Textatelier
BLOG vom: 31.08.2009

Auf den Effinger-Spuren rund um Chärne- und Chestenberg

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Das Schloss Wildegg stand und steht noch heute unter einem guten Stern. Diese Habsburger-Gründung, die zusammen mit den benachbarten Schlössern Habsburg und Brunegg zur Abwehr der auf der Lenzburg verschanzten Kyburger diente, hatte 1483 das Glück, von Kaspar Effinger, einem Landadeligen, gekauft zu werden. Die Effinger erwiesen sich von da an über 11 Generationen hinweg als verantwortungsbewusste Besitzer. Man spürt dies aus einem Bericht von Sophie von Erlach, geborene Effinger (1766‒1840): „Das Schloss (...) war früher noch viel schöner, als es mit den gültigen Attributen des Adels wie Fallbrücke und Fallgräben versehen war. (...) Das Schlossinnere spiegelt das Bemühen eines jeden Besitzers, die Familientradition den kommenden Geschlechtern weiterzugeben (...) Jedes Zimmer hat seine eigene Anekdote. Nirgends stösst man auf den modischen Geschmack des Neuen, nirgends gewahrt man das Vergessen, das undankbare Vergessen. Alles trägt den Charakter der Dauerhaftigkeit, des Ruhmes, der Dankbarkeit.“
 
Die letzte Erbin der umfangreichen Wildegger Domäne, Julie von Effinger (Pauline Adelheid Julia, 1837‒1912), vermachte das Schloss samt Nebengebäuden, Mobiliar und Ländereien der Schweizerischen Eidgenossenschaft, und seither wird das Anwesen vom Schweizerischen Landesmuseum einfühlsam betreut. Es ist ein öffentlich zugängliches Wohnmuseum mit Gemüse- und Lustgarten und lohnt zweifellos jeden Besuch. Zwischen 2005 und 2009 wurde das Schloss instand gestellt; der Bund hat 2,7 Mio. CHF in diese konservatorische Massnahme investiert.
 
In Holderbank bestattet
Während das Schloss Wildegg, wohl auch wegen seiner exponierten Lage auf einer Kammhöhe auf dem südwestlichen Chestenberg-Ausläufer, mindestens vom Anblick aus dem Aaretal heraus allgemein bekannt ist, so dürften neben den Bewohnern der Region nur historisch besonders Interessierte wissen, dass die Kirche im nahen Holderbank AG (Bezirk Lenzburg) die einstige Grabstätte der Effinger war. Ausserhalb der Kirche sind die sterblichen Hüllen von Rudolf von Effinger (1803‒1872), Pauline von Sinner von Effinger (Julia Sophia Pauline, 1836‒1906) und Julia von Effinger von Wildegg, geborene May von Schöftland (1809‒1870), aufgereiht. Auch Julie (Pauline Adelheid Julia) ist hier bestattet. Im Inneren der Kirche, die wie eine grosse Kapelle aussieht und in ihrer heutigen Gestalt unter der Leitung von Architekt Samuel Jenner 1701/02 entstanden ist, sind mehrere Grabplatten der Effinger-Familie zu sehen, so auch jene von Julie.
 
Die Kirche mit ihrem gefälligen, mit Ziegeln gedeckten Mansarddach steht oberhalb der Kantonsstrasse Wildegg‒Brugg quer zum Hang, dem gegen Schinznach-Bad (nach Norden) abflachenden Teil des Chestenbergs. An den Dachreiter mit dem Spitzhelm hat man sich gewöhnt; er steht etwas im Widerspruch zum behäbigen Baukörper.
 
