Textatelier
BLOG vom: 01.11.2009

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Abschied von Dölf Holzner

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Das (endgültig) letzte Mal habe ich meinen Schwager Adolf („Dölf“) Holzner am 01.06.2009 gesehen. Er hatte einen Termin in Rheinfelden AG und wurde von seiner Frau Annetti und deren Schwester Ruth Allemann-Pfosi dorthin begleitet. Sie waren mit der Bahn vom Bündnerland ins untere Fricktal gefahren, und ich holte das Trio ab. Um Mittag trafen wir uns beim Obertorturm in der alten Zähringerstadt, die ich den Gästen aus dem Bündnerland zeigen wollte. Dölf, eine athletische Gestalt mit wetterhartem, gutmütigem Gesicht, strahlte, wirkte auf mich aber gleichwohl ungewohnt kraftlos, müde, auch etwas bekümmert, obschon er das nicht zur Schau trug. Nach wenigen Schritten sagte er entschuldigend, er müsse absitzen. Ich holte das Auto vom Parkplatz, fuhr mit der Gruppe über die neue, rheinabwärts gelegene Brücke nach Rheinfelden (Baden D) zum Zollhaus, von wo aus die Rheinfelder Altstadt mit den ineinander geschachtelten Bauten, den steilen, von Kaminen belebten Dächern und den Türmen zu sehen sind. Da Dölf jahrzehntelang beim Strassenbauunternehmen Cellere in leitender Position tätig gewesen war, zeigte ich ihm die gigantische Baustelle des neuen Rheinkraftwerks Rheinfelden, die sein besonderes Interesse fand. Er wolle später noch einmal hierhin kommen, sagte er.
 
Ich räumte die Chancen dafür als gering ein, ohne dies zum Ausdruck zu bringen. Zu Beginn des Jahres 2009 hatten sich bei ihm erste Symptome der seltenen Krankheit amyotrophe Lateralsklerose (ALS, Motor Neuron Disease) bemerkbar gemacht. Eine seiner ausgesprochen kräftigen Hände, die rechte, war bereits stark angeschwollen und gefühllos. Dabei war für mich ausgerechnet sein Händedruck eines seiner Markenzeichen gewesen – er war so kraftvoll, dass man befürchten musste, einige Quetschungen davonzutragen. Es war einfach eine Auswirkung seiner zupackenden Art. Und jetzt das.
 
Wir fuhren noch zum Schloss Beuggen D weiter, machten ein paar Schritte unter den Bäumen durch den eindrücklichen Park am Rhein und fuhren nach Biberstein zurück, wo Eva ein „Ghackets" (Gehacktes, Hackfleisch mit Sauce) und Nudeln zubereitet hatte. Dazu kräftigten wir uns mit einem spanischen Wein. Das Essen kam gut an, bereitete Dölf aber unendlich Mühe: Er verneigte sich mehr mit dem Kopf zur Gabel hinunter als dass es ihm gelungen wäre, die Gabel zum Mund zu führen. Aber wir sprachen über alles andere als sein Leiden, seine zunehmend eingeschränkten Bewegungen.
 
Der Krankheitsverlauf
Dennoch wurde mir bewusst, was die ALS für eine schreckliche Krankheit ist. Die Nervenzellen werden geschädigt, und dies wiederum erschwert oder verunmöglicht die Muskelbewegungen. Der Zerfall greift rasch immer weiter um sich, bis am Schluss das ganze motorische Nervensystem davon betroffen ist. Bei Dölf verlief der Degenerationsprozess unwahrscheinlich schnell; sozusagen täglich kamen neue Erschwernisse hinzu. So stellten sich Gangstörungen ein. Er wagte sich nicht mehr ins Freie, weil er jeden Moment zusammenbrechen und zum Beispiel auf die Strasse fallen konnte. Neben dem Verlust von Muskelmasse geht normalerweise auch die Fettmasse zurück, von der es bei Dölf allerdings nicht allzu viel gab. Bald einmal kamen Atemstörungen und Erstickungsängste hinzu. Das Essen und Trinken wurden immer mehr erschwert – die Pflegeabhängigkeit war jetzt komplett. Schmerzen traten auf, verstärkten sich. Es mussten schwere Betäubungsmittel eingesetzt werden, denen Dölf aber zum Teil widerstand. Es hatte alles keinen Sinn mehr. Bei einem vertraulichen Gespräch hatte mich Dölf noch in Rheinfelden gefragt, ob ich nicht auch der Meinung sei, es werde viel sinnlos und nur aus Geschäftsgründen herumtherapiert. Ich war und bin genau dieser Meinung.
 
