Textatelier
BLOG vom: 11.05.2010

Slow Food: Nach Geist und etwas Geld ausgestreckte Fühler

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
Unter einer stilisierten Schnecke mit aufmerksam emporgestreckten Fühlern war „Delegiertenversammlung Slow Food Schweiz vom 8. Mai 2010 in Genf“ an die Wand projiziert. In einem fensterlosen Raum des Hotels „Warwick“ an der 14, Rue de Lausanne in Genève hatten sich an jenem Samstagnachmittag rund 40 Personen zur DV eingefunden. Einiges Notizpapier lag auf den Tischen, Henniez stand in Glasflaschen bereit. Die Aufgabe war eine Standortbestimmung, welche die üblichen, vereinsrechtlich halt nun einmal vorgeschriebenen Traktanden überlagern sollte: eine Auseinandersetzung zwischen „Geld und Geist“ wie damals bei Jeremias Gotthelf. In jenem Roman hat der fleissige, brave Christen durch Spekulationen viel Geld verloren und erfahren müssen, dass es im Leben halt auch materielle Zwänge gibt, die im Lot bleiben sollten, um nicht zu sagen: zu reglementieren sind. Sonst kann das Geld auch einen unheilvollen Einfluss auf das Leben nehmen.
 
Die Geldbeschaffung dürfte niemals auf Kosten der Lebensgrundlagen gehen. Das sollte innerhalb eines reifen Systems geschehen, das sich nicht selbst zerstört, also nicht so wie bei der neoliberalen Globalisierung, wo alles in blödsinniger Manier ausschliesslich auf Profit ausgerichtet ist. Stattdessen müsste die grösste Energie doch für die Erhaltung, für die Nicht-Beschädigung des Ökosystems, aufgewandt werden.
 
Lauter gute Ideen
„Wir haben sensationelle Ideen“, sagte Rafael Pérez, der selbstbewusste Präsident von Slow Food Schweiz (SF) beim DV-Auftakt und bezog sich damit auf die von ihm repräsentierte Organisation. „Alle Leute finden sie gut. Wer von Slow Food spricht, findet nur zustimmend nickende Gesichter.“ Die Gesellschaft erwarte viel von SF, und an erster Stelle stehe immer, auch an Delegiertenversammlungen, diese Frage: „Was wollen wir erreichen?“ Die Antwort brach spontan aus Pérez hervor; seit Jahren setzt er sich dafür mit Leib und Seele ein: „Wir wollen einen Beitrag zur Biodiversität leisten, uns für nachhaltig erzeugte, einheimische Produkte einsetzen.“ Er, der Präsident, spricht immer frei; seine Ansprachen erleben vor dem Publikum ihre Geburtsstunde. Mit seinen dunklen, vifen Augen nimmt der sportlich gebräunte, gebürtige Madrider Kontakt mit seinen Zuhörern auf, möchte deren Regungen erspüren.
 
Das von ihm adverbial gebauchte Wort „nachhaltig“ gefiel ihm beim Überdenken seines vorangegangenen Satzes selber nicht: „,Nachhaltig’ wird so viel gebraucht, dass es nichts mehr bedeutet. Alles ist nachhaltig, auch unsere heutigen Bedürfnisse sind es. Doch müssen wir lernen, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, ohne die Welt der kommenden Generationen zu beeinträchtigen. Nachhaltig ist zum Beispiel ein Familienbetrieb, der Vorbereitungen getroffen hat, dass er von der nachfolgenden Generation weitergeführt werden kann. Und nachhaltig ist etwas, zum Beispiel die Ernährung, die nicht entkulturalisiert, nicht mcdonaldisiert wurde. Deshalb müssen wir die Geschmacksschulung vorantreiben. Denn das genüssliche Essen steht schliesslich im Zentrum des menschlichen Wirkens und Handelns.“
 
