BLOG vom: 10.10.2008
Staffeleggzubringer: Die Landschaftsmetzgete mit Blutwurst
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
An der Aare unterhalb von Aarau verändert sich die Landschaft viel schneller als die Angestellten der Swisstopo ihre Landkarten nachführen können. Das geschieht im Zusammenhang mit dem neuen Staffeleggzubringer, der Ostumfahrung von Aarau und Küttigen. Die schwungvolle Aarebrücke ist seit langem fertig, doch beim Herzstück des Staffeleggstrassenneubaus, dem im Tagbau entstehenden Horentunnel, harzte es, weil die hydrologischen Verhältnisse im Horentäli in Küttigen ursprünglich falsch eingeschätzt wurden, obschon sich die Erkenntnis, dass in Tälern meistens Wasser fliesst, im Übrigen seit langem herumgesprochen hat.
Der Tagbautunnel
Seit einigen Wochen ist der Tunnel endlich im Bau, und es scheint, als ob er ständig an Tempo gewönne. Wohl rund 300 m sind bereits vollendet, wie ich bei einem Spaziergang am 05.10.2008 mit eigenen Augen gesehen habe. Wie die Aarebrücke, so startet auch der zweispurige Tunnel nach dem Portal, das bergwärts abgeschrägt ist und eine unvollendete Ellipsenform erhält, mit einer Biegung. Das heisst, dass die von der Brücke vorgegebene Kurve ein Stück weit weitergeführt wird. Das sind schon betonbauliche Meisterstücke, selbst in Anbetracht dessen, dass wir Schweizer Weltmeister im Tunnelbau sind (es gibt nur noch wenig oberirdisch geführte Strassen), wir selbst in den Emmentalerkäse unentwegt Löcher graben und Eierhörnli (Teigwaren) unsere Leibspeise sind, wenn sie von Hackfleisch in einer kräftigen Sauce und Apfelmus begleitet sind; bei dessen Zubereitung werden die Früchte mit dem Apfelbohrer ausgehöhlt, wo das Kerngehäuse ist.
Der Tunnel, der noch nicht mit Erde zugeschüttet ist, mutet, von aussen betrachtet, wie eine überdimensionierte Blutwurst an, zumindest dort, wo er bereits mit einem wasserdichten, schwarzen Überzug versehen ist; die herbstliche Zeit der Metzgeten scheint auch die Tiefbauer in Beschlag genommen zu haben. Bevor die Tunnelwurst verlängert werden kann, wird ein massives Trassee gebaut, auf dem ein Hochkran als Schienenfahrzeug hin und her fährt. Seine Geleise werden hinten abgebaut und vorne wieder angesetzt. Wo die gewölbte Tunnelhalbschale den Boden berührt, ist ein besonders stabiles Fundament eingebracht, aus dem die Armierungseisen empor zeigen. Dann werden kunstvoll gebogene Holzverschalungen, an schweren Eisengerüsten montiert, handwerkliche Glanzstücke, aufgesetzt und mit Flüssigbeton hinterfüllt. Auf diese Weise verlängert sich der Tunnel östlich unterhalb dem Kirchlein Kirchberg, das die Oberaufsicht über den Bauablauf hat. Die vielen tüchtigen ausländischen Arbeitskräfte können in jener religiösen Stätte um Beistand bitten, falls sie einmal an einem schwierigen Punkt angelangt sind.
Die Baugrube hat steile Seitenwände, die mit Netzwerk aus dicken Seilen und eingesätem Grün stabilisiert sind. Sogar ein Schmetterlingsstrauch (Buddleia davidii) hat sich im Hangnetz verfangen, ohne sich aber am Blühen hindern zu lassen.
Die Auenerweiterung
Steigt man von dieser mit „marti“-Tafeln dekorierten Baustelle zur Aarebrücke hinab, kann man den Blick aus dieser erhöhten Warte über die neu geschaffene Auenlandschaft schweifen lassen und eine sehr blasse Ahnung erhalten, wie es hier einmal gewesen sein könnte. Staffeleggzubringer und Auenerweiterung wurden dem Volk der einheimischen Demokraten als Gesamtpaket verkauft. Das heisst, dass Landschaftsmetzgete, vor allem im Horentäli, welches bisher nur durch eine Hochspannungsleitung verschandelt war, durch einen Auenbau kompensiert wird. So werden schlechte Gewissen besser.
