BLOG vom: 07.04.2011
Sind die Erinnerungen im Alter Vermögen oder Ballast?
Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
Mit zunehmendem Alter häufen sich die Erinnerungen, die guten wie auch die schlechten. Das liegt auf der Hand, genauer im Gedächtnis eingebettet, teils tief begraben. Ein Vorfall, ein Erlebnis kann sie wachrütteln und ins Bewusstsein schleusen. Verlebendigt bestimmen sie nach und nach unser Verhalten und prägen unser Verhältnis zum Leben.
Stimmen sie uns heiter oder bedrücken sie uns? Die Frohnatur zählt die heiteren Erinnerungen nur und verdrängt und vergisst die schlechten. Ich beneide sie, denn meine Erinnerungen sind wankelmütig und schwanken zwischen den guten und schlechten hin und her wie eine Wetterfahne. Jede Frohnatur, glaube ich, hat auch ihre Schattenseite, die sie nicht wahrnehmen will.
Hier ist der 1. Ausgangspunkt zu meiner Betrachtung: Der Bruder meiner Mutter wurde von seinem jähzornigen Vater aus dem Haus gejagt. Er hatte keine Mutter mehr, die ihm hätte beistehen können. Im Stapel der Fotografien, die mir meine Mutter hinterlassen hat, fand ich ein Foto von ihm, wohl im Alter um 55 aufgenommen. Seine Gesichtszüge waren von Schwermut gezeichnet. Er trug lebenslang schwer am Ballast seiner schlechten Erinnerungen.
Die Eltern mögen längst gestorben sein, doch ihr Verhalten wirkt lange in uns nach und beeinflusst unser eigenes – bis zu einem gewissen Grad. Ein sonniges Gemüt verdanken wir ihnen so gut wie ein düsteres, aber im Verlauf des Lebens kommen viele andere Einflussfaktoren hinzu, die Licht oder Schatten werfen. Die Stichwörter wie Liebesglück oder Liebesleid, beruflicher Erfolg oder Misserfolg hinterlassen, unter anderen einschneidenden Einflüssen, ihre Spuren oder Furchen in unseren Erinnerungen, wovon wir entweder beglückt zehren oder die uns bedrücken. Soweit „les vérités de La Palisse“ – die Binsenwahrheiten.
Wer behauptet, wir seien bloss Spielbälle des blinden Zufalls? Wir können dem Glück nachhelfen, damit es uns wegleuchte und heitere Erinnerungen beschere, Trost spendend selbst auf tumultuösen Etappen in unserem Leben. Die Glücksbringer seien gelobt und bedankt, in welcher Gunst sie uns auch immer erscheinen. Wie oft habe ich leichtsinnig das Glück verspielt, genau im Augenblick, wenn ich es gebraucht hätte – sogar noch heute. Dann mache ich mir nachträglich Vorwürfe. Reue schleicht sich ein. Aphoristisch ausgedrückt: Ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen ist ein Lotse durch Engpässe.
Manchmal wünsche ich mir ein weniger entwickeltes Erinnerungs- vermögen. Das ist der Fall, wenn mir im nachhinein längst begangene Fehler erneut im Gemüt schwären. Kann ich sie rückgängig machen oder mich wenigstens entschuldigen? Meistens ist es viel zu spät dazu. Der von meinem Fehler Betroffene ist verschollen oder gestorben. Das sind dunkle Flecken im Gewissen.
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Als 2. Ausgangspunkt meiner Gedanken kehre ich hier den Spiess um und stelle die Frage: Wie empfindlich und nachträglich sind wir bezüglich Verstösse, die andere an uns begangen haben? Schopenhauer sagte: „Vergeben und vergessen heisst, gemachte kostbare Erfahrungen zum Fenster hinauswerfen.“ Goethe hingegen liess den Satz im „Faust“ fallen: „Lass das Vergangene vergangen sein.“ Wenn ich schon Goethe zitiere, darf Schiller nicht fehlen („Die Braut von Messina“): „Der Siege göttlichster ist das Vergeben!“
14 Jahre sind es her, seitdem ich ausgerechnet am Neujahrstag entdeckte, wie mich ein Geschäftspartner schlimm betrogen hatte.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf mein Blog: 12.01.2008: Hochinnovativ: Vom Trugschein bis zum SalPeter-Betrug. Kein Wunder, dass ich es mit Schopenhauers Zitat halte, denn alljährlich um diese Jahreszeit drängt sich mir diese leidliche Geschichte wieder ins Bewusstsein. Die Wunde ist zwar längst vernarbt – aber diesen Betrug kann ich nicht vergeben. Zwar belastet mich dieser Ballast nicht mehr, aber dennoch …
... dennoch renke ich ein und gebe zu, dass es besser ist, viele Unliebsamkeiten zu vergessen, um Raum für angenehme Erinnerungen zu schaffen. Es gibt ihrer so viele! Inwieweit das einem gelingt, ist vom Seismografen unserer Erinnerungsfähigkeit abhängig und wie weit wir ihn beeinflussen können.
(Stimmen aus der Leserschaft würden mich freuen.)
Hinweis auf weitere Feuilletons von Emil Baschnonga
18.09.2010: Die geköpfte Helena auf dem Londoner Ramschmarkt
06.02.2009: Zum Lob der Flausen: Wegweiser zu Lebensinhalten
14.07.2007: Reissaus genommen – Der wunde Punkt im Leben
24.09.2006: Hin und Her: Gespräche zwischen dem „Ich und Du”
06.07.2006: Auf Abwegen: Lumpazi Vagabundus und die Wehmut
13.05.2006: Abnabeln und Verknoten: Rund um den Bauchnabel
Hinweis auf weitere Blogs von Faber Elisabeth
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