BLOG vom: 10.09.2008
Saanenland (2): Was sich weit oberhalb von Gstaad abspielt
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Wie ein riesiges savoyardisches Schloss mit den Rundtürmen an den Ecken des rechteckigen Zentralbaus thront das Luxushotel „Gstaad Palace“ über dem Chalet-Dorf, ganz in der Nähe von Saanen im Berner Oberland (Gstaad ist ein Ortsteil der riesigen Gemeinde Saanen, 120 km2). Man kann dort für 390 CHF (Singlezimmer pro Nacht) bis gegen 10 000 CHF (für eine 6er-Suite) residieren. Doch hatten wir das Glück, etwas Regionstypischeres erleben zu dürfen: Wir durften in einem baustilistisch astrein (1996 Jahrgang) gebauten, nach Süden gerichteten Chalet an der Hauptstrasse im höher gelegenen Saanenmöser (gehört ebenfalls zu Saanen) residieren. Der Balkon unter dem weit auskragenden Satteldach war ein einziges Blumenmeer mit einem breiten feuerroten Abschlussband aus Geranien, und den ferneren Rahmen bildeten Spillgerten, Hornberg, Hornfluh, Oldenhorn, Staldenhorn und das ausfransende Gummfluh-Massiv (2458 m).
Ruth und Larry von Siebenthal Hung wohnen dort; Ruth ist in Saanen in einer bekannten und erfolgreichen Hotelierfamilie (Hotel Hornberg) aufgewachsen, die auch einen Landwirtschaftsbetrieb mit einer Alp Gumm, erreichbar durch Meielsgrund oder Chalberhöni, bewirtschaftete. Ruth lebte Jahrzehnte (28 Jahre) lang in Hongkong und brachte ihren von dort stammenden Mann (Heirat: 1979) Larry, 2 Töchter und 1 Sohn mit, eine ausserordentlich nicht nur liebenswürdige, sondern auch vielseitig begabte, aktive und tierliebende Familie (2 Vollblutpferde irländischer und neuseeländischer Provenienz, 2 Hunde). Über den Garagetüren sind zudem Drachensymbole angebracht, und die Türen sind von 2 chinesischen Tempelhunden bewacht, die keinerlei Betreuung nötig haben – das Chalet Loong Yuen heisst übersetzt Chalet Drachengarten. Über den Garagen befindet sich ein ausserordentlich wachstumsstarker Garten mit vielen Pflanzen und Wasserstellen, eine geschickte Kombination aus Nutz- und Blütenpflanzen, wie sie nur mehrere grüne Daumen zu schaffen vermögen.
Bei Hungs kommt Ruths Saaner-Motto zum Tragen: „Je weiter das Tal, desto weiter das Gsüün“ – wobei ich „Gsüün“ frei mit Gesinnung übersetzt habe. Ruth selber, eine währschafte, zupackende, kraftvolle Frau mit vielseitiger Bildung, Präsidentin des Reit- und Fahrvereins Gstaad, ist eine Verkörperung der Saanenländer, die aussergewöhnliche Berner Oberländer sind und nicht allein von Alemannen, sondern vor allem von Kelten und Galloromanen abstammen, mit denen sich Burgunder vermischten, mit dem entsprechenden, weiten Gsüün.
Kaum waren wir am 03.09.2008 via Thun–Simmental in Saanenmöser angelangt, wurden wir nach einem Kurzrundgang durchs belebte und mit dem Charme des Individuellen ausgestatteten Holzhauses in einen geländegängigen Renault abkommandiert, in dessen Kofferraum auch die beiden salz- und pfefferfarbigen Schnauzer namens Chivas und Dana Platz nahmen, die sich ein ausgesprochen synchrones, anständiges Benehmen zugelegt haben und sich ebenfalls als angenehme Begleiter erwiesen.
Über Schönried (ebenfalls ein Teil der Gemeinde Saanen) wurden wir zum Dorf Saanen chauffiert. Dort wird gerade an der Nordumfahrung gebaut, zu der auch ein im Tagbauverfahren erstellter Tunnel gehört, eine Aktion zur Vertreibung der letzten Saaner Mäuse, die 1911 eine Dorfplage waren. Zudem wird die Saanenmöserstrasse auf einer Strecke von 400 m abgesenkt und mit einem Kreisel an die Nordumfahrung angebunden; die Eröffnung soll 2010 erfolgen. Und in der Nähe befinden sich Ruths Stallungen; einer morgendlichen Fütterung durfte ich beiwohnen. Eines der Pferde hielt sich zu Ruths Überraschung im Freien auf. Es hatte die Stalltüre, die offenbar nicht korrekt geschlossen worden war, selber geöffnet, aber es hatte keinerlei Lust auf eine Flucht. Ein Zeichen von Behaglichkeit.
