Textatelier
BLOG vom: 05.03.2009

Das Falzbein, über das nichts zu sagen ist, und die Fee

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
In meiner Pultschublade lag schmutzig und arg vernachlässigt mein Falzbein aus Knochen, 15 cm lang und etwa 2 cm breit, das in eine abgerundete Spitze auslief. Ich hatte es lange zweckentfremdet beim Restaurieren von alten Bilderrahmen benutzt und verstrich damit Leim oder Füllkitt in die Fugen. Das Falzbein hatte seine Glätte verloren und tat mir Leid.
 
Ich reinigte mein Falzbein mit allerlei Mitteln, die den verkrusteten Leim und Kitt lösten und frottierte es mit Wachs auf Hochglanz. Wie glatt es sich anfühlte!
 
Wer schreibt, hat immer viel Makulatur. Ich pflückte ein Sudelblatt und ging in die Küche. Ich faltete das Blatt mehrmals und falzte es mit dem Falzbein kantenscharf. Einen Flieger wollte ich aus dem Blatt machen, wie einst als Knabe. Was ich damals im Handumdrehen fertig brachte, misslang mir. Mein Flieger segelte nicht, sondern stürzte sofort ab.
 
Der Rücken des Falzbeins ist leicht gerundet. Ich zwirbelte es auf dem Küchentisch. Bis zu 15 Mal kreiste es um sich selbst. Ich spielte damit eine Viertelstunde, bis zum Abendessen, als Lily die Tischfläche beanspruchte. Vielleicht könnte das kreisende Falzbein zu meinem Wahrsager werden, dachte ich. So spielte ich mit ihm nach dem Essen weiter.
 
Soll ich ein Blog über das Falzbein schreiben, fragte ich meinen Wahrsager. Wenn er gegen Mittag, also 12 Uhr wies, wäre meine Frage bejahend gelöst. Und ein Ja war die Antwort. Jetzt liegt das blanke Blatt verlockend einladend vor mir im PC und wartet hungrig auf meine Texteingabe. Was lässt sich über das Falzbein sagen? Nichts, rein gar nichts. Die Schreibpause verlängerte sich, währenddem ich nach einem Einfall suchte. Denn es entspricht nicht meiner Art, einfach aufzugeben. Ich zwirbelte ihn wiederum und überhäufte ihn mit Fragen. Soll es die Entwicklungsgeschichte des Falzbeins sein? Ich kriegte sein Nein zur Antwort und gab meinem Wahrsager Recht. Das wäre langweilig für mich und auch für die Leser. Sollte ich das Falzbein in einen Kriminalfall verwickeln: das Falzbein als Mordinstrument? Der Bescheid war wiederum negativ.
 
Schliesslich gab ich meine Fragerei auf und überliess dem Falzbein die Initiative. Dabei rieb ich den Knochen wie Aladin seine Wunderlampe. Und siehe, es erschien mir eine holde Fee und trug ein Falzbein in ihrem schmucken Wellenhaar. Sie trat zu mir und schaute über meinen Rücken aufs Blatt.
 
„Hast du bemerkt, dass ich dein Falzbein im Haar trage?“ begann sie. Fürwahr, sie hatte ihn mir vor der Nase vom Tisch geklaut. Die schöne Fee beugte sich weiter vor, und ich wurde ganz verlegen. Als sie sich aufrichtete, trug sie meine Brille. Ich war baff.
 
Es kam noch schlimmer, als ich meinen Parker mit der dünnen Bleimine zwischen den feingliedrigen Fingern ihrer rechten Hand sichtete. „Ich dachte, eine Fee sei gütig und keine Kleptomanin“, protestierte ich, meines Schreibzeugs und der Brille beraubt. „Das sind meine unentbehrlichen Utensilien für mein Handwerk“, drehte ich mich vorwurfsvoll nach ihr um. Verflixt nochmals, als ich mich wieder gegen den PC drehte, war mein Blatt gelöscht.
 
„Sei unbesorgt“, sprach mir die Fee zu, „ich werde dich mit meiner Geschichte belohnen, worunter du deinen Namen setzen darfst.“ Rasch winkte ich ab und sagte, ich sei nicht aufs Plagiat angewiesen. „Jemand wie du ist auf die Muse angewiesen. Bilde dir ja nicht ein, dass die Einfälle einfach deiner Phantasie entspringen. Ohne mich würdest du nichts anderes als öde Geschäftsberichte schreiben.“
 
Aus dem Konzept gebracht, schwieg ich. „Diesem glitzernden Stern hast du zuvor keine Beachtung geschenkt“, wies sie gegen ihren Busen und erfasste den Stern. Und wie sie ihn aus dem Gewand hochzog, sah ich, dass es ein Zauberstab war, so wie er in Märchenbüchern abgebildet ist. Sie behauchte den Stern, löste alsdann das Falzbein aus dem Haar und berührte ihn mit dem Zauberstab. „Gestern als du dein Falzbein zum Wahrsager gemacht hast, fehlte ihm nur eines: meine Zauberkraft“, sagte sie und reichte mir das Falzbein, zusammen mit meiner Brille und dem Parker. Auf dem Bildschirm erschien wieder meine entschwundene Seite. „Damit das Falzbein seine magische Kraft behält, darfst du ihm keine dumme Fragen stellen“, ermahnte mich die Fee, „am besten keine.“ Ratlos wiederholte ich: „Keine dummen Fragen?“
„Du darfst keine materiellen Vorteile jeglicher Art vom Falzbein verlangen. Behalte fortan das Falzbein auf dem Pult und reibe es, wie du das vorher gemacht hast, als du nicht mehr weiter wusstest. Dann erscheine ich und stehe dir als Muse bei.“ Kaum hatte sie das gesagt, entschwand sie, und ich konnte meine Seite beenden.
 
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