Textatelier
BLOG vom: 28.07.2009

Wenn kontrollierende Medien den Internet-Freiraum beklagen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
„Bloggen ist eine Informationsrevolution. Jeder kann sich ohne Hilfe eines Verlegers an ein Millionenpublikum wenden. Vielen passt das nicht – und daran scheiden sich die Geister. Denn die neue Technologie bedeutet – genau wie Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks – einen epochalen Machtwechsel.“
 
Also schrieb die Welt online am 20.07.2009. Die Blogosphäre sei der Albtraum der Kontrolleure: „Millionen von Schreibmaschinen, die gleichzeitig klappern und deren Ergebnisse potenziell jeden Menschen auf dem Planeten erreichen können.“ Somit lebe man in einer Welt, in der jeder alles allen sagen kann.
 
Gut so. Auch wenn diese neue Freiheit nicht grenzenlos ist und den Überwachungsstaaten neue Möglichkeiten in die Hand spielt. Die Zensoren sind noch lange nicht ausgestorben, und die Scheren in den Köpfen vieler Publizisten wirken noch immer: Wer kuscht nicht vor den mächtigen USA, die mit Raubzügen und Strafaktionen ganze Völker in den Ruin treiben? Im US-beherrschten Afghanistan müssen Journalisten gerade einen Verhaltenskodex unterschreiben, wenn sie über die Wahlen berichten wollen. Welches westliche Medium ist selbstkritisch genug, um die abendländische Geschichte in ihrer vollen Grausamkeit darzustellen? Wer wagt schon, über das diebische Verhalten von Israel den benachbarten Arabern gegenüber die Wahrheit klar zu benennen? Wer wagt schon, die auf der vor Grausamkeiten strotzenden Bibel aufgebauten Religionen mit gebührender Kritik darzustellen? Und eine Institution, die etablierte Bezahl-Medien zu einem verantwortungsvollen Tun, zur Erfüllung ihrer Informations- und Kontrollaufgaben aufruft, hat sich noch nicht gemeldet. Eine rein kommerz-orientierte Verluderung geht weiter.
 
Verschiedene mediale Methoden sind erprobt, heisse Eisen zu umschiffen: das Totschweigen, das Verdrehen, das Ablenken. Das ist offenbar die Hauptaufgabe der Kontrolleure in den Kontrollzentren der Redaktionen; es sind hauptsächlich Leute, die genau wissen, was das Volk wissen darf und was nicht. Was in den ausgehungerten Büros der Schriftleiter geschieht, ist mehr eine Gesinnungskontrolle als eine Faktenkontrolle. Sonst wäre es wohl unmöglich gewesen, dass sich zum Beispiel die NZZ bei ihrer unberechtigten Kritik an der Privatbank Swissfirst so grundlegend irren konnte, wie es sich hinterher herausstellte; die Bank wurde ruiniert. Die NZZ-Schreiber erhielten für diese gravierende Fehlleistung den Zürcher Journalistenpreis ... eine stolze Leistung auch vonseiten der Jury. Und auf den PR-Schrott aus den USA fielen und fallen praktisch alle Westmedien herein, genau so wie auf die verheerende Schuldenmacherei durch Barack Obama, der als Friedensengel daher kam und nun die US-Armee um 22 000 Soldaten ausbaut, also noch mehr Kriege führen will (derzeitiger Bestand: 547 000 Armeeangehörige). Haben Sie über seine Wandlung vom Friedensstifter zum Intensivkrieger im Mainstream ein kritisches Wort gefunden?
 
Wie wenig weit es mit der Qualitätskontrolle, dem Bemühen um Verhältnismässigkeiten und einer kritischen Beobachtung des Weltgeschehens her ist, beweist uns allen die tägliche Konsumation von Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen – es gibt nur wenig Ausnahmen wie Roger Köppels „Weltwoche“ und Erika Vögelis „Zeit-Fragen“, die sich noch um eigene Ansichten bemühen und kritische Autoren engagieren.
 
Der Rest ergibt sich schon aus dem unsäglichen Nachahmungsdrang in dieser Branche, der sich kaum von jenem der Dow-Jones-hörigen Börsenteilnehmer unterscheidet, also die Grenzen jeder Vernunft sprengt. Die zunehmend abgespeckten Redaktionen haben zu all dem Elend keine entsprechenden Kapazitäten, um die ununterbrochen hereinbrechende Flut an Informationen, Pseudoinformationen, verschleierten PR-Texten (der mengenmässig grösste Teil) und Lügen zu überprüfen. Redaktionssitzungen über Gestaltungsfragen und Konkurrenzvergleiche fressen die wichtigste Zeit. Für Plausibilitätskontrollen reicht das Erfahrungswissen meist auch nicht mehr aus, nachdem ältere Redakteure frühzeitig ausrangiert worden sind, weil sie zu teuer waren und der ständigen Relauncherei (Totalumbauten der Medien) im Wege standen. Was daraus resultiert, wird dann unter dem hochtrabenden Siegel „Qualitätsjournalismus“ verkauft. Verkauft! Früher waren es die Mächtigen der Kirchen gewesen, die das Schreiben und Denken kontrollierten und bestimmten. Dann schalteten sich die Verleger ebenfalls ein.
 
