BLOG vom: 09.03.2009
Slow Food Schweiz: Lebensmittel selber frei wählen dürfen
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
„Ernährungssouveränität“ war der erste Begriff, den ich im Festsaal des Schlosses Münchenwiler (Villars-les-Moines, Kanton Bern, nahe bei Murten) aufschnappte; ich war mit Verspätung eingetroffen. Der gebürtige Madrider Rafael Pérez-Frei, Zürich, eine gereifte, kraftvolle Persönlichkeit mit Sinn für die Nöte der Welt und im besinnlichen Denken geschult, lief gerade zur philosophischen Hochform auf. Er ist Präsident von Slow Food Schweiz (3000 Mitglieder) sowie Mitglied des internationalen Vorstands und ein Lehrer in Ess- und Trinkkultur mit Blick für Wesentliches.
Bei der Ernährungssouveränität, der im September 2009 ein Welttag gewidmet sein soll, geht es um die Möglichkeit zur freien, unabhängigen Wahl dessen, was man essen soll – im Gegensatz zu einer standardisierten Nahrung, die einem förmlich aufgezwungen wird. Zur Wahlfreiheit im Lebensmittelbereich gehört der Schutz der Biodiversität, also der biologischen Vielfalt. Angestammte Pflanzen und Tiere sind an die Eigenschaften des Standorts angepasst, und wenn die Artenzahl immer mehr abnimmt, trifft dies vor allem die Armen, die es überall auf der Welt in zunehmender Zahl gibt und die oft Selbstversorger sind. Die Völker verlieren dann ihre Identität. Im Moment findet laut Rafael Pérez überall auf der Welt ein enormer „Entkulturalisierungsprozess“ statt. Dementsprechend müsse der Schutz der lokalen Produktion das zentrale Anliegen sein, auf dass der Mehrwert vor allem dort bleibe, wo produziert wird. Und der Präsident sagte zu den aus der ganzen Schweiz angereisten Delegierten im Weiteren mit Nachdruck und im Brustton der mitreissenden Überzeugung, eine dezentralisierte Landwirtschaft sei effizient und produktiv. Ich persönlich empfand das als Absage an die plattwalzende Globalisierung, die sich im Moment ja gerade selber abzuschaffen im Begriffe ist. Höchste Zeit.
Gegen einen massvollen Welthandel sei nichts einzuwenden, fügte der Referent bei. Aber wenn Produzenten annähernd verhungern würden, damit wir in den wohlhabenden Ländern etwas zu essen bekommen, dann stimme doch etwas nicht mehr. Allzu viele Menschen, die nichts mit der Produktion zu tun haben, verdienten zu viel. Der Präsident sprach vom „Essen als Menschenrecht“, aber auch vom „Recht auf Genuss“ und vom „Recht vom Wissen über den Genuss“.
Fastenkur wegen des Staus
Als ich all diese tief schürfenden Worte aufsog, weil sie mir aus dem Herzen sprachen, begann ich am eigenen Leib zu erfahren, was Hunger bedeutet. 4/5 der fünfköpfigen Aargauer Slow-Food-Delegation hatten sich im geräumigen Citroën von Erich Wintsch aus Oberwil-Lieli AG zusammengefunden, um die Strecke nach Münchenwiler gemeinsam Diesel-sparend hinter sich zu bringen. Doch an jenem Samstagvormittag, 07.03.2009, stauten sich die Autos auf der A1, als ob die Strasse bei Bern mit einem Zapfen dicht verschlossen worden sei. Bei aller Begeisterung für die Langsamkeit (slowness) ging uns Slow-Food-Delegierten das denn doch zu weit. Bei Wangen an der Aare befreiten wir uns aus diesen stehenden, dann dahin schleichenden Kolonnen und umfuhren die Verstopfung grossräumig, zuerst einmal über die gedeckte, aus dem 16. Jahrhundert stammende Holzbrücke über die Aare und ins Zähringerstädtchen und weiter nach Westen. Doch mit diesem Ansinnen waren wir wiederum nicht allein auf weiter Flur, insbesondere die langfädige Passage von Biel frass mehr Zeit als wir erwartet hatten. Und so langten wir denn erst im Schloss Münchenwiler an, als der Mittagslunch im Kirchenschiff mit verschiedenen Wurstdegustationen wie einer Churer Beinwurst, wie ich mir sagen liess, längst beendet war. So kann ich hier nicht aus 1. Hand berichten, ob das Mittagsmahl aus Wurstproben auf dem berühmten Abendmahlstisch aus dem nahen Aventicum ausgebreitet war, von wo aus üblicherweise das Brot des Lebens verteilt wird.
