BLOG vom: 28.04.2011
Frühjahrskräuter (3): Der Löwenzahn regt den Appetit an
Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
Etwas früher als gewohnt können wir jetzt die gelben Farbtupfer des Löwenzahns (Taraxum officinalis Web.) auf Wiesen, an Wegrändern und in lichten Wäldern und manchen Gärten erblicken. Sogar am Rande von geteerten Gehwegen wächst er heraus. Die Pflanze entwickelt eine ungeahnte Kraft und Vitalität, wenn sie sogar solche Hindernisse überwindet. Dies beobachte ich immer wieder in Schopfheim D und auch anderswo.
Die Blütenpracht ist leider nur von kurzer Dauer. Am 19.04.2011 sah ich schon die ersten „Pusteblumen“. Meine fast 5-jährige Enkelin Melina konnte an diesem Tag ihre Pustekraft einsetzen, und schon flogen die kleinen Fallschirme mit den daran hängenden Samen herum. Einige landeten in ihrem Gesicht. Ich erklärte ihr, sie müsse immer in Windrichtung „pusten“. Das hat sie schnell begriffen und startete neue Versuche.
Wir Buben fertigten früher aus den Löwenzahnstängeln Pfeifen und „Brummer“, während die Mädchen aus diesen Ketten und Ringe herstellten. So manche Blütenkette verschönte das Antlitz eines Mädchens, und ab und zu landeten die Fallschirmchen der Pusteblume in den Mündchen der Kleinen. Wir sagten dann zum Mädchen: „Wenn Du die Augen zumachst und den Mund öffnest, bekommst du etwas Gutes.“ Manch ein Mädchen machte mit, aber nur das 1. Mal. Bei zukünftigen Versuchen waren sie gewarnt, und wir mussten andere Opfer suchen.
Schon Wolfgang von Goethe schrieb in seinen morphologischen Schriften („Spiraltendenz der Vegetation“) über die Löwenzahnstiele das Folgende: „Wenn man die Stiele des Löwenzahns an einem Ende aufschlitzt, die beiden Seiten des hohlen Röhrchens sachte voneinander trennt, so rollt sich jede in sich nach aussen und hängt im Gefolge dessen als eine gewundene Locke spiralförmig zugespitzt herab, woran sich Kinder ergötzen und wir dem tiefsten Naturgeheimnis näher treten.“
Der Löwenzahn, der etwa 500 bis 600 Volksnamen hat, ist eine altbewährte Heilpflanze. Er wurde schon bei den arabischen Ärzten des Mittelalters als stoffwechselanregendes Diuretikum sehr geschätzt. Nach Leonhart Fuchs gilt die Droge als zusammenziehend, magenstärkend, blutstillend, schlaffördernd, menstruationsfördernd, blutreinigend und harntreibend. Zu Hieronymus Bocks Zeiten (1498−1554) verwandten Frauen Wurzelwasser zur Schönheitspflege und zur Beseitigung von Sommersprossen.
„Bettseicher“ und „Bettschiesser“
Die Wirkung des Löwenzahns wurde inzwischen vielfach bestätigt. Er steigert den Appetit, regt den Stoffwechsel, die Gallensekretion und die Verdauung an. Er ist auch ein Förderer der Harnausscheidung. Aus diesem Grunde bezeichnet man ihn vielerorts als „Bettseicher“ und in Frankreich „pissenlit“.
Während des S4-Wandertreffs des Südwestfunks 1998 in der Stadthalle von Schopfheim kam ein etwa 10-jähriges Mädchen an unseren Buchstand (Frank Hiepe und ich präsentierten dort unser Heilpflanzenbuch) und flüsterte Frank Hiepe zu: „Der Löwenzahn wird doch Bettschiesserle genannt.“ Hiepe entgegnete, dass er nur den Namen „Bettseicherle“ kenne. Die Kleine liess nicht locker, sie meinte, bei ihr zu Hause würde sie so genannt (gemeint war wohl nicht das Mädchen, die ins Bett macht, sondern die Pflanze).
