offenbar ist sie mit der rechten Gesichtshälfte brutal auf dem Asphalt aufgeschlagen. Sie konnte sich an überhaupt nichts erinnern. Unter solchen Umständen muss man – im Interesse einer Person – einen sanften Druck ausüben, sie sozusagen zum therapeutischen Glück zwingen.
 
Es wurde mir schmerzlich bewusst, wie schnell es mit der Selbstbestimmung vorbei sein kann. Blut. Verdacht auf eine Gehirnerschütterung. Schock. Dann wird verfügt – und wahrscheinlich muss verfügt werden von jenen, die zur Hilfe moralisch verpflichtet sind und noch einen einigermassen klaren Kopf haben.
 
Genau so geht es auch alten Menschen mit nachlassendem Gedächtnis, mit nachlassender Entscheidungskraft. Die Verantwortung wird von anderen übernommen, ob sie wollen oder nicht.
 
Ich wurde ebenfalls in dieses allgemeinübliche Spiel eingebunden, habe mitgemacht, weil mir das Wohl der deutschen Velofahrerin am Herzen lag. Ich mache mir keine Vorwürfe, ich müsste ja unter gleichen Bedingungen wieder so handeln. Aber ich weiss jetzt umso deutlicher, dass „Selbstbestimmung“ im Ernstfall ein Begriff mit vagem Gehalt ist.
 
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