Textatelier
BLOG vom: 11.10.2010

Stuttgart 21: Wenn Entscheidungsträger das Volk überfahren

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Stuttgart soll einen neuen Hauptbahnhof und neue Geleise mit Anschluss an die geplante ICE-Neubaustrecke nach Ulm erhalten, um in Zukunft für die Herausforderungen der Globalisierung mit dem immer härteren Wettbewerb gerüstet zu sein – 10 Jahre dürften die Bauarbeiten in Anspruch nehmen. Der Abbruch der bestehenden Anlage hat am 25.08.2010 am Nordflügel begonnen, nachdem das Oberlandesgericht Stuttgart einen Teilabriss des bestehenden Bahnhofs erlaubt hatte (Nord- und Südflügel und grosse Freitreppe im Inneren des Hauptbaus). Der Volksaufstand begann. Stuttgarts beliebtester Park, der Schlossgarten, ist von der Umgestaltung bedroht.
 
Fakten sind geschaffen, und täglich werden es ihrer mehr. Sofort nach Baubeginn war es zu Sitzblockaden gekommen. Die Polizei trug die Demonstranten weg. Und dann kamen neue und immer mehr.
 
Wahrscheinlich ist es verkehrstechnisch sinnvoll, den Sackbahnhof (Kopfbahnhof, wie ihn auch Zürich hatte und in einen Durchgangsbahnhof umwandelte) in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof umzufunktionieren; in Sackbahnhöfen wird das Zugsende zum Zugsanfang; sie verdrehen die Traktionen. Sackbahnhöfe stammen aus einer Zeit, zu der man Züge einfach zu einem Stadteingang führen wollte. Dennoch verlangen in Stuttgart Zehntausende einen Baustopp, nachdem bei der Planung einiges aus dem Ruder gelaufen ist – und dazu gehören offenbar die mangelhafte Planung und die Kosten, die zurzeit auf 7 Milliarden Euro geschätzt werden; Gutachten nennen Zahlen bis 18 Mia. Euro. Auch die Eingriffe ins vertraute Stadtbild lehnen viele Stuttgarter ab, bemängeln obendrein, es gebe keinen vernünftigen Stadtentwicklungsplan. Den „schwäbischen Filz“ und die „kaltschnäuzige Cliquenwirtschaft“ unter Mitbeteiligung von lokalen Medien, von denen ich bei www.stern.de gelesen habe, kenne ich nicht.
 
Es steht mir zudem nicht zu, die Planung und einen allfälligen Nutzen oder Schaden des Projekts „Stuttgart 21“ (die Zahl ist ein Hinweis auf das 21. Jahrhundert und die gloriose Zukunft) zu beurteilen. Der beliebte CDU-Politiker und Streitschlichter Heiner Geissler (80) hat die Aufgabe, die Wogen, für die er nichts kann, zu glätten. Er wollte sofort einen Baustopp für die Zeit der Verhandlungen aushandeln und wurde zurückgepfiffen. Man sprach von einem Missverständnis. Dann gingen die Proteste am 09.10.2010 weiter. Zehntausende wollen „Oben bleiben!“ und verlangten: „Sofort Baustopp – dann Gespräche!“
 
Demokratische Defizite
Doch wie konnte es in Stuttgart zu dieser gravierenden, bürgerkriegsähnlichen Situation kommen? Aus meiner schweizerischen Erfahrungswelt heraus komme ich zum Schluss, dass sie das Resultat eines Demokratiedefizits ist. Bei Grossprojekten muss die betroffene Bevölkerung, die am Ende auch für die Kosten geradestehen muss, von Anfang an ein Mitspracherecht haben. Sie muss ihre Bedenken und Forderungen einbringen können und Gewähr haben, dass ihre Anliegen ernst genommen werden. In Stuttgart gab es 1997 mehr als 10 000 Einsprüche von Bürgern und Behörden, vor allem gegen die Streckenführung und die erwartete Lärmentwicklung. Das brachte nichts. Rund 67 000 Bürger sprachen sich im Dezember 2007 für einen Bürgerentscheid über das Projekt aus, den der Gemeinderat der Landeshauptstadt jedoch mit grosser Mehrheit ablehnte. Das Resultat dieser volksfernen Politik liegt nun vor.
 
