Textatelier
BLOG vom: 21.12.2010

Depressionen und ein Lichtblick bis in die Niederungen

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Der Winter löst Depressionen aus, wenigstens in unseren Breitengraden. Die Leute schneiden lange Gesichter und werden vom Katarrh geplagt. Die Tageshelle verflüchtigt sich in wenigen Stunden. In London zwängen sich die Pendler in die überfüllten Metros und Vorortszüge. Der Fahrplan wird von Streiks ständig durchbrochen. Selbst die Signale streiken. Der Arbeitnehmer ist gezwungen, unbezahlte Überstunden zu leisten. Die Zahl der Arbeitslosen wächst – die einzigen Wachstumsraten: die Inflation, die Lebensmittelpreise und das Benzin ausgenommen. Die Löhne werden gekürzt. Die Wirtschaftskrise vertieft sich. Die Tarife für Elektrizität und Gas wurden eben um 7 % erhöht. Die Heizung wird gedrosselt. Pensionäre frieren am schlimmsten.
*
Ich selbst bleibe länger im Bett, entgegen meiner Gewohnheit, und warte, bis die Zentralheizung um 7 Uhr anspringt. Die Frühnachrichten verdriessen mich wie immer.
 
Nach dem Morgenkaffee fische ich Friedrich Nietzsches „Unzeitgemässe Betrachtungen“ aus meiner Bücherwand (2. Auflage, vom Druck und Verlag C. G. Neumann, Leipzig, 1893 veröffentlicht). Verspreche ich mir Trost davon? Peter Graf, der als Herausgeber zeichnet, schrieb gleich im 2. Absatz: „Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass diese vier Bücher, durch eine etwaige Verbesserung der Weltzustände, irgend Etwas von ihrer Unzeitgemässheit eingebüsst hätten. Der Wissende, um die geistigen Güter der Menschheit Besorgte weiss nur zu gut, dass diese Bücher jetzt noch unzeitgemässer sind als bei ihrem ersten Erscheinen. Alles ,schreitet fort’, nämlich abwärts, bestenfalls geradeaus, nur nicht hinauf!“
 
Genau in diesem Augenblick prasselt Eisregen nieder und beantwortet meine Frage. Im ersten Band geisselt Friedrich Nietzsche den Bekenner und Schriftsteller David Strauss. Ab Seite 31 gewinnt mir Nietzsches ätzender Verriss ein erstes Schmunzeln ab. Strauss schilt den „Suppen-Haydn“ und erst noch den „Confect-Beethoven“. Nietzsche schreibt am allerbesten, wenn er in Harnisch gerät: „Der Straussische Philister haust in den Werken unserer grossen Dichter und Musiker wie ein Gewürm, welches lebt, indem es zerstört, bewundert, indem es frisst, anbetet, indem es verdaut.“
 
Der Tag ist gerettet: Meine Depression ist verflogen.
 
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