Frost: Das grandiose Erleben von Kälte
Autor: Walter Hess
Soeben komme ich von einer kleinen Wanderung im Jura unterhalb der Gislifluh (Gisliflue) im Aargauer Jura zurück. Dort gibt es Mischwälder und offene Weideflächen, ein Wasserreservoir, einige wenige eingezäunte Wochenendhäuser aus der Vergangenheit, als die Bibersteiner Bauvorschriften weniger einschneidend waren, sodann eine komfortable Feuerstelle, viele Mergel- und Naturwege, die der pensionierte Förster Josef Buck mustergültig und in mehr als ausreichender Menge angelegt hat. Dank der tiefen Holzpreise erhält der Wald hier in Biberstein AG die verdiente Ruhepause. Er darf sich weitgehend nach seinen eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen entwickeln. Spaziergänge dorthin werden bald noch lohnender sein.
Die Sonne schien aus einem hellblauen, fast weissen Himmel, brachte den Schnee zum Leuchten. Er wurde aus einer Ansammlung von kunstvoll geschliffenen Schneekristall-Diamanten und wegen der schiefartigen, windgeformten Fläche zu einer polierten Bodenbedeckung. Ein Edelsteinboden. Ich habe die Gelegenheit genützt, um auf offenen Wiesen durch diesen Schnee zu waten, meine eigenen Spuren hinterlassend, wie es vor mir unzählige Wildtiere getan hatten. Und dabei konnte ich den Schnee hören. Es war das unverkennbare Knarren, wenn man mit den Schuhen darauf steht, eine beruhigende, vibrierende Melodie, wie sie von keinem anderen Instrument erzeugt werden kann.
Wenn man jetzt ins Freie geht, sollte man sich nicht zu warm anziehen, denn das beeinträchtigt das Erleben der Kälte, das ja mit der Zeit zur Seltenheit werden könnte. Man sollte diese Kälte wieder einmal spüren, bewusst erleben. Schon beim Wegwischen von herangewehtem Pulverschnee mit einem Reisigbesen habe ich gestern endlich wieder einmal das Gefühl von eiskalten Händen erfahren, das meine Eltern jeweils Chuenagle (ue nicht als Umlaut gesprochen) bezeichnet haben; die Herkunft dieses Ausdrucks konnte ich bis heute nicht ergründen („S’ hett en guunäglet“, hiess es auch, im Bündnerland spricht man von „nägle“ = gefrorene Finger. Kann mir vielleicht beim Schliessen dieser Wissenslücke jemand helfen?).
Man muss es beim Kältegenuss ja nicht bis hin zu Erfrierungserscheinungen treiben, was schon etwas übertrieben wäre. Ein Erlebnis ist auch, wenn man am ganzen Körper durchgefroren ist, vor dem Betreten des Hauses ein bereitgestelltes Gläschen Wodka trinkt und damit die Poren öffnet. Ich habe das in Sibirien gelernt. Beim Betreten des warmen Hauses stellen sich dann wirkliche Lustgefühle ein. Die Wärme wird umso intensiver empfunden.
Zu diesem Erlebnis dürften über das erwünschte Mass hinaus die Menschen gekommen sein, welche 3 Tage lang auf einer Autobahn in Italien in ihren Fahrzeugen verharren mussten, und wofür sich die italienische Regierung entschuldigt haben soll. Wie so etwas möglich ist, kann ich mir mit dem besten Willen nicht ausmalen. Aber vielleicht gibt es in Italien schon Methoden dafür. In Neapel verwandelten am Samstag Hagel und Schnee die Strassen in Rutschbahnen, und für solche Naturphänomene ist man dort wenig gewappnet. Das dürfte auch für die algerische Sahara zutreffen, wo es jetzt seit 27 Jahren erstmals wieder geschneit hat. Allerdings können Wüstennächte bitter kalt sein.
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