BLOG vom: 13.08.2008
Irland-Impressionen 1: Das kontaktfreudige Volk der Hünen
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Auch ich neige dazu, bei Reisen aufgrund von einzelnen Begegnungen und Gesprächen auf einen ganzen Volkscharakter zu schliessen, obschon solch ein Vorgehen keinen repräsentativen Charakter hat. Erhält man immer wieder den gleichen Eindruck, verdichtet sich die Vermutung zu Gewissheit: In diesem Land sind die Leute so. Den Individualismus übersieht man gern. Genau das ist mir bei meinem Kurzaufenthalt in Irland zwischen dem 07. und 10. August 2008 wieder passiert; letztmals hatte ich die „grüne Insel“ 1991 mit einem Mietwagen während 2 Wochen erkundet und umrundet, selbst Nordirland, das damals noch unruhig gewesen war.
Diesmal waren Eva und ich zur feudalen Hochzeitsfeier von Claudia, der Tochter meines Bruders Rolf, geladen, und so konnten wir unsere früheren Irland-Erlebnisse um neue Dimensionen erweitern. Und alle meine Wahrnehmungen mit Bezug auf die einzeln oder gruppenweise auftretenden Iren liessen denselben Schluss zu: Das sind wirklich liebenswürdige, zugängliche, lustige Menschen mit schrulligen Traditionen. Die Eingeborenen sind häufig ausserordentlich gross gewachsen, richtige Hünen. Und um das Klischee zu vollenden: Viele sind rothaarig, was mir vor allem bei Frauen gut gefällt, besonders wenn noch Sommersprossen hinzukommen. Ob sie gewisse genetische Merkmale des Neandertalers (Homo neanderthalensis) in sich tragen, der als europäischer Ureinwohner gilt, ist umstritten, falls er nicht doch vor rund 30 000 Jahren vollkommen spurlos verschwunden ist. Aber wenn er tatsächlich rund 10 000 Jahre lang neben dem modernen, eher wenig über die Anthropologie wissenden modernen Menschen, dem Homo sapiens sapiens, gelebt haben sollte, wäre das eigentlich nur logisch.
Einzelne Forscher wollen wissen, dass die in verschiedenen Dingen talentierten, oft rothaarigen Neandertaler eine Körperbemalung verwendeten, und das würde dann die Freude der Iren an Tätowierungen (wir haben in Dublin eine Rückentätowierung mitverfolgen können – der junge Mann verbiss seinen Schmerz), sodann an festlichen Kleidern, farbigen Hüten und dergleichen erklären. Eine Chauffeuse, die ein schiffartiges Gefährt lenkte, wie sie für touristische Stadtrundfahrten verwendet werden, trug einen Wikinger-Helm mit 2 Hörnern; solche werden bei uns in der Schweiz kaum noch den Kühen zugestanden. Unter dem Helm wehte ein blonder Haarschopf im Fahrtwind.
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Wie in England, so wird auch in Irland der Dress code auf der Einladung zu bedeutenden Feierlichkeiten vermerkt. Zum Glück hatte ich die auf Büttenpapier gestanzte Einladung zur Hochzeitsfeier von Claudia und Louis rechts unten genau genug gelesen: „Morning Suit.“ Da ein solcher Festanzug in meinem Kleiderarsenal mit dem besten Willen nicht aufzutreiben ist, liess ich mit Hilfe meines Bruders einen solchen bei Blacktie in Dublin für mich mieten (zirka 100 Euro), was ihn an den Rand der Verzweiflung brachte – und zwar nicht etwa aus finanziellen Gründen. Denn das bedurfte einiger anspruchsvoller E-Mailereien, zumal ich Masse wie Brustumfang (=chest = Kiste), Hüftumfang (= Waist), Hosenbeinlänge innen (Inside leg) und dergleichen mitteilen musste. Dabei erfuhren wir, dass man ausserhalb der Schweiz den Hüftumfang dort misst, wo der Gürtel ist, der bei mir eher unterschiedliche Höhenlagen einnimmt; gewisse Eigenschaften von Ebbe und Flut scheinen mir im Bauchbereich unumgänglich zu sein. Ein Äquivalent für das Wort „Bund“ gibt es im englischen Kleiderwesen angeblich nicht. Somit wäre ein elastischer Gummianzug schon der Idealfall gewesen.
