BLOG vom: 24.01.2009
Winter im Tessin (1): Wenn das wahre Wesen freigelegt ist
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
5 Kilometer nördlich von Lugano liegt auf einer Geländeterrasse das Dorf Origlio (Kreis Capriasca, etwa 1300 Einwohner). Dort ist das gleichnamige „Origlio“-Hotel, das mit seinem Charme, der Italianità (der von Italien geprägten Tessiner Lebensart), entzückenden Seen und den subtropischen Gärten lockt: „Benvenuti in Ticino.“ Da ich bei meinem bevorzugten Schwimmen gegen die touristischen Ströme einmal möglichst trostlose Wintertage im Tessin in einer eingetrübten Sonnenstube erleben wollte, quartierten wir uns zwischen dem 13. und 15.01.2009 dort ein. Die Frage, ob sich eine Winterreise ins Tessin lohnt, sollte ihre Antwort finden.
Das „Hotel & Country Club“ (www.hoteloriglio.ch) ist ein lang gezogener, 3-stöckiger Bau mit systematisch aufgereihten Türen zu den vorgelagerten Balkonbändern. Der Klinkerboden vor dem Hoteleingang hatte den bisherigen Winterverlauf nicht unbeschadet überlebt. Einzelne Platten hatten die Bodenhaftung verloren; weiter draussen war selbst der Strassenasphalt nicht ungeschoren davon gekommen. Vielleicht waren das die berühmten Januarlöcher.
Wir wurden nett empfangen und nach dem Ausfüllen eines Zettels mit unseren Personalien gleich ins Zimmer 263 eingewiesen; alles geschah angenehm unkompliziert. Der Blick durchs Glas der Balkontür reichte zu einem mit Föhren bestückten Park und einem eingezäunten Tennisplatz, auf dem kein Mensch, nicht einmal unser Roger Federer, zu sehen war. Die Aussicht brachte ich innert 1 Minute hinter mich, so dass wir frei für Exkursionen waren und gleich das Capriascatal in Augenschein nehmen konnten (darüber folgt ein spezielles Blog).
Der Origliosee
Tags darauf umkreisten wir das Collatal (auch dazu folgt ein Spezialbericht) und den nahen Lago Origlio (422 m ü. M.), der unter Naturschutz steht und vom Hotel aus zu Fuss in etwa 5 Minuten zu erreichen ist, einer der weit über 100 kleinen Seen im Tessin. Die mit Wasser gefüllte Vertiefung (6,5 m) soll eine Hinterlassenschaft der Gletscher und somit etwa 13 000 Jahre alt sein. Der See ist etwa 400 m lang, 250 m breit und hat einen Umfang von rund 1200 m. Da der Rundwanderweg (Circuito) grösstenteil in sicherer Distanz zum Naturschutzgebiet angelegt ist, braucht man knapp eine halbe Stunde für seine Umrundung.
Der See in der Pieve Capriasca, der auf Hinweistafeln zu Recht als „Laghetto“ = Teich bezeichnet wird, ist von Schilf, Rohrkolben und einem lockeren Baumbaubestand umgeben, wie es Brutvögel zu schätzen wissen. Bei unserem Besuch am 14.01.2009 war er mit einer dünnen Eisschicht bedeckt, die wie ein Belag aus Nassschnee aussah, der manchmal nicht bis zum Ufer reichte, zur Freude der dort badenden Enten. Von den weissen Teichrosen (Nymphaea alba), die ihre Blütezeit im Sommer haben, war nichts auszumachen. Zu meinem Erstaunen ist das Fischen in diesem See mit der Angelrute demjenigen erlaubt, der eine Lizenz erworben hat, wie auf grünen Hinweistafeln „Zona di pesca“ nachgelesen werden kann; verboten aber sind überall das Schwimmen, Bootfahren und Schlittschuhlaufen. Man hat es hier also mit einem begrenzten Naturschutz zu tun – oder aber fischende Leute werden als ein Stück Natur betrachtet.