Ich hatte eine halbe Stunde vorher ein einfaches, kleines Einzelzimmer (Nummer 223) für 1 Nacht für 190 CHF (ohne Frühstück) gemietet. Der Glasriss in einer Fensterscheibe belebte den Blick auf einen in Renovation begriffenen Nachbarbau; der Glasschaden störte mich nicht. Das Warwick ist in zentraler Lage im teuren Genf (gerade beim Bahnhof Cornavin). Und ich hatte also (schon wieder) erfahren, dass man manchmal etwas Geld braucht. Doch das Geldverdienen sollte nicht der oberste Zweck allen Wirtschaftens – des Produzierens und Verkaufens – sein; das ist auch meine Überzeugung. Wir müssen bei solchen Bemühungen, die Arbeit bedeuten, als übergeordnete Zielsetzung versuchen, eine andere Welt zu schaffen, beispielgebend, ohne Missionsdrang alter Schule. Wir sind aufgerufen, Ökosysteme zu reparieren, die dann in der Lage sind, Wohlstand, befriedigende Arbeiten und wirkliche Sicherheit zu gewährleisten, das heisst, wir müssen neben dem Geld auch dem Geist eine Chance geben, eine Gewichtsverlagerung vom Materialismus zu immateriellen Werten initiieren. Bei der Ernährung geht es neben der Aufnahme von Betriebsstoffen auch um den Genuss, und bei der Auswahl der Nahrung muss zudem das Verantwortungsbewusstsein mitwirken.
 
Doch zurück zu Pérez’ Worten, die mit solchen Denkstrukturen kongruent sind: Es sei eine „holistische“ (Rundum-)Betrachtungsweise nötig, hielt er fest; auch die Würde der Produzenten müsse gewährleistet sein. Die Arbeit müsse einen Sinn haben. Bei diesem Punkt angekommen, erinnerte der Referent an Fjodor Michailowitsch Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ (um 1860 entstanden), die am Beispiel eines sibirischen Gefangenenlagers aufzeigen, wie man Menschen zum Wahnsinn treiben kann, wenn sie dazu zwingt, eine sinnlose Arbeit zu verrichten, zum Beispiel immer den gleichen Sand in Säcke abzufüllen und hin und her zu tragen.
 
Als ich diese Worte hörte, kam ich nicht umhin, diesen Faden aufzunehmen und weiterzuspinnen: Vielleicht ist eine zerstörerische Arbeit in ihren Wirkungen auf den Arbeiter noch schlimmer als eine sinnlose. Wo immer eine Industrie nur noch Grösse und Gewinnmaximierung anstrebt und sich von den Lebensgesetzen der Natur verabschiedet, sich nicht also an natürlichen Prozessen orientiert und Gleichgewichte missachtet, stellen sich überall Schäden ein. Das unsinnige Bestreben, Überfluss zu schaffen, wird am Ende schwer defizitär.
 
„Wir handeln immer politisch“
Ein Verein wie SF, der in der Schweiz rund 3000 Mitglieder umfasst, braucht geordnete Strukturen. Er ist nicht einer bestimmten Partei zugetan, also politisch neutral. Doch als sich die Diskussion an der Genfer DV darum drehte, ob jemand im offiziellen SF-Rundbrief eine politische Aussage machen dürfe, etwa ein verständnisvolles Wort über Kuba zum Ärger der USA, sagte Pérez: „Jede unserer Handlungen ist politisch. Jeder Mensch übt eine politische Tätigkeit aus.“ Man kann und soll ihm diese nicht verbieten, und so gibt es auch innerhalb von SF viele politische Strömungen, die aber doch auf das gemeinsame Ziel ausmünden: auf einen diversifizierteren Lebensraum mit kleinen, überschaubaren Strukturen.
 
Wenn man solche philosophische Zielsetzungen sozusagen vereinstechnisch/statutarisch umsetzen muss, ist das mit ungeahnten Problemen verbunden. SF-Geschäftsleiter Giuseppe Domeniconi gelang das mit seinem diplomatischen Geschick auf der Grundlage des Bestrebens, auch das Einzelschicksal zu berücksichtigen. Dabei muss das Kunststück gelingen, die Mitglieder bei der Stange zu halten. Das sind Leute, die nicht fragen, ob sie für ihren Jahresbeitrag von 120 (Einzelmitglieder) bzw. 160 CHF (Paare) einen genauen, offensichtlichen Gegenwert erhalten, sondern die bereit sind, eine Idee zu unterstützen, die dadurch besser verbreitet werden kann. Die Statuten wurden einstimmig angenommen (Auszug im Anhang).
 