Und dann sollte, wie ich ebenfalls erfuhr, auch der Unterleib der Hose nicht zu lang sein, und ferner mussten die Zentimetermasse noch auf Inches umgerechnet werden. Solche Kleiderfragen versetzen mich in fürchterliche Stresslagen, nicht nur aus mathematischen Gründen, sondern weil mir die entsprechende Kompetenz fehlt und mich die Bekleidung ohnehin noch nie besonders interessiert hat. Meine Mutter war Damenschneiderin und hat solche Angelegenheiten für mich erledigt; die Massanzüge wurden mir sozusagen ins Kinderbett gelegt. Und anschliessend begann meine Frau zu bestimmen, was ich in allen Lebenslagen anzuziehen habe. Aber diesmal übernahm eine noch höhere Macht das Zepter.
Der mit einem langen Reissverschluss versehene Kleiderbeutel war bei unserer Ankunft im Hotel „Ritz-Carlton Powerscourt Estate“ in Enniskerry (Co Wicklow) bereit, alles gepflegt verpackt. Ich hatte grösste Bedenken, was die Passform anbelangte, zumal sich seit meinem Mietauftrag mein Bauchumfang etwas verringert hat, da wegen anderweitiger Mehrfachbelastungen das Geniessen kulinarischer Freuden etwas in den Hintergrund treten musste, die Schlafdauer wesentlich verkürzt und der Kalorienverbrauch entsprechend erhöht waren. Ich verzichtete auf eine Anprobe, da ohnehin nichts mehr geändert werden konnte und mir die Probiererei von Kleidern seit meiner Kindheit zum Halse heraushängt, weshalb ich ja auch nicht als Schaufensterpuppe mein Vollkornbrot verdiene. Ich bitte um Verständnis.
Eine knappe halbe Stunde vor der Abfahrt zur Hochzeitsfeier, als gerade die Peking-Olympiade eröffnet wurde, war das Umziehen nicht mehr zu umgehen. Die Stunde der Wahrheit. Tatsächlich waren jetzt die gestreiften Hosen deutlich zu weit und meine Beine ein wenig zu kurz. Eine Parallele zur überdimensionierten Hotelsuite. Die zu langen Ärmel des schwarzen Fracks (Jacket), den wir wegen der beiden Flügel im Heck „Schwalbenschwanz“ nannten, konnte ich durch Umlitzen (nach innen) in die gewünschte Länge verkürzen. Das graue Gilet sass wunderbar (war aber unter dem Frack kaum zu sehen), und das Gleiche, was den Sitz anbelangt, ist in Bezug auf die silbergraue Krawatte zu sagen; wenigstens hier war die Welt in Ordnung. Eine Fliege gehört nicht dazu, und mein Bedarf am Fliegen war ohnehin gedeckt.
„Wir hätten unbedingt Hosenträger mitnehmen sollen“, entfuhr es Eva bei meinem Anblick, die in ihrem seidenen, mit botanischen Ornamenten bestickten, beigefarbenen Armanikleid, das ihr einmal ihre Tochter Anita geschenkt hatte, weit besser als ich dran war. Ich stimmte der Hosenträgeridee begeistert zu, nur brachte uns diese auch nicht weiter. So leistungsfähig das 5-Sterne-Ritz-Hotel auch war, Hosenträger waren nicht im Angebot. Eva fügte noch einen Vergleich zu einem Pinguin an, „einem alten", wie sie murmelte, um gleich zum anderen Extrem zu finden: „Die heutigen Jungen haben ja den Hosenboden auch meist in den Knieen unten", ermunterte sie mich zusätzlich. So beschloss ich, beim Festmahl tüchtig zuzuschlagen, um dem Bauchumfang Auftrieb zu verleihen, damit die Spannung zu vergrössern und die Hosen-Rutschgefahr zu verringern. Was denn auch nicht schwer fiel, denn noch selten habe ich ein derart schmackhaftes, dezent mariniertes Lammfleisch gegessen. Und der Schokoladeguss auf der Dessertkugel aus einem durchtränkten Gebäck war mit einem Hauch Blattgold dekoriert. (Was vom Metalldetektor des Flughafens Dublin bei der Ausreise nicht wahrgenommen wurde.)
