Textatelier
BLOG vom: 25.12.2008

Seeräuber-Romantik in der Schweiz: Halali zur Piratenjagd

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Das Binnenland Schweiz ist dieser Tage von Seeräuber-Romantik übermannt worden. Man mag uns das bitte nachsehen: Wenn wir vor lauter Bergen, diese gewaltigen Steinhaufen, die manchmal ganzjährig von Schnee bedeckt sind, und vor langen, kilometerweit in Tiefe gestaffelten Hügeln und einem Mittelland, das ebenfalls die Waagrechte nur selten kennt, wenn wir also von solchen Unebenheiten alle Augen voll haben, dann erwacht bei uns die Sehnsucht nach Topfebenem. Die beste Gewähr für eine ausladende, ebene Fläche bietet das Meer, wobei bei dessen Dimensionen die Wellen nicht besonders ins Gewicht fallen. Die leichte Wölbung ist zu vernachlässigen. Wir verbringen unsere Ferien deshalb mit Vorliebe an garantiert hügelfreien, sandigen Meeresstränden und sind dem Wasser dankbar, wenn das Ufersand ununterbrochen planiert wird.
 
Wer das Meer innig liebt, wie wir Älpler es tun, der liebt auch die Schifffahrt, weil sie es ermöglicht, die Ebenheit umfassend zu geniessen, sozusagen mehr Meer zu erleben. Die ozeanische Sehnsucht zehrt an uns allen. Ich weiss, wovon ich rede: Während meiner Schulzeit wurde mir von pfarrherrlicher, schulischer und elterlicher Seite nahe gelegt, die wunderbaren Broschüren aus dem Verlag „Gute Schriften“ in Zürich zu lesen, der zu meinem aktuellen Bedauern 2002 liquidiert worden ist. Dort konnte man sich mit dem garantiert jugendfreien „Anne Bäbi Jowäger“, dem ebensolchen „Erdbeermareili“ und der seltsamen Magd Elsi oder dem Erbvetter Hansjoggeli anfreunden. Mich erinnerte das lebhaft an das Kinderbuch „De Joggeli söll ga Birli schüttle“ von Lisa Wenger (1858‒1941), das ich schon damals überwunden hatte. Mich gelüstete nach rezenterer Kost.
 
Ich wollte, ehrlich gesagt, eher schlechte als gute Schriften lesen, die damals als Schund bezeichnet wurden, und wer Schund las, befand sich in der Vorhölle zur Kriminalität. Am Bahnhofkiosk in St. Gallen fand ich solchen Schund zum Beispiel in Form der Heftliromane „Der Schwarze Pirat“, die mir in unzähligen Folgen die weite Welt der Meere erschloss und mich in Länder entführte, von deren Existenz ich noch nie gehört hatte. Ich musste diese phantastische Lektüre immer im Versteckten lesen und wusste bald nicht mehr, wo ich meine Heftlisammlung aufbewahren sollte, um sie dem Zugriff meiner besorgten Eltern zu entziehen. Sie schämten sich für ihren missratenen Sohn. Es gehörte sich einfach nicht.
 
Zu einem Piraten bin ich nicht geworden, doch meine Sympathie zu dieser ehrenwerten und heute zweifellos recht anspruchsvollen Berufsgattung ist mir erhalten geblieben; sie hat sich auch in meinem Blog vom 25.11.2008 unverhohlen niedergeschlagen: Warum mir die somalischen Piraten eher sympathisch sind.“
 