Die neue Verkehrsanlage führt unmittelbar am Friedhof und der reformierten Kirche St. Mauritius vorbei, die um 1444/47 im spätgotischen Stil erbaut wurde und zu den ansprechendsten des Berner Oberlands gehört. Zum einheitlichen, vom Zimmermannshandwerk geprägten Baustil passt der opulente, rechteckige Turm mit der hölzernen Glockenstube unter dem achteckigen Spitzhelm. Die ausgezeichnete Akustik des Kircheninnenraums mit den an die Wand gemalten Szenen aus dem Alten Testament, dem Marienleben und der Mauritiuslegende hat sich schon der Geigenvirtuose Yehudi Menuhin (1916–1999) zunutze gemacht, zu dessen Ehren es das Menuhin Center Saanen, einen Menuhinweg und das Menuhin Festival Gstaad (www.menuhinfestivalgstaaad.ch) gibt.
Die Kultur äussert sich in Saanen und Gstaad auf vielfältige Weise, unter anderem auch durch das Allianz Suisse Open Gstaad (Tennis), und auch die Golfer haben in erhöhter Lage ihr Refugium, mit speziell reservierten, statussymbolischen Parkplätzen für den Clubpräsidenten, den Vizepräsidenten und die Vorstandsmitglieder, auch wenn sie gerade anderweitig beschäftigt sind.
Es behagte uns sehr, dass uns Ruth ihr eigenes Saanen abseits des mondänen Getümmels zeigen wollte: die weite Welt der teilweise bewaldeten, stattlichen Hügel, vor allem einmal das südwestlich von Saanen (1010 m) und Gstaad (1050 m) aufgewölbte Eggli (1557 m), zu dem von Gstaad aus die 4er-Sesselbahn sanft schaukelt. Unsere eigene Fahrt führte durch das Chalberhönital, vorbei an der längsten 4er-Sesselbahn vom Chalberhöni auf les Gouilles im Waadtland, unter dem Rüeblihorn.
Ruth fuhr von Saanen nach Süden über das Marktgässli und die Rübeldorfstrasse zum Rüebeldorf (unterschiedliche Schreibweise auf den Karten) und kletterte die kurvige, teils recht steile Kalberhönistrasse neben dem Kalberhönibach hinauf. Unterwegs gab sie ihren beiden Schnauzern Gelegenheit, sich ein Stück weit zu Fuss bergan zu bewegen. Als sie fast über die eigene, heraushängende Zunge stolperten, wurden sie wieder eingeladen und rollten sich auf der Wolldecke behaglich ein. Von der Chalberhöni unter dem Horn namens Le Rubli (Ruths Übersetzung: Rüebli, Carrot Mountain, 2285 m) weicht die Strasse dem Rüebli (Mundartausdruck für Karotte) und Gummfluh im Zickzack nach Osten aus. Es geht hinaus auf offene Weideflächen, und auf einer Anhöhe ist das „Vorder Eggli“, auf etwa 1650 Höhenmetern.
Auf einer ziemlich ebenen Fläche mit der fast zum Greifen nahen Gummfluh steht ein niederes Alpgebäude, ein Fleckenblock mit einem Wellblechsatteldach bei deutlich gedämpfter Steilheit. Das Fassadenholz über dem Trockenmauerfundament hinter der über 2 Treppen erreichbaren Zugangslaube im Frontbereich ist geschwärzt, verwittert, und es erzählt eine lange Geschichte. „Milch-Bar Käserei“ ist in ein Brett geschnitzt. Neben einer blühenden Geranium-Topfpflanze und vor einer Holzbeige stehend eine Tafel: „Dir Gott sei Preis und Ruhm gebracht, Du hast ein Schöpfungswerk voll Herrlichkeit und Schöne. MB.“ Selbst überzeugte Heiden wie ich kommen nicht umhin, zuzustimmen. Die Tür zum ehemaligen Käsegaden ist mit eingebrannten Käsehändler-Zeichen wie „H I M in Herz“ versehen.
Ruth und Larry kennen die Bewirtschafter des Vorder Egglis, Ruedi und Helen Wehren-Allenbach, die ihren Hauptsitz im Rübeldorf in CH-3792 Saanen unten haben. Wir betraten die Käserei, ein so genanntes Senntum (Betrieb für die Käseherstellung“): eine halboffene Küche mit einer offenen, umrandeten Grube darin, in der sich die Glut abkühlte und wo noch die bisher von Feuer verschonten Enden der Holzstücke brannten.