Rettende Presidi
Auch dem Sponsoring kommt bei SF Bedeutung zu; der Vertrag mit Coop wurde um 3 Jahre verlängert, die Unterstützungsbeiträge jedoch um etwa 1/3 gekürzt. Die regionalen SF-Produkte („Presidi“) sollen noch durch Ziger-Spezialitäten, Kastanienprodukte zur Selven-Erhaltung, eine Schwarzwurst (Blutwurst, Rettung eines Kulturguts), Quitten-Tätschlis usf. (eine Chance für alte Quittensorten) ergänzt werden.
 
slow.ch
Ein Kommunikations-, Marketing- und Werbemittel ist für die Slow-Food-Bewegung die Zeitschrift „slow.ch“, welche weitgehend die Handschrift von Ursula Hasler Rumois trägt und nun als 4. Ausgabe vorliegt; diese ist dem Thema „Herzblut“ gewidmet, der Leidenschaft bei der Lebensmittelproduktion. Nachdem die 1. Ausgabe 3-sprachig herausgegeben worden war, ergab sich ein Defizit, so dass man sich anschliessend auf eine deutschsprachige Ausgabe beschränken musste. Dadurch konnte das Defizit für die Éditions Slow Food Suisse GmbH  (Geschäftsleitung: Ursula Hasler, Giuseppe Domeniconi, Markus Gehri, Raphael Pfarrer, Rainer Riedi und Simon Meyer, eine 100%-Tochtergesellschaft des SF-Vereins) in einen tragbaren Rahmen gedrückt werden. Eine Kommission soll Vorschläge ausarbeiten, damit die Existenzgrundlage des anspruchsvollen Publikationsorgans auf eine solidere Basis kommt. Die Weiterführung dieser einzigartigen Zeitschrift war unbestritten.
 
Ein zusätzliches Projekt ist im Zustand der Gärung: Die Umwandlung des Schlosses Tarasp GR, das heute im Besitz der Erben aus dem Haus Hessen-Kassel (Landgrafschaft) ist, in ein Zentrum für Biodiversität und Volkskunde. Allerdings werden die Kaufkosten nicht durch SF, sondern vor allem durch die Standortgemeinde Tarasp, den Kanton Graubünden getragen werden. Eine Machbarkeitsstudie ist laut Raphael Pfarrer in Arbeit; allenfalls können Pro Specie rara und SF von hier aus ihre Ideen im Interesse eines intakten Lebensraums verbreiten.
 
Und genau dorthin – zu einem vielgestaltigen, lebenswerten Lebensraum – will man ja. Das wollen doch alle. Folglich müsste jedermann Slow-Food-Mitglied sein. Dann wären unsere Lebensgrundlagen weniger bedrängt.
 
Hinweis auf Blogs über weitere Slow-Food-Anlässe
 
 
Anhang
Name, Sinn und Zweck des Vereins (aus den Statuten)
Unter dem Namen „Slow Food. Schweiz Suisse Svizzera Svizra“ (im Folgenden "Verein" oder „SF-CH“) besteht ein Verein im Sinne von Art. 60 ff. des Schweizerischen Zivilgesetzbuches mit Sitz in Bern.
 
ZWECK, INTERNATIONALE EINORDNUNG
a) Der Verein ist ein ideeller und freiwilliger Zusammenschluss von natürlichen Personen, die gemeinsame kulinarische, gastronomische und kulturelle Ziele verfolgen, namentlich den Schutz der Biodiversität, den Schutz von Tierrassen und Pflanzenarten, die für die Ernährung und die Tradition wichtig sind sowie die Unterstützung bedrohter Produkte und ihrer Hersteller.
 
b) Der Verein gehört zur internationalen Slow-Food-Bewegung mit Sitz in Bra, Italien, und anerkennt deren Statuten. Er fördert und verbreitet deren Gedankengut. Er ist politisch und konfessionell neutral.
 
c) Der Verein kann Weisungen erlassen für die Anerkennung von juristischen Personen und Institutionen als Donatoren oder „Amici“, welche sich der Philosophie von Slow Food verbunden fühlen. Diese sind nicht Mitglieder des Vereins.
 
d) „Slow Food“ und das Schneckenlogo sind eine international geschützte Wort-/Bild-Marke, deren Nutzungsrechte in der Schweiz ausschliesslich beim Verein Slow Food Schweiz-Suisse-Svizzera-Svizra liegen. Der Verein betreibt und überwacht die Vermarktung dieser Wort- und Bildmarke in Übereinstimmung mit den Vorgaben von Slow Food. International.
 
e) Zur Vermarktung der Wort-/Bild-Marke in der Schweiz oder zur Förderung des Zwecks des Vereins kann er sich an anderen Unternehmungen des Inlandes beteiligen sowie alle Geschäfte eingehen und Verträge abschliessen, die direkt oder indirekt damit in Zusammenhang stehen.
 
f) Der Verein kann Grundstücke erwerben, verwalten und weiterveräussern.
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