BLOG vom: 06.03.2010
Traumdeutung: Die weiche Landung in den neuen Tag
Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
Im Zwitterstadium zwischen Schlaf und Aufwachen, ganz in der Morgennähe, erinnert man sich am ehesten der Träume. Dieses Stadium an sich ist einer weichen Landung in den Tag vergleichbar. Mir geht es hier um eine ganz andere weiche Landung, die einer Traumdeutung bedürfte. Ich gehe dabei vom Axiom aus, dass der Mensch viel träumt, abgestützt auf mein eigenes Traumleben. „Du bist ein Träumer“, hatte mir mein Vater oft gesagt, und er hat Recht gehabt.
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Im Traum erschien mir ein sonniger Traumtag, kalt und klar. Die Aussicht auf die Bergwelt war von keinem Nebel verhangen. Ich stand beim Dorfausgang. Ein wuchtiger, viereckiger Neubau behinderte meine Sicht. Ich wich dem Bauklotz seitlich aus und fand mich unverhofft in einer Gruppe von Leuten, die, gleich mir, die Berglandschaft bewunderten, vom Tal zu den Bergen hochblickend. Es war Sonntag, und nur das Glockengeläute unterbrach die himmlische Stille.
„Dort“, wies plötzlich ein Mann neben mir gegen den zackigen Bergkamm, der mit Firnschnee überzogen war, „nicht zu glauben, sind Alphütten genau unter der Bergspitze.“ Ich schaute durch den Feldstecher und wiederholte selbst erstaunt: „Nicht zu glauben!“
Auf der dreieckigen, langgezogenen Schneepiste unterhalb der Alphütten tummelten sich viele Skifahrer. „Zum Glück ist die Piste links, etwa 4 Meter vor der Steilwand entfernt, abgeschrankt“, nahm ich meinerseits den Gesprächsfaden mit dem Nebenmann auf. „Das ist gefährlich“, schüttelte er bedeutungsvoll den Kopf, „wer die Schranke durchbricht, stürzt wohl 300 Meter tief in den Tod.“
Plötzlich schrie jemand entsetzt: „Was tut der Kerl dort oben!“ Eine Gestalt hatte die Brüstung überklettert. Mit einer Hand am Stangenzaun geklammert, sicherte sie den Fusshalt, ging einige Schritte auf dem Schnee aufwärts und bückte sich. Was hatte diese Gestalt, Mann oder Frau, verloren?
Ein Schreckensschrei entfuhr auch mir. Der Mensch rutschte aus – gegen den Rand der Steilwand. Konnte er sich auffangen? Im Zeitlupentempo verlor er den letzten Halt und stürzte kopfvoran in die Tiefe. Weder ich noch die anderen Augenzeugen dieses tragischen Absturzes rührten sich. Der Schreck blieb uns allen in der Kehle stecken.
Wie ein Pfeil sauste das Opfer in die Tiefe. Was hielt das Opfer umschlungen? Woher kam der Aufwind, gänzlich unerwartet? Der Sturz verflachte sich, wie von einem Luftkissen aufgefangen. Mehr noch, schien ein heftiger Seitenwind das Opfer erfasst zu haben und trieb es gegen eine aufgehäufte Masse Treibschnee unterhalb des Tannenwalds uns gegenüber. Es landete auf dem Rücken und schlitterte durch den Schnee. „Zur Brücke!“, schrie jemand. 400 Meter bloss trennten uns noch vom Abgestürzten, als wir Atem schöpften. „Er bewegt sich“, jubelte eine Frauenstimme. Wir trauten unseren Augen nicht: Der Mensch, ein Mann, entstieg mühsam der Schneemasse und taumelte uns, hin und her wankend, zu. Noch immer hielt er etwas in seiner Sportjacke umschlungen. Ein Kind heulte unter der Jacke. Auch ihm war nichts geschehen. Ein Bauer aus dem nahen Gehöft hatte sich zu uns gesellt.
Die Rettungsmannschaft erschien nach einer halben Stunde. Ich stand neben dem alten Bauer. „Wer nicht an Wunder glaubt, der hat jetzt eines erlebt“, sprach ich ihn an. „Vielleicht, vielleicht auch nicht“, äusserte er sich bedächtig. „Dieses Tal ist seit Urzeiten bekannt für seine heftigen Wirbelwinde aus allen Richtungen auf einmal, besonders um diese Jahreszeit, wenn der Föhn kommt. Ohne diesen gäbe hier keinen solchen Riesenhaufen von Schnee“, wies er gegen die aufgetürmte Schneemasse. „Es dauert Monate“, bis da der letzte Schnee weg geschmolzen ist.“
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Diese wunderbare Rettung machte Schlagzeilen weit übers Land hinweg. Hinterher wurde bekannt, dass dieser Vater seinem 3-jährigen Töchterchen einen Wunsch erfüllen wollte und es, in seine Jacke eingewickelt, zur Skiabfahrt mitgenommen hatte. Er sei ein erprobter Skifahrer, wurde erwähnt, doch wegen einer fehlerhaften Bindung habe er einen Ski verloren und sei gegen die Brüstung geprallt. Zum Glück blieb das Kind unverletzt, wie es sich herausstellte, als er es aus der Hülle befreite. Vom Schreck erfasst, sei es ihm davon gerannt und durch die Brüstung gerutscht. Er konnte es im letzten Augenblick beim Ärmel packen und in seiner Jacke sichern, ehe er ausgerutscht sei.
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Wie kann ich mir diesen Traum deuten? Ich bin teils ein Skeptiker, der, wie der Bauer, ein Wunder als natürlich begründet, wie es auch Wissenschaftler tun, teils habe ich einen Wunderglauben und schreibe diese sagenhafte Rettung dem Schutzengel zu. So wiederhole ich, was mir der Bauer gesagt hat: „Vielleicht, vielleicht auch nicht.“
Hinweis auf weitere Feuilletons von Emil Baschnonga
06.02.2009: Zum Lob der Flausen: Wegweiser zu Lebensinhalten
14.07.2007: Reissaus genommen – Der wunde Punkt im Leben
24.09.2006: Hin und Her: Gespräche zwischen dem „Ich und Du”
06.07.2006: Auf Abwegen: Lumpazi Vagabundus und die Wehmut
13.05.2006: Abnabeln und Verknoten: Rund um den Bauchnabel
06.10.2005: Le Passe-muraille: Luftschlösser sind gratis zu habenHinweis auf weitere Blogs von Faber Elisabeth
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