Ich fühlte mich in meinem Stresemann etwas wie Charlie Chaplin, der gelegentlich auch etwas aus den Kleidern fiel, und ich hoffe, dass ich durch diese Aufmachung wenigstens eine entsprechende gute Laune verbreitet habe. Erst spät, als sich das gelungene Fest bei Tanzmusik dem Ende näherte, erfuhr ich, dass es eine Möglichkeit gegeben hätte, die Hose auf der Innenseite etwas enger zu schnallen, einem Sicherheitsgurt ähnlich.
Den in dieser Lage nötigen Trost hatte ich im Gedanken an den irischen Schriftsteller James Joyce gefunden: „Der Gesellschaftsordnung kann ich mich nicht einordnen – ausser als Vagabund.“ Seine Lebenswanderung (1882 in Dublin geboren und 1941 in Zürich gestorben) kam ihm grotesk, ja als „absurde Narrenexistenz“ (1921) vor. Er entzog sich der Welt durch eine Flucht in eine randständige Position, allerdings nur ein begrenztes Stück weit.
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Hätte man sich dieser Hochzeit entzogen, wäre das fürwahr ein grosser Fehler gewesen. Die Stimmung war locker, unkonventionell und unkompliziert, genau so, wie es mir ausgezeichnet gefällt. Sie war es bereits bei der Hochzeitsfeier in der Sankt-Patrick-Kirche in Kilquade in der Grafschaft Wicklow gewesen, neben der einige keltische Kreuze Schlagseite hatten. Und auf hohen Stangen flatterten eine Schweizer- und eine Hongkong-Fahne. Das verschachtelte Kirchlein mit Satteldach, kleinen Seitenschiffen und gotischen Fenstern sowie einem Dachreiter mit Glocke und Kreuz über der Fassade eines Nebengebäudes, um das sich der Denkmalschutz wohl kaum reisst, ist immerhin landestypisch. Und eben deshalb sprach es mich an.
Das etwa hundertköpfige Publikum versammelte sich erwartungsfroh in den Bankreihen. Der hünenhafte Bräutigam Louis mit seinem dunklen, lockigen Haar und quicklebendigen Augen, ein Ire mit erfrischend naturburschenhaftem Wesen, der alle guten Eigenschaften des Landes zu vereinigen schien, sass nahe beim Altar; neben ihm war noch ein Stuhl frei. Noch nicht eingetroffen waren neben dem Brautvater und der ausgesprochen hübschen Braut Claudia, ihrem dichten schwarzen Haar und dem langen weissen Kleid auch die speziell gedruckten Broschüren mit den Texten, wie sie an der Feier nachzubeten oder gesanglich wiederzugeben waren.
Um die Wartezeit abzukürzen, wartete Louis mit einigen situationskomischen Spässen auf, nach dem er seine Schwalbenschwanzflügel endlich neben der Stuhlsitzfläche in Position gebracht, so dass sie nicht zerknitterten, und die langen Socken bis knapp auf Kniehöhe hinaufgezogen hatte. Eine leichte Nervosität war nur daran zu verspüren, dass er manchmal mit den Schuhen auf dem Boden trommelte. Zwillingskinder, die gerade in der Phase der Welterkundung waren, tollten im Altarbereich umher, und ihr Vater versuchte, sie gelegentlich wieder einzufangen, wonach ihnen gleich wieder neue Ausbruchsversuche gelangen.