Wir hatten Glück, wie immer, konnten in den letzten 10 Minuten gerade noch die letzte Alpkäse-Produktion dieses Jahres 2008 erleben – denn der Winter steht bevor. Mir wurde erstmals in diesem Jahr 2008 bewusst, dass wir tatsächlich schon mitten im Herbst sind.
Wir wurden freundlich empfangen, auch von den beiden hilfsbereiten jungen Frauen, beide Agro-Praktikantinnen aus Deutschland, die hier mithalfen. Der gross gewachsene, schlanke Käser Wehren mit wetterhartem Gesicht, krausem, angegrautem, schwarzem Haar band sich eine weisse Schürze um, die bis zu den Dunlop-Stiefeln reichte, und auf seinem T-Shirt war eine Edelweissblüte, von 2 Kühen flankiert – eine weitere solche Blüte mit Aufhängevorrichtung dient an der Wand zur Aufbewahrung der schön geschnitzten Nidlelöffeln, kleinen Handschaufeln.
Die auf 32 °C erwärmte Milch war bereits mit Käselab und Sirtekulturen, welche die Geheimnisse des Alpkäses verbreiten, versetzt, mit der so genannten Käseharfe zerkleinert und auf 52 °C weiter erwärmt. Doch noch durften wir die Prozedur des Aushebens der Käsemasse mit Hilfe des Käsetuchs und einem biegsamen, flachen Band aus dem Kessi miterleben, alles in authentischer, überlieferter Art, auch wenn die Käsetücher, um amtlichen Vorschriften nachzuleben, leider aus plastifizierten Planen und die Järbgürtel durch Kunststoffreifen ersetzt werden mussten, um der Hygiene Genüge zu tun – was alles an bewährtem Brauchtum haben amtliche Vorschriften doch auf dem Gewissen!
Die Käsemasse wurde von den kräftigen, sehnigen Armen und Händen des Älplers in den Järb (eigentlich: die Form) gebracht, dessen Inhalt vergrössert oder verkleinert werden kann wie die Gürtel, die ich um meinen einmal grösseren und dann wieder kleineren Bauch lege, je nach Ernährungslage, je nachdem, ob die Zeiten besser oder spartanischer sind. Zur zusätzlichen Verbesserung der guten Fütterungszeiten durften wir etwas von dem noch warmen, ungesalzenen und gleichwohl delikat schmeckenden Frischkäse probieren. Die Körbe mit dem Frischkäse wurden unter einem durch Ausnützung der Hebelwirkung angehobenen und dann wieder abgesenkten Balken, d. h. unter grossem Druck, ausgepresst, und die überflüssige Molke lief aus, so dass Laibe von 10 bis 12 kg verbleiben. Ich selber durfte den in eine Walze geschobenen Stab bewegen, und ich musste, vom Frischkäse gedopt, aufpassen, dass ich nicht auch noch das ganze Dach aus der Verankerung hob.
Die Käselaibe vom Vortag werden 24 Stunden in ein Salzbad getaucht. Dann reift der Käse im Keller, während Monaten wird er im Käsereifungslager gesalzen und gewendet. Er wird zum so genannten Schnittkäse (Lagerung bis 18 Monate) und später zu trockenerem und umso würzigerem Hobelkäse. Selbstverständlich deckten wir uns mit gereiftem Alpkäse aus früheren Produktionen ein, einem kleinen Teil der Produktion in den etwa 560 Alpen des Berner Oberlands – insgesamt rund 1000 Tonnen. Davon sind etwa 100 Käsereien im Amt Saanen und den angrenzenden Gebieten zu finden. Etwa 75 % des Alpkäses werden direkt vermarktet. Und ich oute mich hier als bedeutender Alpkäsekonsument, wahrscheinlich einer der leistungsfähigsten, da ich zu Milch und Käse gewordene Alpenpflanzen aus der reinen Bergluft viel höher einschätze als Industrieprodukte mit Hochertragskuh- oder/und Silohintergrund aus der Massenproduktion, die sich mit zunehmender, sich globalisierender Landwirtschaftskonzentration auch noch in der Schweiz einstellen wird. Meine Vorliebe zu reinem Alpkäse verkünde ich selbstverständlich nicht zu laut; denn sonst würde ich zu viele Nachahmungstäterschaften auslösen, und es ergäbe sich beim Alpkäse ein dramatischer Mangel; die Kühe müssten Überstunden einlegen, und die Dauer des Wiederkäuens müsste verkürzt werden.
