Textatelier
BLOG vom: 13.02.2009

Brutale Milch-Behandlungen: Zusätzlich erschossene Leiche

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
„In gährend Drachengift hast Du
die Milch der frommen Denkart mir verwandelt;
zum Ungeheuren hast Du mich gewöhnt …“.
Friedrich Schiller, „Wilhelm Tell“
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Kühe überzüchten und auf Höchsterträge trimmen. Die Milch pasteurisieren, homogenisieren, uperisieren. All diese Phasen der Milchtorturen über das Pasteurisieren hinaus habe ich als Konsument im Verlaufe meines langen Lebens durchgemacht. Und ich war nach alledem naiv genug zu glauben, dass nun ein ehemals lebendiges Naturprodukt, das beste Eigenschaften für die Kälberaufzucht hat, die oberen Grenzen der technologischen Zerstörbarkeit und der Umwandlung in ein reines Industrieprodukt erreicht habe. Doch schon wieder habe ich mich getäuscht. Jetzt werden noch weitere Behandlungsschritte draufgesetzt: Die Hochpasteurisation und die Mikrofiltration, und schon wieder passiert Wunderbares: Die zu Tode getötete Milch „überlebt“ als mehrfach erschossene Leiche selbst ungekühlt im Verkaufsregal länger als die UHT-Milch, die auf 135 bis 155 Grad C erhitzt wurde und dabei einen Caramelgeschmack erhielt. Sie bringt es selbst ungekühlt auf eine Lebensdauer (ich würde da zwar lieber von Agonie sprechen) bis zu 84 Tagen. Zum Vergleich: Frischmilch muss gekühlt werden und hält nur selten länger als 10 Tage.
 
Das neue Milchwunder heisst ESL-Milch, nicht zu verwechseln mit Eselsmilch (Esel tun so etwas nicht). Die amerikanische Abkürzung bedeutet Extended Shelf Life = längere Haltbarkeit. Der Name weist auf den traditionellen ESL-Markt in den USA hin, und wir Europäer sind wieder einmal dabei, diesen Blödsinn zu übernehmen: nach den Quatschpapieren jetzt also auch noch die Quatschmilch. Dieses Sterilprodukt gemäss US-Vorgaben soll nach den Wünschen des Handels als „frisch“ verkauft werden, ein Etikettenschwindel sondergleichen, oder aber er möchte die Verpackung mit dem irreführenden Aufsteller „länger frisch“ schmücken. Der Kochgeschmack dieses Industrieprodukts und der Vitaminverlust werden heruntergespielt oder ins Gegenteil verkehrt.
 
In Deutschland sollen laut einem TAZ-Bericht (05.02.2009) selbst Biomärkte wie Alnatura und Basic auf den ESL-Schwindel hereingefallen sein. In der Schweiz hat ausgerechnet Coop damit begonnen, diese Industriemilch zu vermarkten – jener Grossverteiler also, der sonst gelegentlich sein Herz für Bioprodukte öffnet. Man wolle den Konsumenten entgegenkommen, wurde aus dem Hause Coop bekannt, dabei kommt man schon eher der erleichterten Vermarktung, also dem Handel, entgegen. Trotz des technologischen Mehraufwands wird die ESL-Milch zum gleichen Preis wie pasteurisierte und homogenisierte Pastmilch abgegeben (homogenisiert wird immer – siehe weiter unten). Die Milchmädchenrechnung ist diesmal etwas verschlungener. Am Schluss wird es dann wohl nur noch dieses total kaputte Produkt geben. In Österreich hat die neue Milch bereits einen Marktanteil von etwa einem Drittel.
 
Ein Hoffnungsschimmer: Die Migros hat diesen Nonsens bisher nicht mitgemacht.
 
Ein Kapitel Milchgeschichte
Noch nie in meinem langen Leben habe ich eine Kuh gesehen, die sich ihre Milch abzapft, durch winzige Düsen presst, mit hohem Druck von 100 (Pastmilch) bzw. 250 bar (ultrahocherhitzte Milch, UHT) auf eine Stahlplatte schleudert und erst dann ihrem Nachwuchs verfüttert, dabei nach einem Unternehmerpreis für Innovative Ausschau haltend. Auch habe ich noch nie ein Rindvieh in flagranti bei der Mikrofiltration erwischt. Die friedliche, höchst intelligente Kuh ist auf Effizienz eingestellt, serviert ihre Milch ihrem Nachwuchs frisch ab Euter, roh. Ein Vorbild.
 
