Textatelier
BLOG vom: 10.08.2010

Altes Rheinfelder Kraftwerk: Viel zu schade zum Abreissen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Das dampfende Industriegebiet in Rheinfelden D mit den Betriebsgebäuden und Fabrikklötzen, den Kaminen, den riesigen, runden Tanks und den horizontalen Verbindungsleitungen, mit allem möglichen weiterem Gestänge, den Strassen, Parkplätzen und Uferverbauungen ist kein Ausbund makelloser Schönheit, sondern das Resultat über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte gewachsener Industriekultur. Das schönste Bauwerk ist dort eindeutig das Maschinenhaus des 1898 erbauten, alten Wasserkraftwerks Rheinfelden, des ersten Flusskraftwerks in Europa – ein Industriedenkmal. Älter sind nur noch die Niagara-Fall-Kraftwerke (1896).
 
Bemerkenswert ist, dass das Rheinfelder Werk längs zur Flussrichtung gebaut wurde, weil es seinerzeit unmöglich war, eine solche Anlage quer in den Rhein zu stellen; die dafür notwendige Stabilität, um dem Wasserdruck in allen Hochwasserlagen zu widerstehen, war noch nicht zu erreichen. Und dies wiederum verunmöglichte eine effektive Wassernutzung. Das hatte immerhin den Vorteil, dass die Felsformation im Rheinbett, das „Gwild“, unbehelligt blieb.
 
Das 150 m lange Rheinfelder Industriedenkmal besteht aus Stampfbeton und ist zum grossen Teil aus dem dort im Rhein vorkommenden, kompakten Muschelkalk verkleidet oder gemauert. Die Verwendung des an Ort und Stelle vorhandenen Baumaterials fördert den harmonischen Eindruck. Das Maschinenhaus steht auf arkadenartigen Bögen, die ins Rheinwasser greifen, und darüber präsentiert sich ein Bau von geradezu klassizistischer Ebenmässigkeit und angenehmen Proportionen: ein auskragender Mittelteil und 2 lange Flügel mit oben leicht gewölbten Fenstern. Das Kraftwerk gilt als eines der bedeutendsten heimat- und industriegeschichtlichen Bauwerke der Region Rheinfelden. Noch heute sind darin 2 Maschinensätze von 1897/98 vorhanden, wären noch zu gebrauchen, wie viele der Zwangspensionierten.
 
Die Anlage, nach Plänen des Bauingenieurs Conradin Zschokke (1842‒1918, Gründer der Zschokke-Gruppe, heute Implenia) erstellt, diente anfänglich vor allem der Herstellung von Wechsel- und Drehstrom (Dreiphasen-Wechselstrom) auf der Basis der 50-Hertz-Frequenz. Sie gab auch den Impuls zum europäischen Verbundnetz, dessen Herz heute in Laufenburg AG pulsiert.
 
Die Sache scheint leider, leider gelaufen zu sein: Der Abbruch wurde schon längst beschlossen – ein Fehlentscheid zweifelsohne –; er ist Bestandteil der Baugenehmigung für den Neubau, und jetzt wird dieses Todesurteil aller Voraussicht nach vollstreckt. Der Blödsinn wird amtlicherseits mit „Rechtssicherheit“ motiviert. Eine Aussprache beim Regierungspräsidium Freiburg im Breisgau (Julian Würtenberger) am 21.06.2010 mit Vertretern des internationalen Denkmalrats (ICOMOS) und weiteren internationalen und nationalen Organisationen hat nichts genützt. Nur der Eisensteg über der Rhein soll noch so lange wie möglich bleiben dürfen, was immer das heissen mag.
 
Am Dienstag, 03.08.2010, habe ich diesen 220 m langen, Länder-verbindenden, genieteten Eisensteg (aus Thomas-Stahl) von der linksufrigen Schweizer Seite aus noch einmal begangen und durch die Zwischenräume der kräftigen, schräg gestellten Stangen das Bauwerk auf mich wirken lassen, wohl zum letzten Mal. Die Turbinen und Generatoren waren bereits seit dem 27.07.2010 abgestellt. Und es schien, dass der durch Dammschüttungen gegen das rechte Ufer, also zur KW-Antiquität abgedrängte Rhein, der kraftvoll an den Bogengewölben rüttelte und versuchte, das Kraftwerk fortzuspülen, um dessen Leidenszeit abzukürzen. Ein aussichtsloses Unterfangen. Der Abbruch von KW und Eisensteg, beschönigend „Rückbau“ genannt, soll Ende Oktober 2010 beginnen.
 
Dem KW-Neubau entgegen
Ich folgte dann von der romantischen Taverne „Zähringer“ beim Stegeingang auf CH-Seite dem Rheinuferweg flussaufwärts, dem Kraftwerk-Neubau entgegen, einen Teil der so genannten „Schwoobenrunde“ absolvierend. Das neue Werk befindet sich rund 800 m flussaufwärts. Der Mergelweg ist gut ausgebaut, angenehm zu begehen. Auch bei recht warmem Wetter bleibt der Mergel, ein Gemisch aus Ton und Kalksplittern, kühl, weil er wie der Wanderer etwas schwitzt, das heisst, Wasser verliert, und sich dabei abkühlt. Schatten von drehwüchsigen Kastanienbäumen und vom Uferwald sowie aufgetürmte Wolken halfen ihm, die Atmosphäre besonders angenehm zu gestalten.
 
