BLOG vom: 29.11.2010
Keine Schäferidylle à la Spitzweg auf Londons Strassen
Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
Weg vom Strassenverkehr
Die Streifenwagen sausen mit heulenden Sirenen durch die Londoner Strassen und verursachen viele Unfälle mit verheerenden Folgen für andere Strassenbenutzer, besonders Fussgänger und Radfahrer. Die Fahrer setzen sich über alle Verkehrsregeln hinweg, wenn sie etwa Autodieben nachjagen oder Ladendiebe dingfest machen wollen.
Einst lobte ich mir den Londoner „Bobby“. Er war wirklich ein Schutzmann und höflich im Umgang mit den Leuten. Sein Schlagstock blieb im Halfter. Heute schlendern die Polizisten zu Zweit plaudernd durch die Strassen, voll bewaffnet und mit Schutzwesten und Sprechfunk ausgerüstet. Wer immer ihnen verdächtig erscheint, wird von ihnen angerempelt und nach Waffen und Drogen abgeklopft. Wer sich dagegen sträubt und wehrt, wird wegen Widerstands mit Handschellen abgeführt. Kürzlich wurden wiederum protestierende Studenten, worunter auch Schüler, eingekesselt. Diese Massnahme heisst auf Englisch „kettling“. Stundenlang standen sie in bitterer Kälte wie Vieh aneinander gepresst. Die Polizei verscherzt sich die Gunst des Publikums.
Im Strassenverkehr erbost der geringste Anlass mehr und mehr Autofahrer und löst Wutanfälle (road rage) aus. Der Streit um Parkplätze ist grotesk und wird immer ausfälliger.
Mir fehlt das treffende deutsche Wort für „traffic warden“, also jene Uniformierten, die schikanös Parksündern auflauern – vielleicht würde Verkehrsüberwacher die Sache treffen. Eine Bagatelle genügt, und der Sünder wird mit einer saftigen Busse bestraft. Sie verdienen mehr als Lehrer und Pflegepersonal. „Google translate“ lieferte mir für „traffic warden“ das Wort „Politesse“ … Zum Lachen, wenn man genügend Sinn für Humor hat.
Der letztjährige harte Winter hat viele noch immer nicht ausgebesserte Schlaglöcher auf allen Strassen hinterlassen. Diese ungestopften Löcher sind für alle Strassenbenützer gefährlich. Jetzt, nach dem vorzeitigen Wintereinbruch, kommen neue hinzu.
***
Spitzwegfigur?
Das alles bedeutet für mich, wenn die Strassen vereist sind und der Eiswind bläst: Weg von den Strassen und Zuflucht zu den Idyllen im trauten Heim! Dort werde ich zeitweise zur Spitzwegfigur (Carl Spitzweg (1808‒1885, deutscher Maler und Poet), der seine Kakteen pflegt und bewundert, Bilder einrahmt, als Bücherwurm in seiner Bückersammlung herumstöbert und sich der Schreiblust hingibt.
Abseits des tristen Weltgeschehens und seinen vielfältigen Ärgerquellen erhole ich mich jetzt im Idyll und bin innerlich für die Feiertage vorbereitet. Aber das kann mein Dauerzustand nicht sein, denn ich kann mich nicht von der Welt abriegeln, sonst werde ich zum Eigenbrötler.
Viele Leute geniessen das friedliche Landleben und ergehen sich in der Natur durch alle Jahreszeiten. Dieses Glück ist mir als Städter nicht zuteil geworden. Idylle können trügen und etwas vortäuschen, das nicht mehr ist als eine Scheinwelt des beschaulichen Lebens, wie etwa im Bilderbogen der „Schäferidylle“ vorgegaukelt. Die viktorianische Zeit hat viele rührselige Bilder hinterlassen, die von Sentimentalität nur so triefen und einst als farbige Kunstdrucke sehr begehrt waren und viele kleinbürgerlichen Stuben zierten.
Die Sehnsucht nach Arkadien reicht bis tief in die Antike und erreichte ihren Höhepunkt im Barock und Rokoko voller stimmungsvollen Landschaften und Ruinen,von Vigils Hirten besiedelt. In dieser Pastorale hielten Daphnis und Chloe (wie vom griechischen Poeten Longus geschildert)wacker mit und genossen ihre Schäferstündchen nicht unbedingt lammfromm. Die Lyrik hat sich am idyllischen Musenkult gesättigt, der heutzutage arg befremdet.
Mein Techtelmechtel mit der Idylle ist bereits mehr als gesättigt. Was sich mir als Leckerbissen anbot, habe ich heimlich genascht, wie als Kind meine bevorzugten „Änisbrötli", „Mailänderli“ und „Brunsli“ (Weinachtsgebäck) – und kam Weihnachten, war ich nicht mehr auf sie erpicht.
Mein Abstecher in die Idylle war wirklich von kurzer Dauer!
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