Von morgens 7 bis nachmittags 16 Uhr hatte ich nichts mehr getrunken und gegessen. Aus der Unterzuckerung ergab sich ein Heisshunger, und als es dann endlich Zeit für eine Kaffeepause war, beorderte ich sämtliche Lebensgeister mit Süssmost, Kaffee und delikatem Feingebäck zurück. Die Fastenkur konnte als definitiv beendet erklärt werden.
Das Schloss Münchenwiler
Ich fand sogar noch Zeit zu einer kurzen Aussenbesichtigung der malerischen, verwinkelten Schlossanlage, ein ehemaliges Cluniazenserpriorat, das zwischen 1537 bis 1553 zu einem Herrensitz wurde, wovon unter anderem ein Wappenrelief der von Graffenried, die 1668 hier einzogen, aus der Mitte des 19. Jahrhunderts beim Vierungsturm Kunde gibt. Der 1. Käufer war Hans Jakob von Wattenwyl.
Die Ostteile der Kirche aus dem 12. Jahrhundert blieben erhalten; und vom Langhaus sind noch die Dachansätze und der Triumphbogen an der Westseite des erwähnten Turms erkennbar. Die gewaltigen Zedern im grossen, im Frühlingserwachen begriffenen Park, die ebenfalls eine Jahrhunderte lange Geschichte erzählen, wetteifern an Höhe mit den spät- oder nachgotischen Ecktürmen unter steilen Zeltdächern im Südosten bzw. Südwesten der Anlage. Der Park ist von einer Umfassungsmauer umgeben. Das kleine, kompakte Dorf Münchenwiler, eine bernische Enklave im freiburgischen Gebiet, ist ganz in der Nähe.
Traktanden-Cocktail
Die Vereinsgeschäfte rissen mich in die Gegenwart zurück. Die Behandlung der statutarischen Traktanden unter der Leitung des Geschäftsführers Raphael Pfarrer im schwarzen Pullover war nur so formell, wie es unbedingt sein musste. Giuseppe Domeniconi wurde als Vizepräsident ebenso bestätigt wie die übrigen Vorstandsmitglieder. Die neue Zeitschrift „slow.ch“, von Ursula Hasler konzipiert und geleitet, riss zwar ein Loch in die von Markus Gehri, Bern, geführte Kasse; doch das gehört zur Aufbauphase einer neuen Publikation auf dem pickelharten Pflaster des Druckmedienmarkts. Die Zeitschrift soll in Zukunft nur noch in Deutsch erscheinen, zumal es an Inseraten aus der Westschweiz mangelt. Die professionelle Qualität des Publikationsorgans ist über jeden Zweifel erhaben. Im Budget 2009 sind für die beiden Ausgaben (2 und 3) total 70 000 CHF eingestellt. Der Mitgliederbeitrag für Einzelmitglieder bleibt auch ab 2010 auf 120 CHF; für Doppelmitglieder wurde er von 150 auf 160 CHF erhöht. Jugendmitglieder (bis 25 Jahre) bezahlen unverändert 50 CHF. Die Statuten werden nächstes Jahr neu aufgerollt.
Salzkuchen
Im Dorfofenhaus hatten Münchenwilerinnen den Backofen in Betrieb genommen; denn der Mensch lebt nicht von Statuten allein. Ein Berg von Glut im hinteren Teil des Feuerraums wartete bei ungeduldigem Flimmern darauf, die Salzkuchen-Räder mit einem Durchmesser von fast einem halben Meter im Eiltempo zu backen.
Traktandum 1: Die Kuchen bestehen aus einer dünnen Brotteilschicht, auf die kleine Würfeli eines nicht allzu festen geräucherten Specks und Kümmelsamen gestreut werden. Zudem kommt etwas leicht angeschlagener Rahm darauf; er muss ein bisschen fest sein, damit er nicht über die Ränder weglaufen kann.
Traktandum 2: Die grossen Stücke dieses einfachen und äusserst wohlschmeckenden Gebäcks wurden im Dorfzentrum zu weissen und roten Weinen aus CH-2088-Cressier NE (Jungo & Fellmann), CH-1788 Praz-Vully FR (Jean-Daniel Chervet) und CH-2513 Twann BE (Julia und Adrian Klötzli) genossen: eine Portion Westschweizer Lebensart, die laufend durch neue, lange, spitzwinklige und zart rahmig-rauchig duftende Salzkuchen-Elemente neuen Auftrieb erhielt. Ich werde in Zukunft nicht mehr von einem Röstigraben, sondern von einer Salzkuchenkette sprechen.