Die Aare hat unterhalb der neuen Strassenbrücke mehr Raum erhalten und darf einen Teil ihres Wassers durch eine Art ausuferndes Umgehungsgewässer fliessen lassen, wodurch eine längliche Insel entstanden ist, die noch nicht einmal einen Namen hat und der ich Bibaartinsel sage (eine Zusammenfassung der Wörter Biber, Biberstein, Aare und Aarau. Das T habe ich eingefügt, um das Wort Art anklingen zu lassen, weil es ja eine künstliche Insel ist). Den Namen stelle ich der Öffentlichkeit und der Swisstopo gratis zur Verfügung; ob das ein kleines Denkmal in Bronze für mich als Wortschöpfer rechtfertigt, wage ich zu bezweifeln. Aber die Hoffnung lebt wie dieses Gebiet, in dem sich allerhand Wachstum entwickelt.
Neben einheimischem Pioniergestrüpp siedelten sich leuchtend gelbe Nachtkerzen an, richtige Amerikaner, die sich nicht an die normalen Blütezeiten (Kerzen haben nachts zu brennen) halten, sondern eigene Regeln umgehen dürfen und auch an jenem sonnigen Sonntagnachmittag blühten, sehr zum Ärger nachtaktiver Insekten, denen eine duftende Nachtblüte versprochen worden war. Auch Goldruten aus dem nämlichen Erdteil wie die Nachtkerzen (Amerika) wuchern dort auf dem fruchtbaren, durchlässigen Boden.
Über einen schmalen Betondurchlass balancierend erreichte ich die Bibaartinsel und stellte dort fest, dass meine Freunde, die Biber, dort gerade am Umlegen einer mächtigen Silberweide waren. Leider genossen die ebenfalls nachtaktiven Tiere gerade die Tagesruhe, aber die Frassspuren waren in ihrer ganzen Eindrücklichkeit zu sehen.
Solche jungfräulichen Landschaften sind höchst inspirierend, auch für Menschen. Eine Familie aus Menschen hatte unter der Brücke eine Grillstelle eingerichtet und war am Bräteln. Weiter unten war Geröll zu einer Herzform angeordnet worden, und Vögel drückten ihre Zehen zu schönen Mustern in den feuchten, lehmigen Sand.
Die Waldweide
Oberhalb der alten Bibersteiner Brücke ist linksufrig, also dem Dorf zugewandt, hinter dem Aaredamm und neben einem asphaltierten für Abkürzungszwecke missbrauchten Strässchen, eine Waldweide auf einer Fläche von 1,55 Hektaren eingerichtet worden. Schottische Hochlandrinder mit dem wirbeligen Fell besorgen dort die Waldpflege im Sinne einer Auslichtung. Die 3 langhaarigen rehbraunen und das beinahe schwarze Highland Cattle (Kyloe) mit hellen, farblich abgesetzten Strähnen im Stirnhaar haben richtige Hörner, die einmal nach oben gebogen sind, ein andermal nach unten zeigen oder seitwärts abstehen. Waldweiden haben in Biberstein Tradition, ob dort aber Schotten früher rodend herumfrassen, glaube ich weniger, es waren eher Ziegen, Schafe, Schweine und Braunvieh.
In jenem Waldweidewäldchen im Bibersteiner Schachen, einem Naturschutzgebiet von kantonal-aargauischer Bedeutung, hat ein Biber eine der letzten Rottannen umgelegt – ein kleines Exemplar mit einem Stammdurchmesser von etwa 10 cm. Beim Anblick dieser vorbildhaften waldbaulichen Leistung ist meine Sympathie zu unserem Bibersteiner Wappentier noch gewachsen. Denn Fichten gehören ja wirklich nicht in den Aareraum. Die Verfichtung hat in den letzten Jahrzehnten die unmöglichsten Lagen erreicht, obschon ich das Gefühl habe, dass die Förster allmählich mit diesen Schaustücken neoliberaler waldbaulicher Irritationen zunehmend abfahren.
Auf jeden Fall schlage ich vor, den Biber von der Waldweide als Dozent für die Forstingenieur-Ausbildung oder für die Försterausbildung FH an der ETH Zürich einzuladen. Er könnte hier neue Impulse im Hinblick auf mehr Naturnähe beim Waldbau einbringen.
*
Waldweide, Auenrenaturierung. Biberstein hat den Rückwärtsgang eingeschaltet. Der Rückschritt ist hundertmal attraktiver als das, was wir gerade unter Fortschritt erleben.
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