Unter solchen Auspizien ist das Internet die letzte Chance für die Wahrheitsfindung. Selbstverständlich kann es genau so für Desinformationen, Schleichwerbung, Manipulationen und zur Menschenverdummung genützt werden wie die etablierten Mainstreammedien. Man darf nicht übersehen, dass schliesslich auch die einst guten alten Medien (wie ebenfalls die Politiker und Wirtschaftsführer) das Internet intensiv nutzen, was die herkömmlichen Medien zunehmend auf die hinteren Ränge verweist, das heisst allmählich überflüssig macht. Durch den Einfluss der gesteuerten Produkte aus den „Qualitäts-Mainstreammedien“ wird das Internet in Bezug auf seine Güte zwar negativ beeinträchtigt, aber weil es ein offenes Medium ist und bleiben müsste, soll man auch den Auslauf-Medien die Internetnutzug gestatten, bis sie selber, der selbstverschuldeten Not gehorchend, ihren Laden schliessen müssen.
 
Zudem muss man beim Bezug von Texten aus dem Internet erstens in der Regel nicht noch dafür bezahlen, und zweitens begegnet man diesem neuen, unwahrscheinlich schnellen und beweglichen Medium ohnehin naturgemäss skeptischer. Jeder Internetschreiber muss seine Kompetenz unter Beweis stellen und seine Glaubwürdigkeit hart erarbeiten. Denn seine Botschaften flattern den Leuten nicht einfach ins Haus, sondern sie müssen in einem Riesenhaufen aktiv gesucht und extrahiert werden. Wer einmal enttäuscht wurde, wird sich anderen Quellen zuwenden. Ich halte es ebenfalls so.
 
Im Klartext: Die Medienkontrolle durch Verleger und Redaktoren ist eine Zensur, eine Einschränkung. Zu meiner Zeitungsmacher-Zeit anerkannten wir ausschliesslich das Publikum als Kontrollinstanz; im Prinzip wirkten wir nach bestem Wissen und Gewissen. Selbstredend können besonders die Druckmedien nicht jeden Nonsens vervielfältigen, der ihnen unbestellt ins Haus geschickt wird. Schon aus Kapazitäts- bzw. Platzgründen sind sie zum Auswählen und Konzentrieren gezwungen – Umfangausweitungen wären mit hohen Kosten verbunden. Aber wenn diese Auswahl zum Beispiel nach rein kommerziellen oder tendenziösen Gesichtspunkten (um guten Insertionskunden zu gefallen) geschieht, wie das im Zeichen des auf Sofortgewinne abzielenden Neoliberalismus üblich ist, hört die Gemütlichkeit auf. Dann werden solche Medien nicht nur überflüssig, sondern ihr Verschwinden ist ein begrüssenswertes Ereignis im Interesse des geistigen und auch ökologischen Umweltschutzes – Stichwörter: Papier- bzw. Elektrizitätsverbrauch.
 
Auch das Internet, auf ständig laufenden Computern abgespielt, braucht Strom, und auch hier stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Aufwand und Ertrag. Doch im Vergleich zum Energieaufwand, den physische Druckmedien von der Produktion bis hin zu Vertrieb und Recycling betreiben müssen, dürften die elektronischen Medien gut abschneiden. Die offensichtlichen Vorteile des elektronischen Datenverkehrs, der ja auch die Grundlage der etablierten Medien ist, macht vor allem den Zeitungen zu schaffen. Sie wissen, dass sie den Wettlauf nicht gewinnen können, besonders wenn sie die Eigenleistung laufend herunterfahren, den Text, das spärliche Zeug, das neben Inseraten und Bildern steht, systematisch als Leserbeeinträchtigung empfinden und sich dafür in grotesker und boulevardesker Manier in eine farbenfrohe, glamouröse Bilderwelt einhüllen und zum unbewegten Nahsehen werden. Die dick aufgetragene Farbe bewirkt, dass sie sich nicht einmal mehr als Wurstpapier eignen.
 
Die Medien halten, abgesehen von der eigenen Nutzung, vom Internet nicht viel. Das macht nichts, zumal nicht nur ihre Anzeigenumsätze, sondern auch ihr Beachtungsgrad zunehmend sinken. Statt die „fehlende Kontrolle“ im Netz zu beklagen, müssten sie sich fragen, ob sie sich nicht durch ein Zuviel an Kontrolle, die auf Systemkonformität ausgerichtet ist, ihr eigenes Grab schaufeln.
 
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