BLOG vom: 19.06.2009
Gipf-Oberfrick AG: Wo Kirschen die Landschaft rot einfärben
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
Was ein richtiger Kirschbaum ist, lässt sich immer wieder eine neue Attraktion einfallen: Zuerst das Weiss der Kirschblüten und dann das Rot oder Schwarz der reifen Früchte, dann die Herbstfärbung. Im Moment ist der 2. Programmteil im Angebot: Die ersten Kirschen sind reif.
Die Kirschen sind auch die ersten einheimischen Früchte im Jahr. Und um mir diesen Genuss nicht entgehen zu lassen, wanderte ich am 16.06.2009 den Chriesiwäg (Kirschenweg) im aargauischen Gipf-Oberfrick noch einmal ab, 2 Monate nach meiner Kirschblütenwanderung durch die gleiche Landschaft. Bei einer sommerlichen Temperatur um 24 °C spazierte ich zwischen Wolberg und Homberg (Tiersteinberg) gegen den 513 m hohen Farschberg hinauf. Eine jüngere Bäuerin auf dem Felde rief mir einen freundlichen Gruss zu – um sich dann sogleich dafür zu entschuldigen ... sie habe gemeint, ich sei ein alter Oberfricker. Ein Alter schon, aber kein Oberfricker, erwiderte ich ins Grüne hinaus. Vielleicht wurde ich in dieser muldenartigen Gegend schon fast wie ein Einheimischer empfunden. Was für eine Ehre!
Die Landschaft ist von Kirschbäumen dominiert, aber auch von anderen Nutzungen gekennzeichnet (kleine Rebberge, Wiesen und Getreideäcker) und natürlich von Siedlungen. Gipf-Oberfrick und Frick sind praktisch zusammengewachsen. Die Jura-Hügelwelt präsentiert sich auf ihre zurückhaltende, sanfte Art: Seckeberg, Chaisteberg, Frickberg, Schinberg u. a. m.
Auf Distanz betrachtet, erschienen einige Kirschbäume rostrot, und sie vermittelten das Gefühl, am Verdorren zu sein. Doch bei genauerem Hinsehen lässt sich das Rot, das das Blattgrün zunehmend überlagert, leicht als Kirschen erkennen. Man wird sich bewusst, dass man es mit der Familie der Rosengewächse (Rosaceae) zu tun hat. Die bedrohten Bienen haben also wieder einmal eine grossartige Leistung vollbracht und, wie es scheint, die hinterste und letzte Blüte bestäubt.
Die Zeit der Ernte war noch nicht ganz da; erst an einem Hochstamm war eine Leiter angestellt. Ein angenehmer Wind blies Blätter zur Seite und legte die hellroten, dunkelroten und schwarzen Früchte frei. Der Reifegrad war an ein und demselben Baum unterschiedlich. Doch die Vorbereitungen im Hinblick auf die Pflückarbeit liefen. Das Gras unter den Bäumen ist gemäht, und umso schöner heben sich die Hochstammbäume vom gelblichen Boden ab. In einer Hecke reiften Wildkirschen (Prunus avium) heran, kleine mittelrote Kügelchen, die ausgesprochen bitter schmeckten und offenbar nur ganz wenig Fruchtzucker enthalten.
Vielerorts wuchsen die beladenen Kirschbaumäste förmlich in den Luftraum des Chriesiwägs hinein. Die Früchte funkelten im Sonnenlicht wie Perlen, reine Verlockungen. Ich hob den Arm zum Gruss, wobei es nicht unterblieb, dass 2 oder 3 Kirschen zwischen den Fingern hängen blieben; das war einfach nicht zu verhindern. Sie waren fest, knackig, manchmal bitter, mehr oder weniger süss, mittelgross und also wahrscheinlich Industriekirschen. Richtige Kirschen alter Sorten, wie ich sie am liebsten esse. Was gibt es Besseres als Kirschen vom Baum! Bei blau markierten Bäumen ist das Degustieren ausdrücklich erlaubt. Ich leistete den toleranten Kirschenbauern insofern einen Dienst, als ich wegen meines auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit ausgerichteten Denkens die Steine in weitem Bogen ausspuckte und damit die Grundlage für weitere Bäume (Wildkirschen) legte, die dann bloss noch gepfropft werden müssen.
Beim Rückweg zum Unterdorf Gipf-Oberfrick überholte mich ein älterer Mopedfahrer mit einem orangefarbenen Spritzgerät auf dem Rücken, womit auch das Thema Würmer thematisch abgedeckt war, von dem ich auf den Informationstafeln nichts gelesen hatte. Doch liess ich mich weder von Spritzmitteln oder allfälligen Würmern (die ich als Hinweis auf einen ökologischen Anbau betrachte) davon abhalten, im Dorf nach einer Kirschenbezugsquelle zu suchen. Mitten im Dorf stand bei einem achteckigen Brunnen in gelber Leuchtschrift gross „KIRSCHEN, Doris und Siegfried Mellauer“. Beim Haus stand eine Art Kühlschrank, der leer war. Hier wäre das Kilo Kirschen für 5 CHF zu haben gewesen. Autos hielten, und fuhren ohne zusätzliche Last davon.
So folgte ich denn einem weiteren Plakat, auf das 2 grosse Kirschen unter der Schrift „Hier Oberfricker“ aufgemalt war. Schon vor der Eingangstür des Volg-Ladens waren durchsichtige Plastikschalen mit Kirschen für 4,50 CHF aufgereiht – doch eine Gewichtsangabe fehlte, ebenso wie die genaue Sortenbezeichnung und ein Hinweis auf den Produzenten. Ich vermutete, dass sie zur modernen Tafelkirschensorte Summerset gehören. Es seien 500 g drin, erfuhr ich im Laden auf Anfrage; die Bedienung war ausgesprochen freundlich. Der Kilopreis legt heute vielerorts bei 9 CHF. Tafelkirschen müssen sorgfältig von Hand geerntet werden. Die dunkelroten Kirschen, die ich kaufte, waren gross und schön anzusehen. Sie erwiesen sich aber als eher weich denn knackig, und der Geschmack war bescheiden, obschon sie tadellos ausgereift waren.
Im Volg gibt es auch Oberfricker Kirsch zu kaufen; doch fehlt die Produzentenangabe, so dass ich es bleiben liess. Mich interessieren eben alle Einzelheiten, wie es sich für einen kritischen Konsumenten gehört. Somit existiert auch in solchen Belangen, ähnlich wie bei den Hochstammfrüchten, noch ein gewisses Reifepotenzial. Was nicht ist, wird schon noch werden.
Beim Menschen bedeutet das Reiferwerden laut Hugo von Hoffmansthal „schärfer trennen, inniger verbinden“. Man wird wählerischer und sieht Zusammenhänge – oder man wünscht sich die Angaben, die dieses vernetzte Sehen erlauben. Unter solchen Voraussetzungen ist mit uns Alten gut Kirschen essen.
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