Dem Mädchen muss ich nachträglich recht geben. In Baden gibt es nämlich Bezirke, in denen die Bezeichnung Bettschiesser vorkommt (in der Nähe von Achern und zwischen Lahr und Schiltach). Aber es gibt noch andere Bezeichnungen in Baden, nämlich Schlangeblueme, Brunzblueme, Rossblueme, Seichblueme, Sonnewirbel, Saublueme, Chettemestock, Saustock, Saudätsch, Morestude (von Mor = eine Muttersau), Milcher, Milchstock (bezogen auf den milchartigen Saft in den Stielen).
Der Löwenzahn ist eine Delikatesse und Heilpflanze zugleich. Die jungen, zarten Triebe verwendet man im Frühjahr als Salat oder auch als Gemüse.
Beachtlicher Gehalt an Vitamin C
Im Kraut und der Wurzel sind folgende Inhaltsstoffe vereint: Bitterstoffe, Sitosterol, Stigmasterin, Karotinoide, Flavonoide, Kaffeesäure und besonders in der Wurzel Schleimstoffe, Fruchtzucker und Inulin. Frische Blätter zeichnen sich durch einen beachtlichen Gehalt an Kalium (590 mg/100 g) und Vitamin C (115 mg/100 g) aus. Somit sind in den Blättern mehr Vitamin C anzutreffen als beispielsweise in Zitronen und Orangen, die um 50 mg/100 g haben.
Frühjahrskuren sind gefragt
Die innerliche Anwendung (Tee, Tinktur, Pflanzensaft) wird empfohlen bei Appetitmangel, Störungen im Bereich des Galleabflusses, Völlegefühl, Blähungen, zur Anregung der Harnausscheidung. Gegenanzeigen: Entzündung oder Verschluss der Gallenwege, Darmverschluss.
Löwenzahn ist Bestandteil von „Frühjahrskuren“ und „Blutreinigungskuren“. Ich kenne etliche Leute, die eine solche Kur regelmässig ein- oder zweimal im Jahr mit Presssäften aus frischem Brennnesselkraut und dem Presssaft aus frischem Löwenzahnkraut und Löwenzahnwurzeln machen. Das Frühjahr eignet sich deshalb am besten. Dies ist deshalb notwendig, weil unser geplagter Körper mit einer Vielzahl von Stoffen wie Umweltgifte, Nahrungsmittelzusatzstoffe, Schimmelpilze, Benzpyrene, Pestizide und Arzneimitteln fertig werden muss. Dazu kommen noch die zahlreichen Bestandteile einer üppigen Nahrung mit reichlich Fleisch und Wurst und der Alkoholgenuss. Unser Organismus bewältigt diese Stoffe deshalb, weil er die Fähigkeit zur Abwehr, Entgiftung und Selbstreinigung hat. Besonders helfen uns die Gallenblase, Leber, Lunge, Niere, Darm und Haut bei der Ausscheidung von Giften. In Zeiten des Überangebots kann es jedoch zu einer vorübergehenden Ablagerung von Stoffwechselprodukten, sogenannten „Schlacken“, im Binde-, Knorpel- und Fettgewebe kommen.
Und wie reagiert der überstrapazierte Körper? Nun, er reagiert mit Müdigkeit, Energielosigkeit, Sodbrennen und trockener Haut. Auch können sich rheumatische Erkrankungen, Gicht und Darmentzündungen manifestieren.
Durch eine Entschlackungskur mit Frischpflanzen- und Gemüsesäften können der „Abfallberg“ entsorgt und auch die Beschwerden zum Verschwinden gebracht werden. Eine solche Kur hat noch einen Nebeneffekt: Man nimmt sanft ab.