Im Innenraum, wo bei meinem Besuch vom 28.08.2009 die freundliche Sigristin Ursula Umiker-Neuhaus aus Möriken gerade mit Reinigungsarbeiten beschäftigt war, sind neben den in frischen Farben gehaltenen Glasfenstern, 1899 von Emil Laué gestiftet, die Grabplatten an den Wänden des Schiffs beruhigende Elemente; sie verwandeln das Kirchlein gewissermassen in eine Begräbniskapelle. Frau Umiker verschaffte mir Zugang zur Empore, von wo aus der gerundete Raum mit dem Taufstein (1475) im Zentrum, neben dem gerade ein Staubsauger deponiert war, überblickt werden kann. Der Taufstein konnte aus dem alten Vorgänger-Kirchlein aus dem 13. Jahrhundert hierhin gerettet werden. Auf ihm ist unter anderem Jesus als Schmerzensmann abgebildet. Hinter der Empore ist ein von aussen nicht mehr sichtbares kreisrundes Fenster mit einem vielstrahligen Stern in Gelb- und Brauntönen versteckt.
 
Nördlich der Kirche Holderbank, getrennt durch die Strasse zum Effingerhort, schliesst sich das frühere Pfarrhaus (1605) an: ein früheres Meierhaus des Schlosses Wildegg. In diesem stattlichen, dreigeschossigen, spätgotischen, gemauerten Profanbau mit Krüppelwalmdach voller Harmonie ist heute ein Kinderhort („Holderkids“) untergebracht.
 
Der Effingerhort
Eine schmale, steile und mit einem Fahrverbot belegte Strasse führt zum Effingerhort hinauf, wo Frauen und Männer mit schweren Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeiten wohnen. Diese Institution wurde von Julia von Effinger zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestiftet. Seit 1914 wird in diesem REHA-Haus versucht, übermächtige Süchte in Schranken zu weisen. Es gehört einer Stiftung („Von Effinger-Stiftung“); der Betrieb unterliegt der Aufsicht des Kantons Aargau, gemäss Spitalgesetzgebung.
 
Der Effingerhort auf dem Chärneberg besteht aus einer zusammengestückelten Gebäudegruppe, von der jedes Haus vom Willen geprägt ist, die Architekturauffassung ihres Entstehungszeitpunktes auszudrücken. Auf dem ursprünglichen Bau mit steilem Satteldach, Lukarnen und den intensiv grünen Fensterläden und Klebdächern sitzt ein Dachreiter. Moderne Anbauten mit Flachdächern wollen sich unterordnen. Auch Landwirtschaftsgebäude gehören zu dem Dörfchen aus dem Chärneberg, das sich an einer prächtigen Aussichtslage mit Blick aufs Aaretal mit den Anlagen der Zementindustrie („Jura Cement“) und den Jura befindet. Viele weidende Kühe und Schafe belebten das Bild rund um den Hort.
 
Tische und Stühle standen neben dem Essraum im Freien, und ich liess mich gemütlich neben einer Gruppe eifrig diskutierender Heimbewohner in den besten Jahren nieder – in der Annahme, das sei ein auch für Besucher zugängliches Café. Eine Angestellte, die gerade mit der Blumenpflege beschäftigt war und die ich gefragt hatte, ob ich hier etwas trinken könne, sagte: „Im Prinzip nicht.“ Doch könne ich einen kalten Tee haben, und sie brachte mir eine Henkeltasse mit einem erfrischenden Pfefferminztee. Als ich bezahlen wollte, antwortete sie, das sei schon recht. Ein gastfreundliches Haus.
 
Spaziergang nach Birr
Erfrischt begab ich mich an dem heissen Tag auf die Chärneberg-Anhöhe (533 Höhenmeter), vorbei am Häuschen mit der Aufschrift „Skilift Engi Holderbank“ – im Moment käme höchstens das Grasskifahren in Frage. Hinter der Krete neigen sich Waldstrassen ins Birrfeld hinunter. Geschnitzte Holzwegweiser erleichtern die Orientierung. Ich wählte vorerst den Chärneberg-Weg im Oberischlag und tauchte, vorbei am Forstwerkhof Lupfig, zum westlichen Rand des Birrfelds hinunter, nach Birr (Bezirk Brugg). Dort (im Herrenhaus Neuhof) war einst Johann Heinrich Pestalozzi (1746‒1827) zusammen mit seiner Frau Anna sozialreformerisch tätig; die beiden bemühten sich um die Elementarbildung des Nachwuchses. Die Menschen sollten in die Lage versetzt werden, sich selbst zu helfen.
 