Frau Wehren, eine ebenso vornehm wie zurückhaltend wirkende Persönlichkeit mit Blue Jeans, schwarzem Pullover, gütigem Gesicht und grau-blondem, nach hinten gekämmtem, anliegendem Haar, die ebenso gut Filialleiterin eines Handelsunternehmens sein könnte, wog die grossen Stücke, und ich bezahlte dafür 45 CHF, ohne nachzufragen, wie hoch der Kilopreis sei, weil ich den Alpkäseverkauf als Vertrauenssache betrachte. Über der Küchenwaage hing ein Diplom vom Oktober 1947 an der Wand, das bestätigte, dass dem Vater des heutigen Käsers, Arnold Wehren-von Grünigen, bei der „Alpmulchen-Prämierung“ 23,5 Punkte verliehen wurden, bestätigte, was eine Prämie von 50 Franken auslöste; mit Alpmulchen sind nach meiner Vermutung Alpkäse gemeint, auch Butter kann darunter fallen – also Alperzeugnisse. Alpmulchen-Wettbewerbe gibt es noch heute. Dabei erhält der Käser Punkte für den von ihm produzierten Käse, wobei natürlich nicht alle Käselaibe vom ganzen Sommer geprüft werden können. Es zählen die Konsistenz des Käseteigs, das Fehlen von Garlöchern, Geschmack und Farbe. Heute ist die maximale Punktzahl 20, und Käse, der keine 18 Punkte erreicht, wird an Gerber geschickt, eingeschmolzen und wird, sozusagen schachmatt, zum Schachtelikäse …
Damit waren das Alpkäsejahr und unser Besuch zu Ende. Wir bedankten und verabschiedeten uns, warfen noch einen Blick in den Stall, worin die behornten hellbraunen Simmentaler Kühe (behornte Kühe liefern energiereichere Milch) und unschuldig-weisse Saaner Geissen auf die Zügeltrichlein (Treicheln, Glocken) warteten und sich auf die Alpabfahrt vorbereiteten, bevor der Schnee alles eindeckt. Ruth streichelte die freundliche Warmblutstute Voleuse du Coeur, die Herzensdiebin, die vor 16 Wochen ihre Voleuse de la Sarine zur Alpenwelt gebracht hatte. Das Fülli (Fohlen) hatte sich an den Nüstern eine Verletzung zugezogen, die sich aber dank der alpinen Heilkräuter bald schliessen wird.
Eva und ich rasten noch schnell, hornlosen Gemsen gleich, auf die nahen Hügelkuppen, um einen erweiterten Blick in die Tiefe und in die Ferne zu erhaschen – rundum Berge, durch den Föhn vom meisten Dunst befreit. Eindrücklich war auch der Blick ins streubesiedelte Gsteigtal hinunter, in das die Saane (La Sarine) zuerst als Wildbach oder Wasserfall einst wie ein Freistil-Snowboarder zwischen Felsen und Geröll gesprungen war – hinunter zum hintersten Dorf, Gsteig. Doch diese Kapriolen sind längst beendet – für immer. Eine Staumauer hat das Wasser in Beschlag genommen, und es wird seit 1962 unterirdisch zum Kraftwerk Sanetsch (im Besitz der BKW und des Elektrizitätswerks der Stadt Bern) zwecks „Nutzbarmachung der Wasserkräfte“ geschossen, einer Kanonenkugelserie gleich; 1997 wurde die Anlage modernisiert. Die heutige Gesellschaft braucht Strom, nicht Wasserfälle.
Schön ist es, wenn man davon nichts weiss; es blieb mir gottseidank verwehrt, die einst lebendige Saane an ihrem Ursprungsort gekannt zu haben, obschon mein Jahrgang das durchaus erlaubt hätte, so dass ich mich einfach an dem erfreute, was da noch an landschaftlicher Unversehrtheit erhalten geblieben ist. Und das ist schon einiges. Davon wird noch mehr zu erzählen sein.
Inzwischen sind wir von einer Berner-Platte mit Kartoffeln, Sauerkraut, Dörrbohnen, Speck, Gnagi, Würsten, geschwellten Kartoffeln, Saanesenf usf. aus Ruths Küche gestärkt worden – Musik in den angenehmsten gastronomischen Tonarten, gegen die auch Herr Menuhin nichts einzuwenden gehabt hätte.
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