Textatelier
BLOG vom: 03.11.2009

Im Jura: Wie wir den „Alten Fritz“ doch noch gefunden haben

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Auf unserer Exkursion vom 27.10.2009 in die Ajoie wandelten wir auf den Spuren einiger jurassischer Grössen. Unter anderen suchten wir selbstverständlich nach dem Alten Fritz, beziehungsweise nach dem, was von diesem strammen Soldaten aus dem 1. Weltkrieg, mit Militärmantel sowie Tschako (dem Pompon-Käppi, Vorgänger des Stahlhelms) und mit Landgewehr (bei Fuss) bewaffnet, geworden ist. Der in Granit gemeisselte tonnenschwere Soldat stand seit 1924, dem 10-Jahre-Gedenktag an die Mobilmachung der Schweizer Armee, westlich unterhalb der Passhöhe des Col des Rangiers im damaligen Berner Jura und heutigen Kanton Jura. Und genau mit dieser Veränderung hat das Verschwinden von Le Fritz, wie er im Jura genannt wird, zu tun.
 
Das Soldatendenkmal mit dem Namen „Sentinelle des Rangiers“ (die Wacht), ein Werk des Bildhauers Charles L’Eplatenier, einem der Lehrmeister von Le Corbusier, wurde 1984 Opfer eines Anschlags, für den die „Béliers“ (Sturmböcke), die Jugendgruppe des „Rassemblement Jurassien“ (RJ), die Verantwortung übernahm. Das RJ war die 1951 von Roland Béguelin (1921–1993), einem reformierten Südjurassier, und Roger Schaffter (1917–1998), Chefredaktor der Zeitung „Jura libre", angeführte separatistische Bewegung.
 
Etwas Separatismus-Geschichte
Zur Begründung des Drängens der Abspaltung von Bern führten die Befreiungskämpfer vowiegend historische Argumente an, so die mehrhundertjährige Unabhängigkeit, die der Jura erst 1792 verloren habe. Damals wurde im nördlichen Teil des Fürstbistums nach der Besetzung durch französische Revolutionstruppen die Raurakische Republik ausgerufen (Raurakier hatten sich in der Antike am südlichen Oberrhein angesiedelt, daher der Name). Sie wurde allerdings nur 1 Jahr alt. Bereits 1793 kam der gesamte Jura zur französischen Republik.
 
Etwas detaillierter ist die Geschichte der jurassischen Eigenständigkeit in der Denkschrift des Comité de Moutier von 1948 dargestellt: „Der Jura, das ehemalige Fürstbistum Basel, das während 8 Jahrhunderten einen autonomen Staat bildete, ist eine ethnische Einheit. Die Art und Weise, wie dieses Land historisch geschaffen worden ist, führte zur Entwicklung von Traditionen, die ihm eigen sind, sowie zu einer besonderen Art zu fühlen und zu denken, zur Entschlossenheit, sein sprachliches und geschichtliches Erbe zu wahren, zum Gefühl einer eigenen Nationalität, eines eigenen Schicksals und einer untrennbaren Verbundenheit mit seiner unabhängigen Vergangenheit.“
 
Dazu wäre beizufügen, dass die fürstbischöfliche Zeit nicht eben das Musterbeispiel eines Lebens in Freiheit war, ansonsten es nicht auch einen fast kontinuierlichen Widerstand gegeben hätte, vor allem um Moutier, im St-Imier-Tal und im Bezirk Neuveville; in Pruntrut erinnert man sich demgegenüber an eine grosse Zeit. Dies zeigt auch, dass der Jura als zerklüfteter Raum mit einsamen Talschaften und abgetrennten Gebirgsregionen nie eine geschlossene Einheit war, selbst dann nicht, als zum Kampf gegen die Germanisierungstendenzen geblasen wurde.
 
Das Ressentiment gegen Bern wurde inszeniert und weitete sich allmählich über die ganze Deutschschweiz aus, was auf eine Verächtlichmachung alles Deutschschweizerischen hinaus lief. Viele Jurassier fühlten sich mehr zu Frankreich hingezogen, obschon die Separatisten niemals von einem Anschluss an Frankreich sprachen. Das dann doch nicht. Die Auseinandersetzung nahm eine für Schweizer Verhältnisse unwahrscheinliche Heftigkeit an. Neben Sprengstoffattentaten waren es Brandstiftungen und tätliche Angriffe auf Berner Politiker. Durch schockierende kriminelle Akte sollte die Öffentlichkeit aufgeweckt werden, durch ähnliche Untergrundmethoden also, wie man sie aus dem Baskenland und Nordirland kennt. Mir persönlich gefiel diese würdelose Art des Kampfs um Unabhängigkeit nie, obschon mir separatistische Bestrebungen an sich sympathischer als die gleichmacherische Fusionitis sind. Sie schadet dem Ansehen und der Sache gleichermassen. In einer funktionierenden Demokratie reichen die legalen Mittel aus, um Veränderungen zu postulieren und gegebenenfalls durchzusetzen.
 
