Textatelier
BLOG vom: 21.11.2008

Kurzgeschichten-Wettbewerb (1. Teil): „Kain und Abel“

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Das Thema Kreativität hat mich schon immer beschäftigt, nachweisbar in meinem Manuskript „Das schöpferische Klima“, vor 40 Jahren geschrieben.
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Aber hier lasse ich Professor Hans Lehmann, Dozent und Philologe, auf- und hochleben, und ich übergebe ihm das Wort. Über sein Fachgebiet hinweg ist Hans Lehmann von der „Neuroscience“ fasziniert. Er ist ein Anhänger von Nancy Andreasen, Autorin von „The Creative Brain“ (Das schöpferische Gehirn). Insgeheim träumt der kurzgewachsene Lehmann davon, ein Genie zu sein oder zu werden. In seinen Vorträgen lässt er gerne Wörter einfliessen, wie „Erkenntnis“, „Inspiration“ – und natürlich immer wieder sein Lieblingswort „Kreativität“.
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5 Studenten mit schöpferischem Potenzial sassen vor ihm in seinem Studierzimmer versammelt. Auf- und abschreitend begann er seinen Vortrag: „Einsicht oder Erkenntnis kommt nicht vom Himmel. Wenn wir ein Problem lösen wollen, arbeitet das ganze Hirn zusammen, um eine Lösung zu finden.“ Lehmann verwies auf die Lichtbild-Tafel. „Hier haben die kleine Schaltstation im Hirn, ‚the anterior superior temporal gyrus‘, der Ordnung im Gedankenhaushalt schafft und neue Verbindungen unter der Schädeldecke ortet, also in der ‚Crème Caramel‘- Masse unseres Gehirns.“ Einige der Studenten lachten. Sie fanden den Vergleich mit Crème Caramel drollig. Nein, dieses Wort stammt nicht von Professor Lehmann, sondern er hatte es aus 2. Hand übernommen, wie so vieles in seinem Gelehrten-Leben. „Der Einfall oder die Inspiration wird nachher wirksam, wenn wir uns vom Problem losgelöst haben“, fuhr er fort, „sozusagen im Leeren schweben.“ „Wenn ich ein Problem nicht knacken kann, gehe ich spazieren oder höre Musik oder entschwebe in den Schlaf … und Eureka! Die Lösung des Problems kommt auf mich zugeflogen.“ Damit hatte er nicht mehr ausgesagt als was der Volksmund oder Dichterworte in vielen Sprachen viel einfacher trifft u. a. „La nuit porte conseil“, „Guter Rat kommt über Nacht“.
 
„Bla, bla, bla“, dachte sich Sebastian, ein eigenständig denkender Student. Nach dieser hier stark gekürzten Vorrede des Professors knipste er ein weiteres Bild auf die Leinwand: „Hier ist die Aufgabenstellung für die 5 Versuchskarnickel“, wies er mit dem Stab auf den Titel „Kain und Abel“.„Das Thema ist gestellt, die Länge für eure Kurzgeschichten ist auf 500 Wörter beschränkt. Jetzt nichts als los in die Schreibzellen, jeder für sich allein. Ihr habt eine Stunde Zeit.“
 
Die Autoren müssen ihren Text mit einem selbstgewählten Kennwort bezeichnen. Ein Gremium der Universität wird nach 5 Wochen die Arbeiten bewerten und den Preisträger des diesjährigen Wettbewerbs bestimmen.
 
Die 5 Kurzgeschichten werden auf Stil, Inhalt, Thematik und Kreativität hin beurteilt.
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(Als Lesender mögen Sie Ihr eigenes Urteil fällen. Die restlichen Kurzgeschichten werden nach und nach ins Textatelier eingeschleust.)
 
Kurzgeschichte 1: Kennwort Demian
Ich heisse Heinz Wiederkehr und wohne in Breitlingen, wo immer diese Ortschaft im Bibelland sein möge. Mit Kain oder Abel habe ich nichts zu tun. Weder im Elternhaus noch in meinem Haus findet sich eine Bibel. Wer den Himmel erfunden hat, weiss ich nicht. Ich bin ganz zufrieden, wenn Gott im Himmel bleibt und ich unten auf der Erde. Vor der Hölle habe ich keine Angst. Ich bin ihr oft auf dieser Welt begegnet.
 
Jetzt stecke ich mitten in der Sprachhölle. Wer zum Teufel schreibt mir vor, dass meine Geschichte auf 500 Wörter beschränkt sein sollte? Als Aufsässiger werde ich aufgegriffen und in eine Irrenanstalt eingeliefert und dort in eine MRI (Magnetic resonance imaging)-Röhre geschoben. Zugegeben ich bin manchmal ein bisschen, manchmal ausgeprägt verrückt. In dieser Röhre beginne ich zu halluzinieren. Eine kleine Gestalt mit grossem Eierkopf nähert sich mir. Er öffnet seinen Mund voller gelber Zähne und murmelt 167. Meint er damit Tage oder Sekunden, die mir verbleiben? „Bitte beichten“, befahl er mir.
 
Ich habe, als ich erst 10 Jahre alt war und alle 14 Tage den Beichtstuhl aufsuchen musste, dem Beichtvater vieles vorgeflunkert, beginnend mit kleinen lässlichen Sünden, wie: „Ich habe zu viele Bonbons genascht und 2 Tafeln Schokolade auf einmal gegessen.“ Mir schien, dass der Pfarrhelfer hinter dem Gitter gähnte. Genau konnte ich das zwar im Halbdunkel nicht feststellen. Schlimmer noch, gestand ich ihm, dass ich unkeusche Gedanken gehabt habe.
 
Das wusste ich, wirkt unfehlbar. „Hast du Unkeusches berührt?“ fragte er. „Ja“, gab ich zerknirscht zu. „Und wie und wo und wie oft?“ führte er sein Verhör fort. „Ich habe mit Vreni Vater und Mutter gespielt.“ Zur Strafe brummte er mir 10 Glaubensbekenntnisse auf. Das war mein Glück. Schon damals konnte ich das Glaubensbekenntnis nicht auswendig von Stapel lassen, und das hatte mir immer wieder viel zusätzliche Freiheit und Freizeit gesichert …
 
Mein Quälgeist mit gelben Zähnen trat mir noch näher, und ich roch seinen faulen Eieratem. „Bitte beichten!“ wiederholte er diesmal drohend. Sein Speichel bombardierte mich. Oder war es mein Angstschweiss, wie er die Zahl 366 nannte? Auch wer sehr bedrängt wird, kann eine Inspiration gewinnen. Mein Zeitkredit hatte sich nicht vermindert, sondern hatte zugenommen, nahm ich an. „Aha!“ seufzte ich erleichtert.
 
„Was soll ich ihm beichten, damit ich mehr Zeit, Freizeit gewinnen und aus dieser misslichen Röhre komme?“ In gewissen Lebenslagen ist es notwendig, den Spiess umzudrehen. „Bitte speichern!“ schrie ich ihm ins Gesicht. Der Eierkopf platzte wie eine Pustel.
 
Damit ersparte ich mir immerhin 74 Wörter, und ich entkam innert 45 Minuten ungeschoren aus der eingeengten Sprachhölle.
 
Ich steckte meine Klausurarbeit in den Umschlag, gab sie beim Pförtner ab und kehrte wieder in den Sommertag – ins schöpferische Klima – zurück. Schliesslich heisse ich nicht umsonst Wiederkehr.
 
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