Die vertriebenen somalischen Fischer
Die somalischen Piraten, welche die Seeräuberei wiederbeleben, sind mehrheitlich gewöhnliche Fischer, die sich dann, widrigen Umständen sei dank, zu Seeräubern emporarbeiten konnten, eine Art Tellerwäscher-Karriere. Die widrigen Umstände: Die reichen Nationen, grosse Fischliebhaber, wenn diese in der Pfanne brutzeln und im Weisswein schwimmen, fischten das Meer rund um die somalische Küste annähernd leer – den Indischen Ozean und den Golf von Aden, der dann ins Rote Meer und den Suezkanal als Verbindung zum Mittelmeer ausmündet. Es handelt sich um die wichtigste Seehandelsstrasse zwischen Europa und Asien. Die edle Wertegemeinschaft der reichen, neoglobalisierten Ausbeuter frass also den Somaliern das Hauptnahrungsmittel weg und zwang diese förmlich zu anderen Erwerbstätigkeiten. Weil Fischer das Meer kennen, lag es nahe, zur Jagd auf die Schiffe der Fischräuber zu blasen, diese zu kapern und gegen hohe Lösegelder wieder freizugeben. Menschen sollten dabei nicht zu Schaden kommen. Die Besatzungen werden anständig behandelt, ja geradezu verwöhnt. Bis anhin ist niemand zu Tode gekommen – aber der Westen wird das schon ändern.
 
Selbstverständlich wird den Info-Konsumenten von den Westmedien nicht oder höchstens am Rande erzählt, welches denn die Gründe für die Umsattlung vom Fischfanggewerbe auf die Schiffskaperung seien, weil sonst die Kriegserklärung an die Adresse der Piraten in ein schiefes Licht käme und der böse Feind in die Opferrolle geriete. Und mit der Kriegserklärung an die somalischen Seehelden wird natürlich in üblicher Manier versucht, das politisch instabile Somalia zu neokolonialisieren, zu unterwerfen und als Stützpunkt zu missbrauchen. Es ist ein chaotischer, bankrotter Staat (failed state). Das erklärt auch, weshalb die USA die Uno-Ermächtigung einholten, die Piraten auch auf dem Land zu jagen und dort den westlichen Krieg gegen den Islamismus weiterzuführen und den Terrorismus zu stärken, den man dann wieder bekämpfen kann. Vielleicht bringen es die Amerikaner gelegentlich sogar fertig, auf dem Land Meeresfische zu fischen, wenns sein muss. Der US-Eroberungs- und Einmischungsdrang kennt keine Grenzen, ein letztes Aufbäumen einer ebenfalls bankrotten Grossmacht.
 
Schifffahrtsnation Schweiz
Doch waren wir ja bei der Schweiz. Dieses Land, das nicht auf die Meerschifffahrtsromantik verzichten wollte, unterhält eine stolze Hochseeflotte von 35 Einheiten (Frachter und Tanker mit total rund 600 Arbeitsplätzen, die kaum von Schweizern ausgefüllt werden). Die Schweizer Schiffe tuckern gelegentlich auch zwischen dem Indischen Ozean und dessen nördlichem Arabischen Meer durch den Golf von Aden, wo die Piraten lauern. Und in der vergangenen Woche taten uns einige somalische Piraten angeblich den Gefallen, eines der Hochseeschiffe mit der Schweizer Flagge, das italienischen Stahl geladen hatte und sich auf dem Weg nach Dammam im Osten von Saudiarabien befand, ein Stück weit zu begleiten und dann wieder abzudrehen, weil die Schweiz offenbar noch einen guten Ruf hat. Die Begleitung wurde hierzulande dennoch zu einer „Verfolgung“ hochstilisiert.
 
Dieses freundliche Eskortieren wurde vom Schweizer Bundesrat zum Anlass für eine Kriegserklärung genommen. Bundespräsident Pascal Couchepin gefiel sich in der Rolle des Ober-Piratenjägers und übernahm die in solchen Fällen international übliche, grauenhafte Kriegsrhetorik, geboren aus dem „Krieg gegen den Terrorismus“. Die Swisssinfo.ch-Meldung las sich wie folgt:
 
„Der Bundesrat ist bereit, eigene Soldaten zum Schutz von Schiffen unter Schweizer Flagge nach Somalia zu schicken. Die Schweiz habe gar keine andere Wahl, sagte Bundespräsident Pascal Couchepin gegenüber der Sonntagszeitung. ,Es gibt keine andere Lösung, als eigene Soldaten zu schicken, wenn unsere Schiffe bedroht werden’, sagte Couchepin. Wollen Sie den Piraten sagen: Halt, wir sind neutral ‒ bitte kapern Sie doch dieses Schiff dort drüben?’
 
