Textatelier
BLOG vom: 04.02.2005

„Atomgefahr USA“ – das tabuisierte Diskussionsthema

Autor: Walter Hess

Die amerikanische Atomwaffenpolitik mit ihrer ständigen Aufrüstung sei verantwortungslos, sagte der frühere US-Aussenminister Robert McNamara, der zum Atombombengegner geworden ist. Er hatte während der Kuba-Krise 1962 erlebt, wie die Welt an den Rand eines totalen Atomkrieges geriet. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges rüstet Amerika aggressiv auf. Eine Sendung von Radio DRS  ("Echo der Zeit") vom 1. Februar 2005 rief dies unter dem Titel „Blick in den nuklearen Abgrund“ in Erinnerung; man kann dafür nicht genug dankbar sein. Aber eine entsprechende Diskussion darüber hat nicht stattgefunden.

Weitere Diskussionsgrundlagen gäbe es schon: Im Buch Atomgefahr USA“ schreibt Ärztin und Atomwaffenspezialistin Helen Caldicott: „Wir steuern rasant auf eine weltweite Katastrophe zu. Im Weissen Haus sitzt ein kampflustiger und schlecht unterrichteter Präsident ..., der von seinem Mitarbeiterstab gesteuert wird, den er aus der Industrie rekrutiert hat und der so viel amerikanische Steuergelder wie nur irgend möglich abschöpfen möchte, um immer exotischere und gefährlichere Waffen damit zu bauen. Die Ministerkandidaten der Regierung Bush gehören zu den aggressivsten und extremsten der jüngsten Geschichte, und alarmierend viele Mitglieder von Bushs Stab haben direkte Verbindungen zu Lockheed Martin.“ Bei letzterem handelt es sich um einen riesigen Rüstungskonzern der USA, die für das Militär mindestens 25-mal mehr als alle anderen Schurkenstaaten (Iran, Libyen, Syrien, Sudan, Nordkorea und Kuba; der verwüstete, destabilisierte Irak ist hier nicht inbegriffen) zusammen ausgeben (laut Die Zeit 2003-6); inzwischen dürfte der Faktor noch höher sein. Die Herzen der Inhaber der in den USA begehrten Rüstungsaktien (auch die Titel von Boeing, Northrop Grumman, Raytheon und General Dynamics gehören dazu) schlagen bei jeder Kriegsrhetorik Bushs höher. Die Rüstungsfirmen sind in der Bush-Regierung ebenso dominant vertreten wie die Erdölkonzerne.

Die Autorin des erwähnten Buchs, Caldicott, ist Insiderin. Sie leitet das Nuclear Policy Research Institute in Los Angeles. Sie belegt die These, dass die korrumpierte US-Administration mit ihrer aggressiven „Präventivkriegspolitik“ unter einem grossen Druck der Rüstungsindustrie steht, Atomwaffen einzusetzen, damit diese neue produzieren kann. Geschäft ist Geschäft. Es gebe einen regelrechten Aufrüstungswettbewerb zwischen den einzelnen Waffengattungen, hielt sie fest.

Es scheint tatsächlich, als ob die Bush-Regierung, die für ihre katastrophalen Fehleinschätzungen und Lügen als Vorwand für Kriege weltbekannt ist, alles tue, um einen Nuklearwaffeneinsatz rechtfertigen zu können, vorerst einmal mit kleinen taktischen Atomwaffen wie „Bunker Basters“ und anderen „Mini-Bomben“. Der US-Kongress hat im Mai 2003 die Bush-Regierung ermächtigt, an Mini-Atombomben zu forschen, ein Tabubruch, der bei der Koalition der Willigen in aller Welt kaum für Aufregung sorgte. Diese kleineren Kaliber werden zu den in den USA bereits vorhandenen über 10 000 nuklearen Sprengköpfen noch hinzu kommen.

Dieses Bush-Regime, dem das Wort War besonders nahe liegt, schürt den Terrorismus offensichtlich, um gegen diesen einen Krieg führen zu können. Im Iran, dem Ziel der nächsten Aggression und Zerstörung (in Vorbereitung), wurden gleich 2 Kriegsgründe ausgemacht: Terroristenausbildung und Atomwaffenbau. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty nennt den Krieg gegen den Terrorismus mit guten Gründen bereits gefährlicher als den Terrorismus selbst. Anti-Terrorismus ist ein Bestandteil und Vorwand der Herbeiführung einer amerikanischen Weltordnung. Die Unterwürfigkeit der restlichen Welt hat bereits bewirkt, dass die Amerikaner bereits heute die Herren dieser Erde sind. Einem Schweizer wie mir, der von wirklicher Demokratie und Unabhängigkeit noch etwas hält, dreht sich bei diesem Gedanken der Magen ebenso um wie beim Verzehr von US-Food. Letzterem kann man ausweichen, all den Manifestationen von Überheblichkeit nicht.