1959 bestätigte die Abstimmung über eine Initiative, dass es mit der „Einheit des jurassischen Volks“ nicht eben weit her war. Die 3 französischsprachigen und katholischen Amtsbezirke des Nordjuras hatten die Initiative sehr deutlich angenommen, während sich in den 3 französischsprachigen und reformierten Amtsbezirken des Südjuras ebenso wie im deutschsprachigen und katholischen Laufental deutliche loyalistische Mehrheiten ergeben hatten. Diese Abstimmung bewog das RJ zu einer schrittweisen Neuausrichtung. Es legte nun das Hauptgewicht mehr auf sprachliche statt auf historische Aspekte, wodurch der Anspruch auf den deutschsprachigen Amtsbezirk Laufen logischerweise aufgegeben werden musste.
 
Le Fritz – Opfer einer Fehlüberlegung
Aber was hatte das mit Le Fritz mit dem martialischen Blick und seiner Zerstörung zu tun? Man sah in dem unbescholtenen Mann die Verkörperung eines Zeitgeists, der die Schweiz in 2 Lager getrennt habe, vor allem was die Armeeführung anbelangte: die preussisch geprägte deutschschweizerische mit Stechschritt, Gewehrgriff und Drill auf der einen und die französisch geprägte, wohl etwas weniger zackige Heerführung auf der anderen Seite. Die „Kaisermanöver“ von 1912 zwischen Aadorf und Elgg ZH unter der Leitung des deutschen Kaisers Wilhelm II. (Friedrich = Fritz Wilhelm Viktor Albert von Preussen, 1859‒1941), an die sich ein grosses Defilee anschloss, hätten dafür beredtes Zeugnis abgelegt, wurde argumentiert. Tatsächlich hatte der deutsche Einfluss damals den französischen zurückgedrängt, was sich in einer vertieften Kluft zwischen der französisch- und der deutschsprachigen Schweiz niederschlug.
 
Die Erinnerung an solche Vorgänge dürfte dem unbescholtenen Alten Fritz die Existenz gekostet haben. Eine intellektuelle oder politische Meisterleistung aber war diese einfältige Denkmalschändung zweifellos nicht, zumal man den zweifellos falschen Feind erwischt hatte. Der Journalist Paul Imhof stellte dazu fest, die Statue habe die Jura-Autonomisten „nicht an die Besetzung einer Landesgrenze, sondern eines Grenzlands“ erinnert – und diese dumme Verwechslung bedeutete Fritzens Ende.
 
Die von der Sprengung gezeichneten Überreste des irreparablen Granitwerks befinden sich heute in einem Depot des kantonal-jurassischen Strassenbauamts in Glovelier.
 
Die jurassischen Aktivisten hatten es im Übrigen vor allem auf bernische Symbole abgesehen. In der Stadt Bern rissen sie die mehr als 400 Jahre alte Statue der Justitia vom Brunnensockel. Zudem verübten sie 2 Brandanschläge auf die Holzbrücke von Büren an der Aare, mauerten den Eingang des Berner Rathauses zu usf. In der Deutschschweiz gewannen sie damit kaum neue Freunde. Sie vermuteten ohnehin, die Deutschschweizer und damit vor allem auch die Armee stünden auf der Seite der Berner. Und falls dem so gewesen wäre, hätten sie mit ihrem schlechten politischen Stil selber dazu beigetragen.
 
Über den Col des Rangiers
Wir fuhren, von Vellerat, Courrendlin und Delémont her kommend, über den Col des Rangiers. Der Pass beginnt im Osten bei Develier (Distrikt Delémont) und endet zwischen den Orten Courgenay und Saint-Ursanne im Westen – oder umgekehrt. Er ist 16 km lang und überquert einen harmlosen Jurahügel; die Passhöhe befindet sich auf 856 m ü. M. Die Strasse führt durch einen jetzt golden gefärbten Herbstwald bei maximal 12 % Steigung.
 
