BLOG vom: 05.07.2009
Nostalgiefahrt mit etwas Rost: Oberdorf–Weissenstein retour
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
Eine verhältnismässig einfache, durchschaubare Technik wie eine Dampflokomotive oder eine Seilbahn hat ihren unwahrscheinlichen Reiz. Der Betrachter versteht, was sich abspielt, erhält einen Eindruck von den wirkenden Mechanismen und Kräften. Und wenn solche Meisterwerke der Technik in die Jahre gekommen sind und ausrangiert werden müssen, bildet sich ein grosser Widerstand gegen ihr Verschwinden, weil sie den Status eines Technik-Denkmals erlangt haben. Davon können die Betreiber der Seilbahn Weissenstein, die auf den Hausberg der Solothurner führt, ein Liedlein singen.
Der Weissenstein (1280 m ü. M.) wird seit dem 18.Jahrhundert touristisch genutzt, weil er eine tolle Aussicht vom Säntis einerseits bis zum Mont Blanc anderseits offeriert, wenn sich nicht Nebel oder Wolken dazwischen schieben. Zudem wurden dort die beliebten Molkenkuren angeboten. 1828 konnte das vom geschäftstüchtigen Solothurner Arzt Johann Carl Kottmann (1776‒1851) initiierte Kurhaus eingeweiht werden, nachdem bis dahin die Sennhütte nördlich unter dem Kurhaus (heute ein Berggasthaus und Bauernbetrieb) als primitive Unterkunft gedient hatte. Der Berg war durch eine teilweise sehr steile, befahrbare Strasse erschlossen – wie heute noch. Die jetzt altersschwache Sesselbahn wurde 1950 in Betrieb genommen.
Nostalgie und Neues
Am 01.07.2009 habe ich mich – im Zusammenhang mit einer Jurawanderung – noch einmal zu einer Berg- und Talfahrt im schwankenden Sesseli mit Sicherheitsbügel entschlossen, um noch einmal wie ein etwas unförmiger Vogel ohne Flügel und Federn in der Luft zu schweben. Als ich das Billett in Oberdorf SO (661 m ü. M.) löste, las ich eine Aufforderung zu einer Nostalgiefahrt, wie es sie noch bis zum 01.11.2009 gebe. Ab dem 02.11.2009 wird der Seilbahnbetrieb dann definitiv eingestellt, nicht weil es Winter werden dürfte, sondern weil die Konzession abgelaufen ist. Aus.
Also war mein Vorhaben, das mich mit dem Halbtax-Abonnement hin und zurück 10.50 CHF kostete (wenig mehr als für den Parkplatz: 6 CHF für 6 Stunden), nichts anderes als eine solche Nostalgiefahrt. Eine von Sehnsucht an vergangene gute Zeiten erfüllte Gestimmtheit übermannt einen bereits im alten Schalterraum im Obergeschoss des alten Bahnhofgebäudes Oberdorf. Hinter dem Schalterfenster mit der gealterten Holzeinrahmung werden Fahrkarten wie damals auf SBB-Bahnhöfen verkauft, und man kann mit den Stationsbeamten noch ein freundliches Wort austauschen.
Die Wände sind mit Plänen über das neue Seilbahnprojekt vollgepflastert („Studienauftrag Weissenstein Plus“ von Guido Kummer + Partner, Solothurn). Daraus erkennt man, dass die neue Umlaufkabinenbahn vom Typ UNI G (Garaventa-Doppelmayr) aus durchsichtigen 6er-Panorama-Gondeln bestehen soll, die einen ebenerdigen Einstieg gestatten. Ein Gondel-Modell ist auf dem Bahnhofdach ausgestellt. Es fehlt nur noch ein Gondolier, der venezianische Lieder singt.
Die auf den Plänen dargestellten Seilbahn-Gebäude haben auf mich wie ein nebeneinander gelegtes Sortiment von weitgehend aus Holz bestehenden Röhrenabschnitten mit stark schwankendem Durchmesser, wie Fisch-Reusen, gewirkt (Prospekt-Kommentar: „einzigartiger innovativer Ansatz“). Wie bei der alten Sesselbahn sind die Antriebe in der Mittelstation auf dem Nesselboden vorgesehen. Das Stationsgebäude soll etwas zur Seite versetzt werden; sonst bleibt die Flugstrecke zum Weissenstein unverändert. Die Finanzierung ist bereits gesichert. Auf der Orientierungstafel werden die Kosten diskret verschwiegen. Geld hat man. Darüber spricht man nicht, auch wenn die Beträge längst veröffentlich sind. Die Kosten belaufen sich auf etwa 11,5 Mio. CHF. Total 2263 Aktien von nominell 100 CHF sind liberiert (226 300 CHF).
Zudem ist auf der früheren Skipiste eine Sommerrodelbahn (603 500 CHF) vorgesehen, ein schienengebundenes Schlittensystem, das im Herbst jeweils demontiert wird. Ferner ist eine Tubinganlage (172 000 CHF) geplant: Aufblasbare Kunststoffringe als schlittenartige Untersätze werden über eine Piste aus Gleitfolien gleiten. Der Bergtransport erfolgt über einen „Zauberteppich“. Das gehörte nicht zu meiner Allgemeinbildung, ich hab's so gelesen. Insgesamt soll das Weissensteingebiet also intensiver touristisch vermarktet werden – eine Plastikwelt im Freizeitparkstil inmitten einer urwüchsigen Natur. Meine Welt sind solche Kunststoffspielzeuge nicht. Ob es nur an meinem Alter liegt? Ich habe mich auf Rummelplätzen meiner Lebtag nie wohl gefühlt; mir kamen sie immer etwas hohl vor.