Der katholische Pfarrer, Cormac O’Brolchain, als Moderator mit Mikrofon, dessen Talent zu Stimmenimitationen bei seinen Schilderungen von Lebensszenen bei der Predigt schön zur Geltung gebracht wurde, liess sich von der heiteren Stimmung anstecken. In der Kirche wurde viel gelacht und gar geklatscht, so dass ich gelegentlich Angst hatte, die Andeutungen von ionischen Kapitelle, die oben im Kirchenraum wie angeklebt waren, könnten sich aus der Verankerung lösen und herunterfallen. Doch mahnte hinter dem Altar eine Miniaturausgabe des Rundtempels des Donato d’Angelo Bramante in Montorio in Rom, eine Art Modell für einen Gartenpavillon, unter dem Gemälde der obligaten INRI-Kreuzigungsszene wieder zur inneren Einkehr. Man lernt daraus, dass auch Irland der Christianisierung zum Opfer gefallen ist.
Endlich war alles komplett. Wagners „Brautmarsch“ erklang, Kerzen wurden angezündet. Die Feier war minutiös vorbereitet worden, und man konnte den schriftlichen Text gut gebrauchen, so beim Bussritual (Penitential Rite: „Lord, have mercy“ [Herr, hab’ Erbarmen]), bei der Wortliturgie, einem Gospel-Gesang und dem Heiratsritual („We will“) als zentralem Ereignis bis zum Eheringe-Austausch und der Hochzeitsmesse (Nuptial mass). Der Pfarrer stärkte sich mit einem Schluck Wein aus dem silbernen Kelch, bevor sich die engeren Familienangehörigen und die Trauzeugen zur standesamtlichen Trauung in einem separaten Gebäude versammelten und die zivilen Formalitäten erledigten.
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Ich bin, ob mit Suit oder nicht, kein begeisterter Kirchengänger; doch in diesem unverkrampften Rahmen, in dem auch der Fröhlichkeit ein Platz zugestanden wurde, war es mir recht wohl, und die Kamera gab mir zudem eine gewisse Bewegungsfreiheit. Nach der Trauungszeremonie gelang es mir, unbemerkt durch einen Seiteneingang ins Freie zu schleichen und gleich neben dem Haupteingang zur Orgelempore empor Richtung Himmel zu steigen, obschon eine Tafel den Aufstieg verbot. Der Organist, ein älterer Herr, entdeckte mich, als ich mich unsicher oben bemerkbar machte und hiess mich mit Gesten, an denen es nichts zu rütteln gab, heraufzukommen und nach Lust und Laune zu fotografieren.
Ich hatte jetzt einen exzellenten Überblick über das Geschehen unten im Schiff und im Chor, und ich konnte auch die beiden gelösten, lockeren Sängerinnen Caroline Bradley und Anne Wade aus nächster Nähe live erleben. Sie schwangen sich zu den höchsten Tönen auf, etwa bei „Nella Fantasia“ des Italieners Ennio Morricone, aus dem Film „The Mission“ stammend – im Elysium mag es ungefähr so tönen.
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Man fand auf den Boden der Realität zurück. Nachdem der Organist Dick Kerrigan die Orgel nach dem Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn Bartholdy in den Ruhestand versetzt hatte, fragte er mich beim Zusammenklappen der Notenhefte: „Where are you coming from?“, und ich nannte Switzerland, da ich nicht voraussetzen konnte, dass er Biberstein kennen würde. Ich machte ihm für sein musikalisches Talent ebenso Komplimente wie für Irland als Nation. Und ich fügte als Begründung gleich an, wir Schweizer als EU-Distanzhalter hätten uns über das irische No zu den Lissabonner Verträgen (die Volkssouveränitäten aushebelnde EU-Verfassung) gefreut. „Ohhh yeeaaaa!!!“, rief er aus, so dass es auch der Lord gehört haben dürfte, und er, der Organist, musste sich zurückhalten, mich nicht zu umarmen. Wir waren uns einig. Damit war die Marriage beendet.
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Vielleicht schwangen bei meinen irischen Gesprächspartnern noch Erinnerungen an den anglo-irischen Unabhängigkeitskrieg (1919‒1921) mit, an dessen Spitze Michael Collins gestanden hatte, der am georgianisch gestalteten Merrion Square in der Innenstadt von Dublin eine Gedenkbüste erhalten hat. Es entstand der Freistaat Irland, aus dem das mehrheitlich protestantisch bewohnte Nordirland sogleich austrat – und daraus entwickelte sich der bekannte Bürgerkrieg. Zur Entspannung kam es vor 10 Jahren, als Nordirland 1998 die Selbstverwaltung erhielt. Eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland wäre möglich, wenn sich eine Mehrheit der Nordiren dafür dereinst ausspräche.