Der harte Winter
Immerhin: Im Tessin gibt es sie, den Naturschutz und den Winter. Die uralte Sehnsucht der Menschen aus dem mehr oder weniger hohen Norden nach ewiger Sonne und Dauerwärme muss also schon etwas relativiert werden. Selbstverständlich ist das keine vollkommen neue Erkenntnis. Man kann davon beispielsweise im Roman „L’anno della valanga“ (deutsch unter dem Titel „Der lange Winter“ erschienen) von Giovanni Orelli, dem aus dem Bedrettotal stammenden Schriftsteller nachlesen, der die Lawinenkatastrophe von 1959 beschrieben hat – die Folge einer Tag für Tag angewachsenen Schneedecke. Am Samstag, 20.12.2008, ging im Bedrettotal (oberhalb von All’Acqua) übrigens wieder eine Lawine nieder, die 9 Personen erfasste, die aber mit dem Schrecken davon kamen. Im Nordtessin war die Lawinengefahr ebenfalls erheblich.
Der aktuelle Tessiner Winter 2008/09 soll der schneereichste seit 20 Jahren gewesen sein, was uns auf den Höhen der Luganeser Täler, wo die weisse Decke etwa 50 cm dick war, durchaus glaubwürdig zu sein schien. Ende November und um den 10. Dezember 2008 war im Tessin (und auch in Oberitalien) gar mehr Schnee als in der übrigen Schweiz gefallen, was auf den Strassen zu chaotischen Zuständen geführt haben soll.
Das Tessin zeige im Winter sein wirkliches Wesen, sein wahres Ich, heisst es in der Tourismuswerbung, und ich glaube das. Die kahlen Landschaften zeigen sich strukturierter, detaillierter, filigraner als dann, wenn ein aufschäumendes, üppiges Grün alles überwuchert, auch das, was zu den Hässlichkeiten gehört. Die Dörfer mit ihren oft brüchig gewordenen Kirchen und den offenen Glockentürmen erinnern in der kalten Jahreszeit an kunstvolle Schwarzweiss-Aufnahmen, und die gleichmässig weiss gefärbten Dächer lassen Ansammlung von rauchenden Häusern noch idyllischer als während der Vegetationsperiode erscheinen.
Flucht nach Süden
Eva und ich hatten das Gefühl, die einzigen Touristen im Tessin zu sein. Selbst im „Origlio“-Hotel orteten wir beim Abendessen (Tessiner Menu: Salami nostrana, Coppa; klare Gemüse-Minestrone; saftiger, dünn geschnittener Rindsbraten, Maisgaletten, Heidelbeersorbet) 2 weitere Gäste, eine Frau und ein Mann, die wir wegen ihrer Geschäftigkeit der Kategorie Geschäftsleute zuteilten. Unterwegs aber kamen im Sinne des wahren Ich jene Leute zum Vorschein, die sich in den Süden zurückgezogen hatten, eine Art Aussteigertypen, welche der Hektik Valet gesagt hatten und sich hier irgendwie durchschlugen. Mit 2 von ihnen kamen wir ins Gespräch, mit einem in Cimadera zuoberst im Collatal und einem anderen in Lugano. Es waren lebensphilosophisch untermauerte Diskussionen, Abschiedserklärungen an das Herlaufen hinter Erfolg und Geld, geprägt vom Wunsch nach einer Rückkehr zum einfachen Leben, für das die Erträge von Gelegenheitsarbeiten genügen. Der gross gewachsene Mann mit blond-rötlichem Haar bei Cimadera, der einen handgestrickten Pullover aus dicker Schafwolle trug, war während etwa 12 Jahren als Strassenmusikant (Gitarrist) unterwegs gewesen und hatte dabei tiefe Einblicke ins menschliche Wesen erhalten. Er schaute nun einem Holzbildhauer-Duo zu, das abwechslungsweise mit einer kleinen Kettensäge eine Art Elfe aus einem Rundholz herausschälte, so dass die Späne flogen. Der Feinschliff stand erst noch bevor – genau wie wir unser Dasein immer weiter modellieren müssen.