Den wesentlich komplizierteren menschlichen Umgang mit der Kuhmilch nennt man z. B. Homogenisierung. Diese beruht darauf, dass viele Milchtrinker den Rahm, der sich auf der naturbelassenen Milch ansammelt, wenn man sie herumstehen lässt, nicht mögen. Also kamen findige Wissenschaftler darauf, die in der Milch enthaltenen Milchfettkügelchen zu zertrümmern. Dadurch verkleinern sie sich (die Fettpartikel, nicht die Wissenschaftler) von 3 bis 4 μm auf weniger als 1 μm (= 1/1000 mm). Sie verteilen sich jetzt gleichmässig (homogen) in der Milch; denn das Milchfett mit seiner wesentlich vergrösserten Oberfläche hat die Lust am Aufrahmen jetzt definitiv verloren; seine Auftriebskraft ist zu gering. Die „Haut“ (der „Pelz“, wie man in der Schweiz sagt) bildet sich nicht mehr. Zudem täuscht die Homogenisierung in abgestandener Milch Frische vor – es ist also eine Schönung, die aber nicht nur schöne Seiten hat. Die Kraft zur Weissfärbung oder Aufhellung (etwa des Kaffees) wird erhöht. Allerdings verliert die Milch ihren vortrefflichen honigartigen Rahm-Casein-Goût, und sie ist jetzt ein geschmacklich langweiliges Sterilprodukt, das lichtempfindlicher geworden ist und nicht mehr in Glasflaschen verkauft werden kann.
 
Die Milch ist eines der empfindlichsten Produkte überhaupt, und entsprechend gross sind die Folgen, wenn man sie mit Holzhackermethoden terrorisiert. In den 1980er-Jahren sagte der Mikrobiologe Willi Hauert, Ittigen BE, an einer Milch-Informationstagung: „Gerade diese Labilität, so sehr sie die Arbeit erschwert, ist doch ein Zeichen der Empfindlichkeit und Empfänglichkeit, der Lebendigkeit und der Ursprünglichkeit der Milch.“ Dementsprechend müsste man die Milch, die zum höchsten aller Gefühle, dem Rohgenuss, bestimmt ist, dezentralisiert, also für die nähere Region, produzieren, in der Nähe verteilen und bald konsumieren. Hauert riet dringend zur biologisch-dynamischen Landwirtschaftsmethode.
 
Und Dr. B. Blanc, der ehemalige Direktor der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Milchwirtschaft in CH-3097 Liebefeld-Bern, schrieb im Rahmen der 1980 erschienenen Untersuchung „Ernährungsphysiologischer Vergleich von roher, pasteurisierter und ultrahocherhitzter Milch“, die Rohmilch sei das einzige Milchprodukt, „das die Bestandteile und Strukturen im nativen (natürlichen, unveränderten) Zustand enthält“. Doch die Globalisierung, die auch über die Milchwirtschaft hereingebrochen ist und in der Schweiz dem Emmi-Giganten fast alle Macht zugeschanzt hat, wirkt in der gegenteiligen Richtung (Grossmolkerei, Zentralmolkerei, Umherkarrerei). Und entsprechend wird die Milch angepasst: Sie muss massentauglich und möglichst lange haltbar sein; ob sie auch noch Gesundheitsansprüche erfüllen kann, spielt keine Rolle.
 
Zudem wurden die Kühe auf Hochleistung getrimmt, was zu häufigen Euterentzündungen und anderen Krankheits- und Degenerationserscheinungen führt, wie man sie ja auch aus dem Hochleistungssport kennt. Was „aus dem Hinterleib der Kühe“ (Wilhelm Busch) kommt, wurde allmählich suspekt – und das führt dazu, dass es bald nicht mehr „euterisiert“ ist.
 
Folgen des Milch-Murks
Im Buch „Der Murks mit der Milch“ von Max Otto Bruker und Mathias Jung (emu-Verlags-GmbH, D-56112 Lahnstein, 5. Auflage 2001), wird auf die Zusammenhänge von homogenisierter Milch und Herzkrankheiten hingewiesen (Seite 73 ff.): Laut Kurt A. Oster, Chefkardiologe am Park City Hospital, Bridgeport (Connecticut USA), „setzt die Homogenisierung das Milchenzym Xanthin-Oxydase frei, das nun die Darmwand ungehindert passieren kann, in die Blutbahn gelangt und die Arteriosklerose begünstigt. Nach seiner Beobachtung ist dies bei unbehandelter Rohmilch nicht der Fall (…) Damit ist eine dem Bild des Trojanischen Pferds vergleichbare Situation entstanden, wobei die Darmverdauung und die Magensäure das derart geschützte Eiweiss des Enzyms nicht mehr angreifen können. Wir haben das Milchenzym Xanthin-Oxydase in den weissen Blutkörperchen der menschlichen Milchtrinker nachgewiesen.“ Selbstverständlich hat die Milchindustrie immer wieder Wissenschaftler beauftragt, die solche Bedenken aus dem Wege zu räumen hatten.
 