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EU-Diskussionen und Gespräche habe ich bei jeder Gelegenheit angezettelt, meine noch gewachsene Sympathie für die Iren seit diesem grossartigen Nein zur wahrscheinlich bloss vorübergehenden Blockade des weiteren Ausbaus der EU-Machtzentrale in Brüssel bekundet, und überall entstand eine neue Verbundenheit wegen der Verwandtschaft im Geiste. Das Wort independence (Unabhängigkeit) fiel häufig. Nur ein irischer Geschäftsmann schränkte ein, dass Irland die Beziehungen zur EU schon brauchen könne, aber eine möglichst grosse Selbstständigkeit kam auch ihm zupass. Sogar ein uniformierter Portier des Hotels Merrion an der Upper Merrion Street in Dublin, der nach einem verregneten Abend gerade eine EU-Flagge demontierte, teilte meine Ansicht.
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Ich hatte in dem 1760 von Lord Charles Stanley Monck erbauten, mit vielen Gemälden ausstaffierten „Merrion“-Hotelbau (www.merrionhotel.com) mit seinem gepflegten neuzeitlichen Innengarten unter einem Glasdach für den frühen Samstagabend ein Treffen mit Rolf vereinbart, der einen Golfpartner zum Flughafen chauffiert hatte. Doch waren die Autobahnen M1, N3/Navan Road und somit eben auch die Strasse vom Flughafen zur Hauptstadt an jenem 09.08.2008 teilweise unter Wasser. Der irische „Sunday Independent“ (der Unabhängige des Sonntags) meldete tags darauf, es habe sich um die grausamsten Überschwemmungen seit dem unrühmlichen Orkan Charlie (1986) gehandelt. Schon wieder ein Charlie … Rolf kam mit fast 5 Stunden Verspätung an. Es war ihm gelungen, mit seinem neuen Mercedes C180 einige tiefe Pfützen zu durchqueren, ohne dass der Motor ertrank, ansonsten es noch länger gedauert hätte.
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Alice (Rolfs Ehefrau), Eva und ich waren selber am Ende unserer samstäglichen Stadtbesichtigung von Dublin gegen 17 Uhr vom jäh hereinbrechenden stürmischen Gewitterregen überrascht worden. Es war genau jener irische Regen, den Heinrich Böll in seinem „Irischen Tagebuch“ als „absolut, grossartig und erschreckend“ beschrieben hat – „einfach Wetter, und Wetter ist Unwetter“. Eva hatte einen kleinen Schirm für uns 2 dabei, der gegen die von Winden gepeitschten, fallenden Wassermassen praktisch nichts nützte. Wir flohen zuerst einmal in den bereits überfüllten Eingangsbereich eines Internet-Cafés, wie viele andere Passanten auch. Doch trotz des anhaltenden Gewitterregens wagten wir die etwa 100 m bis zum nahen „Burger King“ im Galopp zu meistern, eher der Not als dem eigenen Trieb gehorchend. So lernte ich zum 2. Mal in einem Leben ein Restaurant dieser US-Kette von innen kennen; das erste Mal war es in Maine USA gewesen.
Alice bezog am Buffet French fries (Pommes frites) und frittierte Zwiebelringe, die ich ihrer Form wegen für Calamares mit Zwiebelaroma gehalten hatte, und ich entschied mich für ein Fanta Orange, weil ich nicht gerade zum Coke abdriften wollte, dann aber zur Kenntnis nahm, dass das Fanta zur Coca-Cola-Gruppe gehört. Ich sog die orange-gelbe süsse Flüssigkeit mit Hilfe eines relativ dicken Plastikröhrchens aus dem plastifiziert-kartonierten, gedeckten Plastikbecher; eine narrentaugliche Injektionsstelle mit sternförmigen Einschnitten war im Deckel vorbereitet. Und ich gebe hier zu, dass die zwar etwas pampigen Zwiebelringe nicht einmal so schlecht schmeckten und recht gut zum Fanta (abgeleitet von Fantasie, siehe Morricone-Song) passten; irgendwie hatte auch diese Sache wieder Stil.