Das Festmahl
Wenn ich anschliessend dem Nachtessen im Schloss etwas viel Zuwendung angedeihen lasse, so hat das einerseits mit Nachwirkungen meiner Hungerkur zu tun, die es definitiv zu überwinden galt, und anderseits mit der Zubereitung erstklassiger Zutaten aus dem Slow-Food-Sortiment. Ich tue es eingedenk und trotz der unbestrittenen Tatsache, dass es laut Rafael Pérez nicht angeht, die Slow-Food-Organisation auf Nahrungsmittel zu reduzieren, sondern sie ist ein Bestandteil der übergeordneten Terra-Madre-Philosophie (www.terramadre.org). Der Name „Terra Madre“ (Mutter Erde) umfasst ein Netzwerk aus Menschen, „die aktiv handeln wollen, um nachhaltige Methoden der Lebensmittelproduktion im Einklang mit der Natur, der Landschaft und der Tradition zu bewahren, zu ermutigen und zu fördern“.
Der Chefkoch des Schlosses Münchenwiler, der deutschstämmige Gerald Wolfstädter, der seit 19 Jahren in diesem Haus, wo viele Seminare und Tagungen stattfinden, fürs leibliche Wohl sorgt, hatte sich bemüht, beste regionale Produkte aus kleingewerblicher Produktion in die 4 Gänge einzubeziehen. Dazu gehörte ein Baumnussöl aus der Ölmühle von Heinz Schuler in 1562 Corcelles-près-Payerne fürs Dressing des Rapunzelsalats (Nüsslisalat) mit Alfalfasprossen zu Marroni, einem Wintermelonengelée und einem Zincarlinkäse aus dem Valle di Muccio (Casima) im Tessin, diesem mit Pfeffer gewürzten Rohmilchkäse, der täglich mit Salz und Wein liebevoll eingerieben wird. Wer so viel Zuneigung erfahren hat, wird bestrebt sein, allen Geniessern Freude zu bereiten.
Äusserst wohlschmeckend war ein gebratener Zander aus dem Murtensee, den eine Traminersauce (mit Wein von Chervet) bei seinem letzten Schwimmen begleitete. Der klein geschnittene Winterlauch vom Bio-Weberhof in Ins BE trug eine exzellente Geschmacksnote bei. Das Gericht war mit roten Fäden aus Chili dekoriert.
Eine gerollte Lammschulter stammte aus der Schafzucht Fifian in Faoug VD. Die Umgebung bestritten glasierte rote Zwiebeln, Rosmarin, ein Kartoffelpüree mit Kürbis und geschmortes Rotkraut.
Das Dessert bestand aus Apfelküchlein mit Farina-bona-Teig und hausgemachter Sanddort-Rahmglace. Das „gute Mehl“ ist ein geröstetes Maismehl aus dem Onsernonetal mit feinem Caramelgeschmack.
Die Winzerin Franziska Chervet aus Praz (www.domainechervet.ch) stellte die dazu servierten Weine (alle mit Jahrgang 2007) vor: den fruchtigen, geschmeidigen Ligerzer Sylvaner von Erich Andrey, sodann den Vully Cuvée de l’Arzille von Chervet, sozusagen ein Metafusionsprodukt aus Freisamer, Grauburgunder und Sauvignon blanc, die zuerst in separaten Barriques ruhen und dann zusammen verheiratet werden. Dann ist der füllige Pinot Noir aus dem Johanniterkeller von Martin Hubacher aus Twann (Traubenertrag: 800 g/m2) zu nennen, wie auch der tatsächlich goldene Vully Gouttes d’Or aus dem Hause Chervet, eigentlich eine Art Eiswein oder Strohwein aus getrockneten Pinot-gris- und Gewürztraminertrauben, der etwa 10 Monate im Fass war und nicht etwa sirupartig anmutete. Für ein 225-l-Fass braucht es rund 1000 kg Trauben.
Das wars dann schon. Da ich mit einem verantwortungsbewussten Chauffeur unterwegs war, konnte ich die Delikatessen unbeschwert geniessen. Als wir zu Viert und mit gemehrtem Wissen über den Genuss gegen Mitternacht langsam, aber sicher in den Aargau zurückfuhren, machten uns weder der Magen noch die A1 Schwierigkeiten. Das erstrebenswerte Leben ohne Eile hatte am Esstisch wieder neu begonnen.
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