Es gebe zwar noch keinen formellen Entscheid der Landesregierung, ,aber die Haltung ist klar’, so Couchepin. Vor einem definitiven Entscheid sollen nun noch juristische und finanzielle Fragen geklärt werden.
 
Natürlich sei ein solcher Einsatz nicht einfach. Klar sei deshalb, dass nur Freiwillige in Frage kämen. ,Aber es ist keine Kriegsaktion, sondern ein Polizeieinsatz zum Schutz von Schweizer Schiffen’, bekräftigte der Bundespräsident. Der Bundesrat prüft derzeit unter anderem eine Beteiligung an der EU-Schutzaktion ,Atalanta’ mit eigenen Spezialtruppen. Im Gegenzug wäre die EU wohl auch bereit, Schweizer Schiffe zu eskortieren.“
 
So weit die Medienmitteilung, die von der CH-Aussenministerin Micheline Calmy-Rey bestätigt wurde; sie will, ihrem Temperament entsprechend, die Jagd aus sicherer Distanz leiten und sich mit anderen Piratenjägern zusammenschliessen. Die Armee (man denkt an das Aufklärungsdetachement 10, „ADD 10“, eine körperlich und psychisch robuste Eliteeinheit) brauche „mindestens 3 Monate Vorbereitungszeit“ gegenüber der Infotainmentsendung „10vor10“ des Schweizer Fernsehens.
 
Wörter wie „Schutzaktion“ und „Schutztruppe“ ertrage ich schon lange nicht mehr. Es sind Verschleierungen für brutale kriegerische Handlungen, also reine Euphemismen, die dem informationsmässig erblindenden Volk noch mehr Sand in die Augen streuen. Zudem ist auch die EU für solche Kriege nicht gerüstet; die ist keine Seemacht. Noch nicht.
 
Keine andere Lösung?
Bei aller Begeisterung für das abgedroschene Popejus-Zitat „Navigare necesse est, vivere non necesse est“ (Seefahrt ist notwendig, Leben nicht) kam Couchepin mit seiner Idee schlecht, ja miserabel an – sie wurde noch schnell vor der Einsitznahme von Ueli Maurer in den Bundesrat etabliert (laut dem Bundesratssprecher Oswald Sigg „eine mehr oder weniger beschlossene Sache“); Maurer ist ein Gegner von Auslandeinsätzen der Schweizer Armee. Das ist ein Glück, ebenso der Umstand, dass das Parlament diesen Blödsinn noch abblocken kann.
 
Der bundesrätliche Vorstoss wurde in der Schweiz sogleich als überstürzte und kopflose Schnapsidee bezeichnet; das Wort „Schnapsidee“ stammt vom Zürcher Strategiefachmann Albert Stahel. Es wäre ja wohl wahrhaftig lächerlich, wenn sich ausgerechnet die neutrale, als friedlich bekannte Schweiz anschicken wollte, in Somalia einen Seekrieg zu führen.
 
Ich hätte vom hilflos agierenden Bundespräsidenten 2008 und vom Bundesrat überhaupt ein anderes Rezept erwartet, das nicht von der im Westen üblichen Grossmachtpolitik und Kriegsrhetorik vorgegeben ist: Die Schweiz sollte sich vehement dafür einsetzen, dass die Fischereirechte von Somalia von allen Staaten inklusive EU, USA und China, strikte respektiert werden und die Somalier wieder für ihren Lebensunterhalt fischen können. Genau das würde der bisherigen auf Friedensstiftung ausgerichteten Schweizer Politik zur Ehre gereichen und mithelfen, sinnlose Eskalationen und wohl auch Opfer zu verhüten.
*
Es hat keinen Sinn, an Weihnachten das Halleluja abzusingen, die Friedensglocken in Betrieb zu setzen sowie das „Fest der Liebe“ heraufzubeschwören und daneben bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit die Kanonen in Bereitschaftsstellung zu bringen, wie es in der heutigen Weltpolitik Standard geworden ist.
 
Den Frieden müsste man leben statt besingen und herbeibomben. Ansonsten ist der Schiffbruch garantiert.
 
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