Das Jungvolk mobilphonte herum, als ob jeder und jede ein CEO einer mittleren bis grösseren Firma sei, der allerhand Troubles zu shooten und über das Schicksal Hunderter von Menschen zu befinden hätte. Aber diesbezüglich unterscheiden sich die irländischen Jugendlichen wohl nicht von jenen aus anderen Nationalitäten.
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Der Regen liess etwas nach, und uns gelang nun die kurze Busreise zum erwähnten „The Merrion“-Treffpunkt, dem Geburtsplatz von Arthur Wellesley, dem 1. Duke of Wellington, durch die Nässe. Einer der Absätze meiner etwas in die Jahre gekommenen Alltagsschuhe löste sich und schwebte beim Gehen auf und ab, was meinem nun etwas holperigem Gang ein vorauseilendes Echo zuteil werden liess. Und folglich hatte ich am gleichen Abend gleich 2 Luxushotels mit nassen Kleidern und einem klapprigen Schuh zu beehren. Trotz meiner Joyce’schen Vagabundenhaftigkeit war ich ein angesehener Gast; wahrscheinlich hat das Personal meine unkonventionelle Art eher genossen. Der Wunsch nach einer Rückkehr zum einfacheren Leben dürfte auch bei jenen zu strengen Manieren erzogenen Leuten gelegentlich übermächtig werden, und zudem werden Menschen in Irland wohl weniger nach ihrer Kleidung als nach ihrer übrigen Erscheinung eingeschätzt.
Die zugängliche Art der Iren könnte durchaus auch kommunikationsstimulierende Auswirkungen haben. Auch Kurzgespräche in grossen Gesellschaften, die eines ständigen Wechsels der Gesprächspartner verlangen, erledigen sie mit Bravour; der Bräutigam Louis war ein schönes Beispiel dafür. Immer finden sie Hände schüttelnd und umarmend die richtigen, die passenden, die persönlichen Worte. Man geht aufeinander ein, kommt sich binnen Minuten näher, zeigt eine ausgesprochene Hilfsbereitschaft und Umsorgtheit, und das sind schon Qualitäten.
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Bereits auf dem 105-Minuten-Flug Zürich-Dublin mit der Aer Lingus war mir diese aufmerksame und zugängliche Art der Iren aufgefallen. Ich hatte beim Abflug einige Fotos gemacht, bevor der Airbus die Wolkendecke durchstiess und dann über gewaltigen weissen Wolkengebirgen manchmal etwas unsanft durchgeschüttelt wurde. Ich hatte nicht das Gefühl, dass mein Fotografieren von irgendjemand bemerkt worden sei. Gegen Ende des Flugs, als das Flugzeug zum Sinkflug ansetzte, kam ein Stewart zu mir und sagte, möglicherweise hätte ich beim Anflug von Dublin auf der anderen Seite die bessere Sicht und die besseren Fotografierchancen und ich dürfe mich gern ans Fenster in der freien 23. Reihe setzen. Das war wirklich sehr aufmerksam, und ich konnte bei besten Lichtverhältnissen und klarer Luft eine Bilderserie machen, die Teile der Stadt mit den Reihenhaus-Runzeln, Fabriken und Strassen detailgenau zeigt. In der Stadt mit Meeranstoss leben etwa 500 000 Personen.
Ja, die Iren wollen alle ihr eigenes Häuschen, auch wenn sie nur selten daheim sind, und entsprechend belebt ist Dublin. Die Zahl der öffentlichen Lokale (Pubs) ist überall gross, fast so stattlich wie der Guinness-Bier-Konsum. Man findet in diesen Lokalen sofort Kontakt, weil Fremde einfach als Freunde empfunden werden, denen man bisher noch nicht begegnet ist.
Es geht auch ohne einen gemieteten Cedric-Hoff-Suit, der inzwischen an den Inhaber zurückgegangen ist. Es hat alles geklappt. The Lord was with us.
Fortsetzung folgt.
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