Wegen des Kraftwerkneubaus wird der Rheinuferweg auf einer Teilstrecke umgeleitet. Er verläuft jetzt nicht am Rande des Rheins, sondern weit oberhalb des Ufers und ermöglicht an einem Aussichtspunkt mit Ruhebank einen guten Überblick über das neue Kraftwerk, das im Gegensatz zum stolz in der Landschaft stehenden Vorgängerbau in den Rhein einzutauchen scheint. Es will das Landschaftsbild offenbar möglichst unbehelligt lassen – ganz im Gegensatz zum alten Industriepalast, der das damals Pionierhafte der Elektrizitätsproduktion zur Schau stellte.
 
Der Weg führt dann weiter bis zu einer ausufernden Güterwagen-Reparaturwerkstätte; dort stehen Wagen mit neuen Bremsbelägen, und Achsen mit den schweren Eisenrädern sind zu Bergen aufgeschichtet. Ein Loktraktor „Zephir“, ein Zweiwegefahrzeug für Schienen und schienenfreies Gelände, schiebt die Wagen herum; auf Schienen werden die Gummiräder einfach angehoben.
 
Neben der Werkstätte verläuft der „Erdbeeriweg“, wo ich mich mit Brombeeren verköstigt habe, oberhalb der grossen KW-Baustelle. Erdbeeren waren nicht im Angebot. An jener Stelle dreht der Weg um 180 Grad, führt der KW-Baustelle entgegen. Zuerst erreichte ich die gigantische Kiesgruebe Chleigrüt, und gleich neben diesem Loch türmen sich riesige Aushubberge mit Natursteinbrocken auf.
 
Daneben führt eine unbefestigte Fahrstrasse vorbei, die mit einer Fussgänger-Verbotstafel geschmückt war: „Betreten der Baustelle verboten. Bei Unfällen wird jede Haftung abgelehnt. ernst frey.“ Ich schloss daraus, dass das Verbot vorwiegend mit dem Haftungsausschluss zu tun hatte, wenn auch verständlich ist, dass im Baubereich kein Tourismus toleriert werden kann. Aber bei publizistische Tätigen müsste man ja wohl 2 Augen zudrücken, dachte ich. Es war gegen Mittags 1 Uhr und kein Mensch weit und breit, so dass ich das Risiko auf mich nahm und weiterging – im Bewusstsein, niemanden zu stören. In Baustellennähe zirkulierten Lastwagen, die über die Schwerlastbrücke Aushubmaterial für Dammschüttungen auf die deutsche Seite karrten. Die Chauffeure grüssten nicht, ignorierten mich, aber fuhren mich auch nicht um, was ich sehr zu schätzen wusste. Ich hatte die Kamera umgehängt und trug  meine Landeskarte 1:25 000 („Rheinfelden“, Blatt 1048) in der Hand. Wenn auch die Karte als Baustellenplan hätte interpretiert werden können, so war ich dennoch nicht mit einem selbstbewussten Oberbaustellenleiter zu verwechseln, als ich in die verbotene Gefahrenzone und hinauf auf einen Hügel schritt, auf dem verschiedenen Länderfahnen wehten, wohl die Herkunftsländer der Bauarbeiter markierend. In der Nähe sind Parkplätze für die Belegschaft und eine Art Kantine.
 
Überblick über den Neubau
Der künstlich angelegt Hügel bietet einen herrlichen Überblick über die Baustelle mit dem neu entstandenen Kraftwerk, bestehend aus dem Stauwehr und der Wehrzentrale, dem Krafthaus, der Eintiefungsrinne, dem naturnahen Fliessgewässer, den Dammschüttungen, die ebenso wie die Baubaracken wieder verschwinden werden. Wie ein riesiges, lineares, romanisches Ornament, seit dem 11. Jahrhundert von den Germanen beliebt, steht das Wehr im Rhein, eine wuchtige Länderverbindung.
 
Am äussersten Punkt des Hügels steht eine Tafel: „Dieses Areal wird videoüberwacht.“ Als ich gerade hier angekommen war – mit Kamera im Anschlag und schlechtem Gewissen –, begann ein giftiges Warnsignal-Gehupe in der Baugrube unten, und ich befürchtet, dass es mich dieses Mal erwischt haben könnte und war entschlossen, alles zuzugeben. Doch hatte sich bloss der 20-Tonnen-Schienenkran, unter dem ein 5-achsiger ALSTOM-Lastwagen auf die Entladung wartete, in Betrieb gesetzt, was mich (wie auch den erwähnten Lastwagen) erleichterte. So konnte ich unbehelligt und mit unbeeinträchtigtem Leumund zum verbotenen Baustelleneingang und zu Fuss nach Rheinfelden zurückkehren.
*
Der Weg führte mich am Kurzentrum, an der Rehabilitationsklinik (Reha-Klinik) und am Regionalspital vorbei. Rheinfelden kam mir als Energiestadt und Eldorado des Krankheitswesens vor. Es ist somit bestens für die Erste-Hilfe-Leistung mit Elektroschocks ausgerüstet, womit ich die übrigen Rheinfelder Qualitäten nicht etwa tiefstapeln will – nicht dem Beispiel des in sich gekehrten KW-Neubaus folgend. Man denke nur an die prächtige Altstadt und ans Bier, das hier ebenfalls fliesst und zur Energieproduktion dienen kann.
 
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