Die Beachtung der Bürgerinteressen wäre der Idealfall von direkter Demokratie, wie es sie tiefenscharf bei uns in der Schweiz noch immer gibt und wo sich am Ende alle hinter die Kompromisse stellen und stellen müssen. Demokratie (Volksherrschaft) sei wegen des Mehrheitsprinzips der Terror der Mehrheit, heisst es, aber sie ist besser als alle anderen Staatsformen, welche die Menschheit bisher hervorgebracht hat.
 
In den meisten Ländern gibt es keine direkte, sondern die indirekte beziehungsweise repräsentative Demokratie: Die Wahlberechtigten wählen ihre Vertreter, die dann eben stellvertretend abschliessend entscheiden. Der deutsche Bahnchef Rüdiger Grube, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG, stellte an die Adresse der Gegner von „Stuttgart 21“ im „Bild am Sonntag“ fest: „Bei uns entscheiden Parlamente, niemand sonst. Unsere frei gewählten Volksvertreter haben das Dutzende Mal getan: im Bund, im Land, in Stadt und Region. Immer mit grossen Mehrheiten.“
 
Das kann den Umgang mit den Projektgegnern und Einsprechern erklären. Erst jetzt, zu spät wohl, sprach der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Stefan Mappus, von Informations- und Gesprächsforen, wo alle über Einzelfragen diskutieren – etwa den Schutz der Mineralquellen, die Kostenfrage, Optimierungen im künftigen Nahverkehr, das Baustellenmanagement und den Anwohnerschutz.
 
Es soll also, nachdem der Zug sozusagen abgefahren ist, das Versäumte nachgeholt werden. Die Ausschaltung der Volksmitsprache war meines Erachtens das Problem. Und Stuttgart ist im Rahmen des Globalisierungsgeschehens kein Einzelfall, sondern bloss ein ausgesprochen deutliches Signal. Die Wähler haben keinen Einfluss auf den Gang der Staatsgeschäfte mehr, müssen ihre Unzufriedenheiten bis zu den nächsten Wahlen aufsparen und dürfen dann die Opposition wählen – somit kommt es zu ständigen Schaukelbewegungen ohne Konstanz.
 
Diese Stellvertreter-Lösung mit den delegierten Kompetenzen wird auch wegen des zunehmenden Lobbyismus, der nach US-Muster alle Länder und Machtinhaber erfasst (auch die Schweiz), immer fragwürdiger, untauglicher. Statt die Interessen des Volks werden mehr und mehr jene von Geldgebern verfolgt. Das Volk darf wählen und bezahlen, ist aber während der Entscheidungsprozesse weitgehend ausgeschaltet. Unzufriedenheiten stauen sich an, werden übermächtig. Die Bevölkerung hat keine andere Möglichkeit mehr, als sich durch Demonstrationen und Blockaden Luft zu verschaffen. Das zieht massive Polizeieinsätze nach sich – und damit eine Eskalation. Ein 66-jähriger Ingenieur, Dietrich Wagner, wurde in Stuttgart von einem Wasserwerferstrahl getroffen und erlitt schwere Augenverletzungen; Ärzte kämpfen um sein Augenlicht. Der Mann wollte friedlich demonstrieren und wurde so zum Symbol des Widerstands. Persönlich zahlt er einen hohen Preis.
 
Demokratische Zustände mit der Möglichkeit zur freien Willensbildung sind für Herrscher aller Stufen beschwerlich, hinderlich, lästig. Eine permanente, vollständige und der Wahrheit verpflichtete Information würde dazu führen, dass unangenehme Zusammenhänge ans Licht kommen. Sie wird durch eine Pseudoinformation ersetzt, die sich als Propaganda entpuppt, die auch vor irreführenden Angaben nicht zurückschreckt. Und wenn es trotz solcher manipulativer Aktionen den Bürgern gelingt, die kritische Haltung aufgrund eigener Hirnleistungen zu bewahren, sind für alle Teile folgenschwere Unruhen programmiert.
 