Die USA fürchten kleinere Staaten, die sich wie sie an keine Vereinbarungen und völkerrechtlichen Konventionen halten, und ebenfalls Atombomben haben. Die Europäer täten gut daran, vermehrt und deutlich auf Distanz zu dieser ausschliesslich eigennützigen, weltbedrohenden US-Politik zu gehen, auch wenn diese durch das Hohlwort „Freedom“ und durch hirnlos applaudierende und bei jedem Bush-Wort jubelnde Amerikaner legitimiert zu sein scheint. Es gibt erste Anzeichen in dieser Richtung:

Annette Heuser, Leiterin des Brüsseler Büros der Bertelsmann Stiftung, beschäftigt sich mit der Zukunft der gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik der EU und dem EU-Konvent. Sie schrieb im Bertelsmann-Rundbrief vom 20. Januar 2005 zum Thema Was Europa in der zweiten Amtszeit von Präsident Bush erwartet“ unter anderem: „Die Europäer werden von den Amerikanern auch in der zweiten Amtszeit von Bush nur dann als Gesprächs- und Kooperationspartner ernst genommen, wenn sie in der Lage sind, strategische Konzepte − insbesondere für die Unterstützung des Transformationsprozesses im Nahen und Mittleren Osten − anzubieten. Ohne eine einheitliche europäische Strategie wird es keinen europäischen Einfluss auf die einzige Weltmacht geben.

Am 21. Januar habe ich Frau Heuser mit Bezug auf den erwähnten Beitrag geschrieben: “Ich habe Ihren US-kritischen Beitrag im Bertelsmann-Rundbrief mit Genugtuung gelesen. Die Arroganz dieser Bush-Regierung ist unerträglich.“

Da ich die zunehmende Atombewaffnung der USA als gravierendsten Ausdruck dieser unbeschreiblichen Arroganz empfinde, fügte ich folgende Frage bei: „Zweifellos sind Atomwaffen nicht zu tolerieren. Aber wieso toleriert man diese ausgerechnet bei den USA und bei Israel? Weshalb fordert denn niemand auch von diesen Ländern, die ja vor Waffeneinsatz aller Art erwiesenermassen nicht zurückschrecken, die Atomwaffen zu vernichten und nicht weiter aufzurüsten? Darf man das nicht sagen? (…) Vielleicht wissen Sie eine Antwort auf meine ungelöste Frage.“

Frau Heuser antwortete am 24. Januar 2005:

„Vielen Dank für Ihr positives Feedback. Aus meiner Sicht sind die USA Opfer ihrer in den Zeiten des Kalten Krieges verfolgten Atompolitik. Damals wurde das Signal an Staaten, die heute als Schurkenstaaten bezeichnet werden, gesendet, dass man quasi unangreifbar ist, sobald man über atomare Waffen verfügt. Nun wird diese Politik genau umgekehrt. Letztendlich ist aus meiner Sicht nicht zu vermeiden, dass der Iran über solche Waffen verfügt.

Daher ist der europäische Ansatz der Verhandlungen mit dem Land, die zu einem mittel- und langfristig entspannten Dialog führen sollen, gewinnbringender als gezielte militärische Angriffe auf vermutete Nuklearlager. Die Beziehungen zwischen den USA und Europa werden sich durch die Iran-Frage in den nächsten Monaten noch weiter dramatisieren. Leider zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre mit der Bush-Administration auch, dass die Europäer wenig Chancen haben mit ihrem Ansatz gehört zu werden.

Dennoch − wir sollten nicht aufgeben und können nur im Dialog mit den USA und nicht gegen sie die Frage der Unterstützung der Transformationsprozesse im Nahen und Mittleren Osten klären. Wie Sie sehen, habe ich auch kein Patentrezept für diese schwierige Situation, aber vielleicht hilft Ihnen diese kurze Einschätzung weiter. Mit herzlichen Grüssen aus Brüssel“,

gez. Annette Heuser

Diese intelligente Antwort, die auf die Vernunft setzt, selbst wenn dies ein hoffnungsloses Unterfangen ist, liess die Antwort auf meine zentrale Frage nach Abrüstung der Atommächte offen oder nur verklausuliert erkennen: Wieso denn fordert beinahe niemand Atommächte wie die USA und Israel und alle anderen auf, ihre Massenvernichtungswaffen ebenfalls zu vernichten oder Atomwaffenprogramme einzustellen, wie dies alle anderen Länder ebenfalls tun müssen? Laut der erfrischend globalisierungskritischen Schweizer Zeitung „Zeit-Fragen“ (2003-20) besitzt Israel „ungefähr 200 Atomsprengköpfe, genug, um die gesamte Region in eine Wüste zu verwandeln. Dazu war von den USA noch nie ein Wort zu vernehmen.“