Im Schalterraum gestattet einem eine kleine Ausstellung, sich seilbahntechnisch weiterzubilden. So findet sich dort eine Seilklemme mit 25 mm Durchmesser, wie sie das ehemalige Unternehmen Von Roll 1945 konstruiert hat. Auch eine alte und eine neue Seilrolle mit einem Durchmesser von 330 bzw. 520 mm sind neben einem Drahtseil-Musterstück aus dem Drahtseilwerk Romanshorn zu sehen.
Schwebend hinter dem Sicherheitsbügel
Von all den Schaustücken richtig in Seilbahnstimmung gekommen, fuhr ich gegen Mittag in einem Doppelsesseli aus Stahlrohren unter dem bedeckten Himmel, an dem auch noch einige dekorative Gewitterwolken aufzogen, gegen den Nesselboden (1064 m). Die angerosteten Masten, die etwa 10 m hoch sein mögen, stehen in einer Laubwaldschneise, an deren Seite auch vereinzelte Nadelbäume sind, sogar Lärchen und Föhren, ein roter Holunder lockt. So fliegt man denn auf der Höhe der Baumkronen, manchmal etwas darunter, manchmal darüber und dem Geländeverlauf folgend, nach oben. Der Blick ins milchige Mittelland mit den Aareschleifen, den Dörfern, Industriegebieten, Einzelhöfen und den grünen und gelbbraunen Ackerflächen weitet sich zunehmend. Man überfliegt die asphaltierte Weissensteinstrasse und den Spitzflühliweg in bescheidener Höhe, verfolgt vom eigenen Schatten, der die Bodenunebenheiten nachvollzieht. Besonders attraktiv wird der Flug im Sesseli dort, wo man nahe an den mächtigen Jurafelsen vorbei schwebt, an denen sich Gebüsch und Bäume festklammern. Dann überqueren die Stahlseile eine Krete, tauchen in den Nesselboden hinauf, knapp über weidende, schwarz-weisse Kühe, als ob die Freiburgerrasse nicht ausgestorben sei: Schwarzfleckvieh als milchbetonte Zweitnutzugsrinder in der Produktionsphase. Die Tiere liessen sich beim Grasen nicht stören, denn Angriffe von oben befürchten sie nicht.
Auf dem Nesselboden wird man in ein mit Eternit verkleidetes Gebäude gewissermassen hineingeschüttelt, an Umlenkrollen in die richtige Position für den Aufflug in den letzten, obersten Teil bugsiert. Schliesslich handelt es sich um eine Zweisektionen-Sesselbahn mit Umlenkrollen. Die Seilklemmen schnappen auf Geheiss eines Angestellten unverhofft zu, und mit einem Ruck wird man ins Freie geschossen und dann in ruhiger, sanfter Weiterfahrt über saftige Bergweiden mit Gelben Enzianen nach ganz oben auf den Weissenstein getragen. Das Kurhaus tritt ins Blickfeld – und der etwa 16 Minuten dauernde Höhenflug ist in einem scheunenartigen Holzbau zu Ende. Sicherheitsbügel hochklappen, und man hat wieder festen Boden unter den Füssen.
Viel Verschleiss
Ich machte dann meine Wanderung über die Röti nach Balmberg (wird separat verbloggt) und flog am späteren Nachmittag die 2369 Meter lange Strecke nach Oberdorf zurück. Dort sprach ich noch mit einem Seilbahn-Angestellten im Pensionsalter über die Möglichkeit zur Beibehaltung dieses Sessellifts. Mit dieser Anlage sei es definitiv vorbei, sagte er. Alle Masten-Fundamente müssten wahrscheinlich erneuert werden; man wisse ja nicht, ob die Metallmasten im Beton nach so langer Zeit durchgerostet seien, was durchaus möglich wäre. Der Unterhalt der verschleissanfälligen Bahn, die auch schon defizitär war, sei einfach zu gross, die Revisionszeit pro Jahr betrage 3 Monate. Bei den Revisionen müssen zum Beispiel alle Doppelsesseli-Gestänge geröntgt und auf allfällige Risse abgesucht werden. Ersatzteile wie Seilklammern und Rollen seien teuer. Zudem sei der Betrieb bei Windgeschwindigkeiten über 50 km/h nicht mehr gestattet, weil sonst Windböen die Tragseile aus den Rollen schieben könnten. Und zudem gebe es die Firma von Roll, die Erbauerin der alten Anlage, auch nicht mehr. 60 Jahre alte technische Anlagen seien halt vorbei. Vorbei sei vorbei.
Man habe einmal versucht, den Verein Pro Sesseli, der sich für die Erhaltung der alten Bahn einsetzt und über 900 Mitglieder zählt, über den Revisionsaufwand zu informieren, als die Kontrollarbeiten im Gange waren. Doch sei kein Mensch erschienen; niemand habe sich dafür interessiert. Es sei halt gerade zu kalt gewesen, sagte der Seilbahnbetreuer.
Befasst man sich mit den Pro-Sesseli-Anliegen, erkennt man, dass damit indirekt auch versucht wird, den Weissenstein vor zusätzlichem Touristik-Rummel zu schützen. Dafür habe ich durchaus Verständnis – für die Kälteempfindlichkeit weniger, zumal die geliebten Sesseli der altehrwürdigen Bahn von keiner Glaskabine umgeben sind und bei den Passagieren eine gewisse Robustheit gegen Wettereinflüsse voraussetzen.
Hinweis auf weitere Blogs zum Weissensteingebiet
08.09.2006: Weissenstein-Ausflug: Weise gehen zu den weissen SteinenHinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
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