Vorbei an der Brunegg
Die Landschaft ist durch den riesigen Sheddachbau der BBB (heute ABB und Alstom) akzentuiert. Durch ein Birrer Einfamilienhausquartier, ein Biotop offensichtlich ordentlicher Menschen, wanderte ich gegen das Dorfzentrum, folgte dann dem Wanderwegweiser zum Schloss Brunegg (45 Minuten), kam im Vorderdorf am schlanken, hoch aufschiessenden alten Schulhaus vorbei, dessen bemalte Seitenwand Pestalozzi als Erzieher zeigt.
 
Bevor ich Richtung Chestenberg abzweigte, deckte ich mich in der Metzgerei Roger Wernli mit einem fabelhaften Wurstweggen und einem panierten Schnitzel und in der Bäckerei Beat Maier gleich daneben mit Gebäck und einem Rivella ein, eine Kalorien-Notreserve.
 
Die Sonne brannte, wie sie heutzutage eben zu brennen pflegt, als ich auf der „Sustenstrasse“ neben einem ausladenden Maisfeld dem Lochbuechen-Wald zusteuerte. Das Naturwaldsträsschen (Fuchshübelweg, dann Michaelisweg) zielt nach Ostsüdosten in mässiger Steigung im Buchenwald ziemlich direkt auf das Schloss Brunegg (541 m) zu.
 
Auf dem Schlosshügel mit dem Wald, der ein Naturschutzgebiet von kantonal-aargauischer Bedeutung ist, begegnete ich zuerst einem Materialwagen und TOI-TOI-Bautoiletten. Das aus dem 13. Jahrhundert stammende Schloss auf den markanten Felsen war hinter Gerüsten und Plastikplanen verborgen; Bauabschrankungen und das Wort „PRIVAT“ halten unerwünschte Besucher ab. Hier wohnten einst Jean Rudolf von Salis (1901‒1996), der durch seine Weltchronik auf Radio Beromünster berühmt wurde, und der Schriftsteller Hermann Burger, der sich hier 1989 das Leben nahm. Heute ist die Anlage im Besitze einer Erbengemeinschaft, wenn ich richtig orientiert bin.
 
Auf der Wildegg
So wanderte ich gleich nach Möriken weiter (45 Minuten). Eine Fahrstrasse mit Naturbelag verläuft im Wald nach Westen, eine unspektakuläre Wanderung, auch hier. Ich steuerte etwas dem Dorf zu, benützte die Unteräschstrasse und spazierte über den Effingerweg zum Schloss Wildegg hinauf.
 
Dort feierten 2 Paare mit Anhang gerade ihre Ziviltrauung; die Bräute und die Brautführerinnen sahen wie die Schlossfräulein von damals aus. Im Lustgarten blühten die Romantica-Rosen, alte Chinarosen (Rosa hermosa) unter Halbbögen und neben vielen anderen die Moschata-Hybride („Ballerina“).
 
Um nicht auf der Kantonsstrasse zurückkehren zu müssen, wählte ich den Waldweg hinauf auf die Obere Chalch (566 m), den grossen Steinbruch („Schümel“) oben umgehend. Von dort erreicht man nach 10 Minuten den Chärnenberg. Als ich nach bald einmal 5 Wanderstunden hinunter nach Holderbank zurückkehrte, zogen Gewitterwolken auf, und Bauern brachten an den steilen Hängen das trockene Heu in Sicherheit.
 
Auch ich war ausgetrocknet. Das kühle Bier, das ich daheim genoss, reichte nicht für eine Einlieferung in den Effingerhort. Wahrscheinlich hätte selbst die menschenfreundliche Julie nichts dagegen einzuwenden gehabt.
 
Quellen
Furger, Andres: „Schloss Wildegg“, Georg Westermann Verlag GmbH, Braunschweig 1988.
Stettler, Michael, und Maurer, Emil: „Die Kunstdenkmäler des Kantons Aargau“, Verlag Birkhäuser, Basel, 1953.
 
Öffnungszeiten des Schlosses Wildegg
1. April bis 31. Oktober
Dienstag‒Sonntag 10 bis 17 Uhr
In den Wintermonaten ist das Schloss geschlossen.
 
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