Entweder man lässt diese gigantischen Zerstörungsmittel generell zu oder man verbietet sie überall. Nur eine konsequente Haltung allen Atommächten und Atombombenbastlern gegenüber würde einen massiven Druck auf und eine internationale Bestrafung von Atomwaffenbesitzern oder -herstellern rechtfertigen. Man kann doch den USA und ihren Freunden nicht alles (inklusive Missachtung des Völkerrechts) und den anderen bei Kriegsandrohung nichts erlauben. Diese Ungleichbehandlung führt zu einer ständigen Eskalation. Wer auf A-Waffen freiwillig verzichtet, hat unter solchen Prämissen am Ende das Nachsehen. Wer sich für die Unabhängigkeit seines Landes verantwortlich fühlt, muss aufrüsten.

Wenn unter den gegebenen Prämissen die Atombewaffung der Schweiz zur Diskussion stünde, würde ich zustimmen. Stattdessen übt sich unsere einst stolze Armee gerade in Nato-Tauglichkeit… Nationalrat Ulrich Schlüer schrieb dazu treffend: „Das Armee-Leitbild 'Sicherheit durch Koordination' hat ausgedient. Der Traum von der losen Partnerschaft mit Nato-Einheiten, der die Armeeführung noch immer umtreibt, ist ausgeträumt. Wer mit einer Interventions-Armee anbandelt, setzt mutwillig die Sicherheit von Bevölkerung und Land aufs Spiel.“ Am Ende werden wir von dieser Kampftruppe unter US-Befehl dann wahrscheinlich wegen unseres heldenhaft verteidigten Bankgeheimnisses angegriffen, der letzten Bastion unseres Unabhängigkeitsstrebens, und diesen Einsatz auch gleich noch mitfinanzieren ...

Laut dem „Dossier Nr. 46“ des Netzwerks Friedenskooperative ist den „offiziellen“ 5 Nuklearmächten, die vor dem 1. Januar 1967 eine Kernwaffe hergestellt oder gezündet hatten (USA, Russland, Grossbritannien, Frankreich und China) „im Prinzip alles im Nuklearbereich erlaubt; Kontrollen müssen demgemäss keine durchgeführt werden. Eine 2. Klasse von Staaten verzichtet auf den Kernwaffenbesitz, hat dafür aber Zugriff auf alle Nukleartechnologien, sofern diese unter den nuklearen Sicherungsmassnahmen der IAEO zivil genutzt und entwickelt werden. Dagegen wird einer 3. Gruppe von Staaten weder der Kernwaffenbesitz gestattet noch der Zugang zu sensitiven Nukleartechnologien eröffnet. Ein solches Dreiklassen-System mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten ist auf Dauer nicht stabil.“

Und weiter: „Systematische Anstrengungen zur weltweiten Reduzierung der Kernwaffen mit dem langfristigen Ziel ihrer Eliminierung wurden bislang nicht unternommen. Die zwischen den USA und Russland getroffene Vereinbarung über die weitere Reduktion ihrer Kernwaffen (= Vertrag über die Verringerung strategischer Offensivwaffen, SORT) vom Mai 2002 hat nicht den Charakter eines völkerrechtlichen Vertrages und verzichtet auf explizite Verifikationsvereinbarungen.“

Mit anderen Worten: Da passiert schon gar nichts. Das Messen mit ungleichen Ellen spottet jeden Gerechtigkeitsgefühls. Mordechai Vanu musste in Israel 18 Jahre ins Gefängnis, weil er der „Sunday Times“ gegenüber wahrheitsgemäss enthüllt hatte, dass Israel Atomwaffen besitzt. Die Berliner Zeitung vom 21. April 2004 schrieb dazu: „Offiziell hiess es in Jerusalem immer, dass ‚Israel keine Atomwaffen besitzt und nicht das erste Land sein wird, das sie im Nahen Osten einführt’. Eine mit den USA getroffene Vereinbarung schreibt fest, dass israelische Politiker sich in der Öffentlichkeit niemals zu den nuklearen Fähigkeiten ihres Landes äussern. Im Gegenzug verzichtete Washington in dieser Frage auf jeglichen Druck. Dies alles schien plötzlich bedroht zu sein.“

In dieser Welt der Lügen, Verdrehungen, Verdrängungen, Irreführungen und Zensur wäre es zwingend, dass sich die Medien endlich mit Engagement mit den wirklichen Gefahren befassen würden. Es müsste daraus klar werden, welche enorme Gefahr die US-Politik für den Weltfrieden bedeutet und dass das Bush-Lieblingswort „freedom“ eine der übelsten Verdrehungen des Sachverhaltes ist, und mögen alle jene, die auf die Bush-Regierung hereinfallen, noch so frenetisch jubeln, wenn sie dieses Wort zum hundertsten Mal hören müssen, das der Verschleierung ganz anders gelagerter Tatsachen dient.

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