BLOG vom: 29.03.2010
Philosophie-Plauderecke: Durch den Strohhalm denken
Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
Einer meiner Söhne musste sich für die A-Level Prüfung in der Mathematik vorbereiten. Ganz in unserer Nähe wohnte ein schon sehr betagter, ehemaliger Mathematik-Professor. „Warum schickt Ihr ihn nicht zu mir!“ schlug er vor. „Dann kann ich feststellen, ob er ausreichend für die Prüfung gerüstet ist.“
Unser Sohn kam vom Test zurück, sehr erstaunt, dass ihm der würdige Mann vorgeschlagen hatte, „durch den Strohhalm zu denken …“. Ich zuckte die Schultern und meinte, dass auch ich diesen Rat nicht verstehe, aber erwähnte absichtlich nicht das Wort „Altersschwachsinn“. Dem Professor gebührt Pietät. Mein Sohn hatte ihn in seinen letzten Lebenswochen besucht.
Warum ist mir der Ausspruch „Durch den Strohhalm denken“ haften geblieben, und weshalb greife ich ihn hier auf?
Limonade habe ich als Knabe am liebsten durch den Strohhalm genossen. Jetzt schweifen meine Gedanken ab, indem ich bedenke, wie unser Kopf, heute mehr denn je, mit zu viel Wissensballast befrachtet wird, der uns nichts nützt, ausser vielleicht, um ein Kreuzworträtsel zu lösen. Ich mag mich erinnern, dass ich meinen Kopf periodisch von vermeintlich nutzlosem Ballast befreit habe. Das tue ich selbst heute noch. Hinterm PC drücke ich auf die Löschtaste, um mich von den Ergebnissen einer Internet-Recherche zu entlasten, nachdem ich einige Resultate für eine Schreibarbeit aufgegriffen habe. In diesem Sinne habe ich durch den Strohhalm gedacht und eine Auslese getroffen.
Im Zusammenhang mit der „hygiène mentale“ vermute ich, dass es besser ist, sich vom überflüssigen Kopfballast zu befreien. Damit bestimmen wir, was wir im Kopf behalten wollen und was nicht. Unser Kopf ist kein Mülleimer. Aber in meinem Selbstgespräch zweifle ich meine Vermutung mit der Frage an: „Ist es besser zu viel als zu wenig zu wissen?“ Oder genauer gefragt: „Ist es besser, ein bisschen über vieles zu wissen oder viel über weniges?“
Ich stütze mich auf ein Beispiel ab: Wer viel mit seiner Muttersprache und einigen Fremdsprachen zu tun hat, wird durch den Strohhalm jedes Wort, dass er nicht versteht, aufsaugen und seinem Gedächtnis zuführen und damit seinen Sprachschatz sukzessive erweitern. Selbst ein Sprachgenie kann nur eine beschränkte Anzahl von Sprachen beherrschen. Somit sollte es besser sein, viel (Wörter) über weniges (Sprachen) zu wissen.
Wiederum schleichen sich Zweifel ein. Wer in der Rumpelkammer seines Gehirns aufräumt, kann voreilig vieles entsorgen, das ihm hin und wieder beim Gedankengang behilflich sein kann. Aphorismen, Gleichnisse, Gedankenverbindungen aller Art zehren förmlich von der Schatzkammer gehorteter „Nebensächlichkeiten“. Wie kann man solche Nebensächlichkeiten sieben und bündeln?
Ich denke dabei an die Speise- oder Vorratskammer. Dort liegen auf einem Gestell die Konserven gestapelt, auf einem anderen Teigwaren, Kartoffeln, Rüben usf. Ordnung muss sein, damit der Gedankenhaushalt funktioniert. „Ein bisschen über vieles zu wissen“, schadet nicht. Nur das Chaos schadet.
Vertieftes Wissen ist lobenswert, solange man auch von einer solchen Vorratskammer zehren kann, folgere ich. So bleibt die Antwort auf die Kernfrage in der Schwebe, wie man durch den Strohhalm denken kann. Vielleicht braucht es dazu viele Strohhalme, um die Denkzellen mitsamt dem Gedächtnis aufzuladen und frisch zu erhalten.
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