Diffundiert das zertrümmerte Milchfett direkt in die Blutbahnen?
Allen Beschönigungsversuchen zum Trotze geht meine persönliche Vermutung dahin, dass das sozusagen fein pulverisierte Milchfett tatsächlich mehr oder weniger ungehindert in die Blutbahnen übergehen könnte. In der Zeitschrift „Labor+Sprechstunde“ hiess es in einem Artikel über die Gefahren aus der veränderten Milch, der sich auf ein Referat des deutschen Arzts H. Wolf, Sternberg, bezieht: „Die Fetttröpfchen der natürlichen Milch sind von einer Grösse, die ihnen nicht gestattet, die Darmwand zu passieren, bevor sie nicht enzymatisch verarbeitet, verdaut worden sind. Die durch Homogenisierung zertrümmerten Fettteilchen werden infolge ihrer minimalen Teilchengrösse durch die Darmzotten ohne Weiteres resorbiert und in nativem Zustand über die Lymphbahn dem Blut zugeführt. Dadurch gelangen unverdaute Fettpartikel in den Organismus, mit ihnen ein Enzym, die Xanthinoxidase, welche beschuldigt wird, die pathologische (krankmachende) Ablagerung von Lipiden (Cholesterin, Triglyceriden) an der Gefässinnenwand zu begünstigen. Das ist bekanntlich ein Faktor, der bei der Atherogenese (Entstehung und Entwicklung der Arteriosklerose) eine wichtige Rolle spielt. Es ist auch der Verdacht geäussert worden, dass die Xanthinoxidase Nervenscheiden in analoger Weise krankhaft verändert, was letztlich zur Entstehung der Multiplen Sklerose führen könnte.“
 
Falls das alles bestätigt und bekannt würde, wäre dies der Super-Gau für die Milchverarbeiter. Vorerst konnte dieser durch konstruierte Widersprüchlichkeiten noch hinausgeschoben werden. Es ging gar so weit, dass Ende Mai 1985 die Schweizer Kantonschemiker vor unbehandelter Rohmilch „eindeutig gewarnt“ haben, was gewisse Rückschlüsse auf die nach modernen Methoden (mit hochgezüchteten Kühen, Gras von Kunstwiesen, Silagenfütterung usf.) produzierte Kuhmilch erlaubt. Erwiesen ist immerhin eindeutig, dass die Industriemilch im Darm ein vollkommen anderes Verhalten als Rohmilch zeigt. Aber das wird dem Volk verschwiegen.
 
Bei dem technischen Hochdruckverfahren der Homogenisierung kommen selbstverständlich auch die Eiweissmoleküle, insbesondere das Casein, nicht ungeschoren davon; sie lagern sich in ihrer Not an die Minifettkügelchen an. Die dermassen veränderte, verunstaltete Milch wird nun in viel kürzerer Zeit als Rohmilch verdaut, das heisst, sie passiert den Magen schneller. Besonders verhängnisvoll wirkt sich dies auf Kleinkinder aus, deren noch unreifer Verdauungstrakt eine höhere Durchlässigkeit (Permeabilität) für Eiweiss hat. Das Immunsystem reagiert nachhaltig auf das misshandelte Naturprodukt, und das Resultat kann dann beispielsweise Milchallergie heissen.
 
Die Aspekte der Auslösung von Milcheiweissunverträglichkeiten durch homogenisierte Milch hat eine dänische Wissenschaftlergruppe um Poulsen bereits 1987/90 unter die Lupe genommen, die einen möglichen Zusammenhang zwischen homogenisierter Muttermilchersatznahrung und Milchallergien beschrieb – in Übereinstimmung mit Beobachtungen von Eltern und Kinderärzten.
 
Das Pasteurisieren
Natürlich wird die handelsübliche Milch auch noch pasteurisiert, damit allfällige krankmachende Keime abgetötet und die Haltbarkeit erhöht werden. Es gibt verschiedene Verfahren:
• Kurzzeiterhitzung: 71‒74 °C während 45 Sekunden,
• Hocherhitzung: 85°C während 10‒15 Sekunden,
• Ultrahocherhitzung (Uperisation, H-Milch): 135‒155 °C für 3‒6 Sekunden und
• Sterilisierung: 110‒120 °C während 10‒30 Minuten.
 