Dölf wurde von einem ihm vertrauten Arzt begleitet; dieser beschränkte sich auf das Nötigste, auf Experimente wurde verzichtet. Es wäre ohnehin alles sinnlos gewesen. Dann, am 24.10.2009, wurde Dölf im 77. Lebensjahr von seinem Leiden erlöst. Er war von seinen Angehörigen in seinem Heim in Zizers GR bis zuletzt aufopfernd betreut worden. Daheim bleiben zu dürfen, war das grösste Geschenk, das man ihm machen konnte. Zahllose Bekannte besuchten ihn, und das Phänomenale war, dass ihn sein Humor nie verliess und der Patient es eigentlich war, der die Besucher psychisch aufstellte.
 
Die Frage nach der Ursache
Nach Angaben der Schweizerischen ALS-Stiftung (www.als-stiftung.ch) dürften in der Schweiz rund 600 Personen an ALS erkrankt sein, und pro Jahr werden 100 bis 150 neue Fälle diagnostiziert. Die Ursache, so heisst es, sei unbekannt. Immerhin ist in einem Bericht des Oberarzts des Muskelzentrums des Kantonsspitals St. Gallen, Dr. Reto Baldinger, nachzulesen: „Mittlerweile wurde nachgewiesen, dass die Stoffwechsellage ein wichtiger prognostischer Faktor ist: ALS-Patienten mit einem tieferen BMI haben eine signifikant schlechtere Prognose als solche mit einem höheren BMI (Desport et al. 1999, Dupuis et al. 2004). Dasselbe konnte auch für den Cholesterin-Spiegel im Blut (welcher aber auch stark mit der Fettmasse korreliert) gezeigt werden (Dupuis et al. 2004).“
 
Von Schematismen wie dem Body-Mass-Index halte ich nicht eben viel, zumal er nichts über den Anteil der Muskelmasse an der Körpermasse aussagt. Doch entnehme ich dem Zitat, dass ein grösseres Körpergewicht in diesem Fall vorteilhaft ist, und offenbar wirkt sich auch ein höherer Cholesterinspiegel eher günstig aus. Da Dölf seit einer vor Jahren erfolgten Herzoperation Cholesterinsenker (Lipidsenker) schlucken musste, hat mir diese Erkenntnis doch zu denken gegeben. Denn es ist ja bekannt, dass zu den gefürchtetsten Nebenwirkungen der Cholesterinsenker strukturelle und funktionelle Veränderungen der Skelettmuskulatur gehören, und es kann auch zu Nervenschädigungen kommen. Und so kann nach meiner (unmassgeblichen) Vermutung die ASL sehr viel mit den medikamentösen Manipulationen im Cholesteringleichgewicht zu tun haben.
 
Ich spreche diese Mutmassung hier nur deshalb aus, damit in Zukunft diesem Aspekt mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird; die Ursachenforschung wird allenthalben vernachlässigt. Denn es ist ja allgemein bekannt, dass viele Stoffwechselvorgänge in einem wässrigen Umfeld ablaufen, andere sind auf essenzielle Fettsäuren angewiesen. Verschiedene Vitamine (A, D, E, F und K), sind nicht wasser-, sondern ausschliesslich fettlöslich. Lipoide sind wichtige Strukturelemente der Membransysteme und schützende Bestandteile der Zellwände. Werden nun Fette künstlich gesenkt, das heisst medikamentös zerstört, ergeben sich im Organismus gravierende Veränderungen.
 
Die simple Aufteilung in gutes (HDL) und böses (LDL) Cholesterin ist gewiss unserer eingeschränkten westlichen Denkart entsprungen. Sie ist vom Bipolaren geprägt, sogar in der Politik (Wertegemeinschaft einer- und Schurkenstaaten anderseits) kennt man solche sträfliche Vereinfachungen. Dieses banale Gegensatz-Denken ist gut für mediales Kurzfutter, aber so einfach ist es ja wirklich nicht.
 
Das Cholesterin, eine fettähnliche Substanz, die auch vom Körper selber als Bau- und Betriebsstoff produziert wird, ist weder „gut“ noch „böse“, sondern eines der Wunderwerke der Natur, und Schäden können sich wegen Mengen- und Verpackungsfragen ergeben. Die ärztlich und medial verbreitete Cholesterin-Psychose, die zum masslosen Einsatz von Senkern führt, ist verhängnisvoll. Dr. Max-Otto Bruker hat schon in seinem zusammen mit Ilse Gutjahr verfassten und 1991 erschienenen Buch „Cholesterin – der lebensnotwendige Stoff“ darauf hingewiesen, dass Gefässerkrankungen kein reines Fettproblem sind: „Die Lösung des Problems liegt an einer ganz anderen Stelle. Was der Körper mit dem Fett anfängt, ist einzig und allein abhängig von der Stoffwechsellage des betreffenden Menschen, d. h. ein intakter Stoffwechsel ist imstande, das angebotene Fett richtig zu verarbeiten, so dass es nicht zu krankhaften Ablagerungen kommt.“ Das LDL (Cholesterin mit niederer Dichte, low density lipoprotein) transportiert das Cholesterin in die Zellen, das HDL (mit hoher Dichte, high density lipoprotein) bringt es aus den Zellen in die Leber zurück, wo es abgebaut und in Form von Gallensäuren ausgeschieden wird. Was ist daran gut oder schlecht? Man kann den Cholesterin-Haushalt selbstverständlich mit einer vollkommen falschen, degenerierten Ernährungsweise (Fabriknahrung, Industriefette) aber dermassen stören, dass die regulatorische Arbeit des Körpers überfordert ist. Solche Störungen können auch medikamentös herbeigeführt werden.
 