Auf der Passhöhe ist ein behäbiges Restaurant, das an jenem Dienstag geschlossen war, und so genossen wir statt eines Kaffees oder eines Calanda-Biers den Blick auf die Jurakreten und – so weit es die Bäume erlaubten – auf Boécourt im Tal unten. Wir fragten ein Ehepaar, wo genau denn Le Fritz einst gestanden habe, und wurden zur Weiterfahrt gegen Cornol angewiesen. Nach etwa 1 km würde sich die Strasse gabeln, und eben dort sei das Denkmal gewesen, erfuhren wir. Wir fanden die denkmalfreie Gabelung (dort mündet eine Strasse von Boécourt und Bassecourt ein). Von einem Hinweis auf Fritz, dem Wächter von Rangiers, war wirklich keine Spur mehr vorhanden. Die Stelle ist von schönen Mauern umrandet und mit gepflegten Randsteinen versehen. Daneben ist ein Meilenstein: „XX LIEUES DE BERNE“. Diese Distanzangabe in Stein hat überlebt. Vielleicht lautet die Botschaft, man sei hier weit entfernt von Bern.
 
Unsere Auskunftspersonen hatten uns gebeten, mit offenen Augen durch Cornol zu fahren, wo eine Kopie von Fritz in Holz stehe, geschaffen vom letzten Holzschuhmacher. Also fuhren wir weiter, in die Gegend von „La Baroche“, vorbei an Asuel. Wir hätten gern im dortigen Restaurant du Cheval-Blanc, einer ehemaligen Mühle, gegessen, aber Montage und Dienstage sind dort, wie vielerorts in der Westschweiz, Wirtesonntage. Man sei hier im „Pays de la Cerise et de la Damassine“ – im Lande der Kirschen und der Damassinen = kleine rote Pflaumen, aus denen ein berühmter Schnaps gebrannt wird –, verkündet eine Hinweistafel.
 
In Cornol: der letzte Holzschuhmacher
Etwa 3 km weiter, am Waldausgang, beginnt am Nordfuss des Kettenjuras das Dorf Cornol (Bezirk Pruntrut), das die Gäste mit einem überdimensionierten Holzschuh begrüsst: „Bienvenue“ steht über dem Gemeindewappen (3 Mohrenköpfe mit rotem Stirnband); in der neueren Wappenversion wurden Bärenköpfe daraus. Das Strassendorf wird vom Bach Cornoline durchflossen. Und typische jurassische Bauernhäuser werten den Ortskern auf.
 
An der 27, Route des Rangiers, fanden wir die Saboterie de Cornol, die seit 1929 bestehende, letzte Holzschuhmacherei der Schweiz, tatsächlich. Daneben steht die verkleinerte, aber noch immer lebensgrosse Kopie des Alten Fritz, diesmal aus Holz geschnitzt. Le Fritz trug auf dem Gürtel mit den Patronentaschen ein Bündel mit roten Bändern umwickelte Ähren. Auf dem ebenfalls neu geschaffenen Sockel mit dem Schweizer Kreuz steht „1914   1918“, die Eckdaten des 1. Weltkriegs. Und davor, neben einem kleinen Holzschuhmuseum, hat sich auch der Schuhmacher mit einer Holzskulptur ebenfalls ein Denkmal gesetzt; er hält einen grossen Holzschuh in der Hand. Diese Selbstwürdigung durch den talentierten Handwerker ist durchaus berechtigt.
 
Als ich eben einen vor dem Eingang zur Schuhmacherei stehenden Klomp, wie man in Holland sagen würde, anprobierte, kam der Holzschuhmacher persönlich aus der Tür: André Gaignat. Er trug Klompen, die ihn etwas grösser erscheinen liessen, und einen blau gemusterten Pullover. Sein Haar hat sich bis auf den Schläfenbereich zurückgezogen. Er bat uns, in seine Werkstatt zu kommen, was er uns nicht zweimal sagen musste.
 
Da ich das Handwerk und Handwerker mit ihren Talenten, von denen ich nur träumen kann, in allerhöchsten Ehren halte, fühlte ich mich hier sofort ungemein wohl: Alte Maschinen, viel Werkzeug, Transmissionsriemen, Sägemehl am Boden, Erlen- und Pappelholzstücke, bereit zum Schnitzen, und Schuhe für alle Lebenslagen, auch zum Kässeli umgebaut. Wir kauften 2 Schlüsselanhänger mit Mini-Holzschuh aus Pappelholz. Abschliessend fotografierten wir Le Fritz und André Gaignat, glücklich darüber, diesem freundlichen Holzbildhauer und dem alten, misshandelten Fritz doch noch begegnet zu sein. Wir wünschten den beiden ein langes Leben und verabschiedeten uns.
 
Das nächste Ziel war Courgenay mit der lieben Gilberte, dem Traum der während des 1. Weltkriegs im Grenzbereich stationierten Soldaten. 
 
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