Bei den brutaleren Past-Prozeduren werden nicht nur die Keime in der Milch, sondern gerade auch noch die Milchsäurebakterien umgebracht, das heisst, dass das bakterielle Gleichgewicht gestört wird. Deshalb wird die Milch bei längerer Lagerung faul und nicht mehr sauer. Keime, die auch die Kältelagerung überlebt haben, spalten das Milcheiweiss und setzen stinkende Schwefelverbindungen frei. Hinzu kommen noch erhebliche Vitaminverluste; insbesondere wird das Vitamin B12 fast vollständig abgebaut.
 
Blick in die Verkaufsregale
Ich habe mir in den letzten Tagen die Mühe gemacht, vor allem bei den Grossverteilern nach einer nicht homogenisierten und unpasteurisierten Rohmilch Ausschau zu halten … vergebens! Sogar die Biomilch in all ihren Ausprägungen wie als „Bergmilch“ ist durchgängig homogenisiert (selbstverständlich auch pasteurisiert oder uperisiert). Ich startete dann eine Anfrage an die Emmi Schweiz AG, Habsburgerstrasse 12, CH-6002 Luzern, wo denn eine nicht homogenisierte Milch im Umfeld von Aarau noch erhältlich sei. Milena De Nisi von Emmi-Konsumentendienst antwortete prompt und kompetent:
 
Jede Milch, die wir in Suhr produzieren, ist homogenisiert. Bloss Milch in Demeter-Qualität ist nicht homogenisiert. Solche Milch produzieren wir in Suhr allerdings nicht. Evtl. macht das Biedermann. Dies weiss ich allerdings nicht. Demeter-Milch findet man in der Regel im Reformhaus oder in speziellen Bio-Läden.
 
Für Coop produzieren wir homogenisierte Milch in folgenden Qualitäten:
Pasteurisierte Milch
Hochpasteurisierte Milch
UHT-Milch
Pasteurisierte Bio-Knospe-Milch
UHT Bio-Knospe-Milch.
 
Zudem findet man in fast jeder Qualität zusätzlich noch Milch mit unterschiedlichem Fettgehalt (Vollmilch, teilentrahmt etc.). Es gibt auch verschiedene Verpackungen: Tetra Base, Tetra Top, Flaschen, 1 l, 0,5 l etc. Der Kunde sollte bei Coop also eine grosse Auswahl haben!
 
Wir hoffen, Ihnen damit geholfen zu haben.“
 
Ja, an Auswahl fehlt es fürwahr nicht … aber in dieser Auswahl fehlt die sorgfältig produzierte Rohmilch – selbst die Bio-Ziegenmilch ist homogenisiert.
 
Man kann solche Rohmilch zum Glück noch vielerorts ab Hof kaufen. Zudem ist die Demeter-Organisation die einzige, die erfreulicherweise bis heute am Verbot der Homogenisierung der Demeter-Milch-Erzeugnisse festgehalten hat.
 
Zum Beispiel im Müller-Reformhaus, Färbergässli 10, CH-5000 Aarau, gibt es solche biodynamische Demeter-Rohmilch zu 2.40 CHF pro Liter, auf der auch der Produzent (wie: Familie Lang, CH-4655 Rohr SO) vermerkt ist. Dazu steht auf der Deckel-Etikette der weissen PEHD-Flasche (Polyäthylen): „Vor dem Konsum auf 70° erhitzen (dieser Hinweis ist gesetzliche Vorschrift).“
 
Ich ziehe meinen Hut wieder einmal tief vor der anthroposophischen Weltanschauung, ohne damit irgendwie verbunden zu sein. Doch stelle ich immer wieder fest, dass diese Organisation tatsächlich nach weisen und menschengerechten Lösungen im Ernährungssektor sucht. Dort fragt man nicht einfach nach Gesichtspunkten wie der technischen Machbarkeit, nicht einfach nach den Ergebnissen chemisch-analytischer Forschung und Handelserleichterungen, sondern nach der inneren Struktur der Nahrungsmittel, die Lebensmittel sein müssen, auch nach dem Wesen der Natur alles Lebendigen, einschliesslich der Gesundheit des Bodens. Lauter Dinge, die bei der seit kurzem tödlich erkrankten neoliberalen, rein ertragsorientierten Wirtschaftsweise in Vergessenheit geraten sind.
 
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