Die Abdankung
Bei der Abdankungsfeier in der Kirche Zizers vom 29.10.2009 fand ich die Musse, über solche Zusammenhänge nachzudenken. Die reformierte Kirche vermochte die Teilnehmer nicht zu fassen. Vielleicht haben sie sich zum Zeitvertreib auf dem nahen Schlossbungert umgesehen, wo mittelalterliche Gebäudereste aus dem 8./9. Jahrhundert unter dem Rüfengeschiebe ausgegraben werden. Es ist noch ungewiss, ob sie zum Königshof gehören, den Kaiser Otto der Grosse 955 dem Churer Bischof schenkte.
 
Die Feierstunden in der Kirche waren musikalisch umrahmt. Dölfs Tochter Lydia Holzner spielte Orgel, ihr Töchterlein Lyne Flöte. Der Männerchor Zizers, dem Dölf angehört hatte, sang „La forza del destino“ (Die Macht des Schicksals), der Dirigent des Chors, Rudolf Reinhardt, begleitete am Klavier, und Anita Grond sang hinreissend „So nimm denn meine Hände“. Bewegend war der Brief des Mädchens Corinna, den sie an ihren Neni (Grossvater) geschrieben hatte und selber vorlas. Man spürte den schweren Verlust, den sie empfand – da war alles wahr, echt, ergreifend. Die Pfarrerin Evelyn Cremer leitete die Abschiedsfeier angenehm. Sie kannte Dölf und erzählte unter anderem davon, wie er jeweils den Sommer auf dem Maiensäss Stücki zubrachte. Eine der von ihm betreuten Kühe, „Rosilla“, hatte seine besondere Zuneigung gewonnen, und Dölf sagte einmal zu ihr, wenn sie kochen könnte, würde er sie gleich heiraten. Das Tier verstand das natürlich und bewegte sich wenig später in einem unbeaufsichtigten Moment zur Küche, worin es sich festklemmte – offenbar hatte die Küche in der Alphütte keine Kuh-gerechten Dimensionen. Als Rosilla nach ihrem gescheiterten Kochversuch von Dölf befreit wurde, sagte er zu ihr, so wörtlich hätte sie sein Angebot nun auch wieder nicht nehmen müssen.
 
Auch Ruedi von Salis wartete mit einigen Erinnerungen an Dölf auf, zeigte dessen Beliebtheit als Offizier auf und wie er es verstand, aus jeder Lebenslage das Beste herauszuholen. Er betonte Dölfs hervorstechende Eigenschaften: Lebensfreude, Schalk, Fürsorge und Einfühlungsvermögen.
 
Das Erinnerungswürdige
Am Schluss der Abdankung stand die Frage, ob es auch dann noch etwas Erinnerungswürdiges zu sagen gebe, wenn wir nichts mehr zu sagen haben. Dölf habe, so die Pfarrerin, die Welt von seinem Platz aus bewegt –, nach einem Zusammensein mit ihm sei man nicht mehr dieselbe Person wie vorher.
 
Ich habe das ebenfalls erfahren. Er hat mich dazu angeregt, über medikamentöse Eingriffe und seine Flucht aus der Zivilisation hinauf auf die Alp Stücki nachzudenken – und selbst dort oben haben ihn die Folgen des modernen Lebens eingeholt. Sie haben ihn hart angepackt, ausgerechnet ihn, der so tatkräftig war und half, wo immer ein Grund zur zupackenden Hilfe gegeben war.
 
Er wollte die Trauergemeinde nicht in Trauerstimmung versetzen und hatte seinen Männerchor noch gebeten, zum Abschluss das aufmunternde, ja scherzhafte Lied „Der Heiri hät es Chalb verchauft“ zu singen, wie es Ruedi Walter in der „Kleinen Niederdorfoper“ vorgetragen hatte. Der Chor erfüllte diesen Wunsch mit Bravour in Würde.
 
Der Heiri wollte, dass etwas lief, und so begab man sich denn in die Turnhalle in Richtung Untervaz zu Trockenfleisch, Käse und einem herrschaftlichen Pinot Noir von Philipp Grendelmeier-Bannwart in Zizers.
 
Die fröhliche Stimmung ... sie war ganz im Sinne von Adolf Holzner. Er selber hat die Ruhe in Frieden verdient.
 
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