Politik der Strasse
Kann ein politischer Stil sinnvoll sein, der immer mehr Demonstrationen und Bürgerproteste gebiert, der Menschen aufgrund manipulativer Einflüsse mit systematischer Propaganda in die Frustration hinein treibt? Man muss den Leuten dankbar sein, die sich bemerkbar machen, sich wehren, mit legalen Mitteln für bessere Zustände kämpfen und sich nicht irrationalen Verhaltensweisen gutgläubig unterwerfen. Aber Gewalt dürfte nicht sein; sie ist näher beim Krieg als bei einer demokratischen Auseinandersetzung. Um solche Exzesse zu verhindern, müssen Wege gefunden werden, die Bürgerbeteiligung zu etablieren; Bürger ihrerseits dürfen sich nicht ausschalten lassen. Die Stadt Essen liess sich etwas Vorbildliches einfallen: Sie rief Anfang 2010 ihre Einwohner dazu auf, sich an der Beratung zum Doppelhaushalt 2010/2011 zu beteiligen; ein Ideenwettbewerb könnte nützlich und vertrauensbildend sein, dachten die Stadtbehörden wohl.
 
Globalisierungsfolgen
Die Globalisierung zielt auf schnelle statt nachhaltige Veränderungen ab (die Wirtschaft zeigt, wie das geht), auch auf Veränderungen als solche. Denn die Vereinheitlichung, Gleichschaltung der Erde verlangt und erzwingt die Abkehr von bestehenden Werten. Solche Bestrebungen, die Weltherrschaft zu erobern, die es schon immer gab, sind nur in ihren Dimensionen relativ neu, anders. Sie verlangen nach Einebnung, nach zentraler Steuerung. Solche Geschehnisse betreffen vor allem auch die politischen und hinderlichen demokratischen Strukturen. In der Schweiz werden Gemeinden zusammengelegt, wo immer der Widerstand der Einwohnerschaft gebrochen werden konnte. Und das alles muss schnell, möglichst ohne Bremsaktionen gehen. In den letzten 10 Jahren gab es so viele Gemeindefusionen wie in den 150 Jahren vorher (von den wirtschaftlichen gar nicht zu sprechen). Und laut Avenir Suisse, die im Auftrag der Grossindustrie die Schweizer globalisierungstauglich klopfen will, befindet sich heute jede 5. Gemeinde in einer Art Fusionsgespräch. Wahrscheinlich werden auch die Kantone allmählich fusioniert, was eine zentrale Steuerung vereinfachen würde, gerade auch solche von aussen. Heute gibt die Kriegsnation USA den globalen Tarif vor, verspielt zum Glück aber ihren Einfluss zunehmend, vor allem wegen ihrer gigantischen Schuldenwirtschaft, die sie selber und die liierten Länder ins Verderben führt. Der Dollarzerfall ist nur eines der einschlägigen Symptome.
 
Die auf die Globalisierung hereinfallende Welt wird auf wackeligen Schuldenbergen aufgebaut, die kein tragfähiges Fundament sind. In diesem Umfeld sind Grossprojekte, die gegen die Bevölkerungsmehrheit, deren Einmischung unerwünscht ist, durchgeboxt werden sollen und ihnen zur schweren finanziellen Last auf Jahre hinaus werden, Kristallisationspunkte der allgemeinen Unzufriedenheit.
 
„Stuttgart 21“ gehört in diesen Zusammenhang, ist aber nur ein bezeichnender Stein des Anstosses unter unendlich vielen. Es wird noch einige davon brauchen, um den entgleisten Zug zum Anhalten und zur Umkehr zu bringen.
 
Literatur zum Thema
Hess, Walter: „Kontrapunkte zur Einheitswelt. Wie man sich vor der Globalisierung retten kann“. Verlag Textatelier.com, CH-5023 Biberstein 2005. ISBN 3-9523015-0-7.
 
Hinweis auf weitere Blogs zum Thema Globalisierung
31.12.2004: Bilanz 2004: Überhaupt nichts im Griff
 
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