Der ältere Herr in der Altstadt von Lugano seinerseits hatte uns auf Italienisch angesprochen und uns dann Kostproben von seinem Sprachtalent vorgeführt. Er erwies sich als Basler, der aber Berndeutsch spricht, weil ihm diese anheimelnde Mundart besonders gut gefällt. Unser Gespräch gipfelte in der durchaus berechtigten Feststellung unseres Gesprächspartners, ich könnte noch eine gewisse Aufwertung meiner Italienisch-Kenntnisse gebrauchen – die Stunde berechne er 46 CHF, fügte er bei.
Lugano ohne Winterschlaf
Doch lag mir eher daran, das winterliche Lugano auszukundschaften. Die berühmte Tourismusstadt zeigte ebenfalls ihr auf die Bedürfnisse der Eingeborenen reduziertes Gesicht. Die Läden mit den Luxusprodukten waren zwar offen, aber ausser einer adretten Verkäuferin war kaum jemand drinnen. Anders war es hinsichtlich der Geschäfte mit Produkten des täglichen Bedarfs; Gemüse und Früchte wurden im Freien angeboten, als ob wir mitten im üppigen Herbst gewesen wären. Die Pflanzen haben offenbar den Rhythmus zwischen Produktions- und Ruhephase überwunden. Und den überall im Tessin anzutreffenden Palmen und den einzelnen Olivenbäumen schien die Schneelast überhaupt nichts auszumachen.
Am Luganeser Quai kletterten Bauarbeiter in orangefarbenen Schutzanzügen auf Leitern und Ästen in den Kronen der Platanen herum, die brutal zurückgeschnitten wurden. Die Bäume erweckten wegen der mit Sägen und Baumscheren bewaffneten Mannschaft den Eindruck, als ob ganze überdimensionierte, traubig angeordnete Bündel von Tomaten an ihren Ästen hingen.
In Lugano herrschte überhaupt ein reger Baubetrieb, wohl eine Vorbereitung auf einen nächsten Touristenansturm. Der 933 m hohe Monte Brè mit seinen Kastanien-, Eichen-, Buchen- und Birkenwäldern, bis zum Gipfel mit Schnee aufgehellt, spiegelte sich ebenso im bleiern wirkenden Wasser des Luganersees wie die 5 Palazzi Gargantini mit ihren abgerundeten Ecken und Säulenarkaden, die neubarocke Elemente ebenso wie solche aus der Zeit der Art Déco enthalten. Am Ufer fieberten lange Zeilen von Kunststoff-Pedalos wärmeren Tagen entgegen, die wieder Ausflügler anlocken werden.
Ich stieg die Salita degli Angioli, eine lange Treppe, empor und erhielt einen Überblick über eine gewaltige Baustelle unmittelbar bei der Pfarrkirche S. Maria degli Angeli. Dieses berühmte Gotteshaus an der Piazza Luini enthält den berühmtesten, monumentalen Freskenzyklus der Renaissance in der Schweiz. Es gehörte seinerzeit zum 1490 gegründeten Franziskanerkloster, das 1848 aufgehoben wurde. Diese Kirche ist zweiseitig von einer frei stehenden Fassade mit zugemauerten Fenstern und stabilisierenden Stahlträgern verdeckt, welche die Baustelle optisch abschirmt.
Ich folgte unter leicht hochnebligem Himmel dem steilen Trassee der 1913 eingeweihten und heute stillgelegten Seilbahn (Funicolare degli Angeli), hinauf zum Hotel „Bristol“. Dann kehrte ich über die Via Motta neben dem berühmten Mehrfamilienhaus Solatio, 1950/51 von Rino Tami entworfen, zur Altstadt zurück. Das erwähnte Haus besteht aus Sichtbeton und besitzt Mauerausfachungen aus Kalksandstein; die Südfront erhielt durch Balkone und Loggien eine S-Form.
Lugano hat also (wie der ganze Kanton Tessin überhaupt) auch in der Zeit der Touristenfreiheit im Januar seinen Reiz – es ist an Sehenswürdigem so üppig beladen, dass die Stadt auch ohne Sonne und Wärme durchaus Bestand hat. Ich kam mir als einsamer Ausflügler in diesem Winteridyll fast wie ein Störenfried vor.
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