Ohsawa und der Löwenzahn
Prof. Georges Ohsawa (1893−1966), japanischer Philosoph und bedeutendster Vertreter der makrobiotischen Ernährungslehre und ZEN-Meister, besuchte 1956 mit seiner Frau den südlichen Schwarzwald. Sie verbrachten ihren 3-wöchigen Urlaub im Haus Sonnenhof in Holzinshaus bei Schönau (Landkreis Lörrach D). Sie unternahmen mit Elisabeth und Hellmut Finsterlin zahlreiche Wanderungen und studierten die regionalen Heilpflanzen. Ohsawa war von der herrlichen Landschaft sehr angetan. Als sie von einem Aussichtspunkt aus auf das Städtchen Schönau blickten, fragte der prominente Gast, wie viele Einwohner dort wohnen, wie viele Ärzte dort praktizieren und ob sie genügend zu tun hätten. Finsterlin beantwortete seine Fragen und betonte, die Ärzte hätten hier genügend zu tun. Die Praxen wären zu bestimmten Jahreszeiten randvoll. Ohsawa schüttelte höchst erstaunt den Kopf und bemerkte: „Wie ist es nur möglich, dass es in dieser Landschaft Kranke gibt?“
Während eines Gesprächs kamen sie auch auf die Verwendung der Ginsengwurzel in Europa zu sprechen. Ohsawa meinte, wo viel Löwenzahn wächst, brauche man keinen Ginseng. Er schätzte die Wurzel des Löwenzahns sehr und empfahl diese zu jeder Mahlzeit zu essen (Stücke gebacken und etwas gesalzen). In der makrobiotischen Ernährungslehre gilt übrigens die Löwenzahnwurzel als eines der positivsten Nahrungsmittel des westlichen Menschen.
Anmerkung: Diesen Hinweis verdanke ich der Kräuterfrau Maria Finsterlin von Holzinshaus. Sie verwies auf die Schrift „Erde und Kosmos“, 1978-03, in der die Begegnung mit Ohsawa beschrieben wurde.
Löwenzahnhonig
Ein altes Rezept aus der bäuerlichen Bevölkerung des südlichen Schwarzwaldes ist der Löwenzahnhonig:
Zutaten: 300 g Blütenköpfe vom Löwenzahn, Zitrone, Zucker.
Zubereitung: Blütenköpfe in 1 Liter Wasser kalt ansetzen, langsam zum Sieden bringen, leicht aufwallen lassen, Topf vom Herd nehmen, mit Pergament abdecken und über Nacht stehen lassen. Blüten auspressen und durch ein Leintuch geben. Die klare Lösung mit 1 kg Zucker versetzen und eine kleine und in Stücken geschnittene unbehandelte Zitrone zugeben, zum Kochen bringen und bis zur Honigkonsistenz eindampfen. Abkühlen, Zitronenschalen herausnehmen und Geleeprobe machen. Hat sich noch kein Gelee gebildet, nochmals eindampfen. Dieser Löwenzahnhonig hilft bei Rheuma, Gicht und hat eine wohltuende Wirkung auf den Organismus.
Löwenzahnschnaps
Das folgende Rezept teilte mir Familie Stückler von Todtnauberg (Kreis Lörrach D) mit:
Zutaten: Löwenzahnwurzeln während der 2. Blüte verwenden. Die Wurzeln sind saftiger und grösser, 50-prozentiger Hefeschnaps.
Zubereitung: Die Wurzeln bürsten, fein schneiden und in ein grosses Einmachglas füllen; die Wurzelstücke mit Hefeschnaps bedecken, und 3 Monate an einen hellen Ort − ohne direkte Sonneneinstrahlung − stellen. Während dieser Zeit das Glas jeden Tag wenden, dadurch wird eine gute Auslaugung der Wurzeln erreicht und das braune Anlaufen dieser Pflanzenteile verhindert. Nach 3 Monaten das Ganze durch ein Haarsieb mit Leinentuch geben und zu einem Liter Filtrat 1,5 Liter Hefeschnaps geben.
Der Löwenzahn bietet uns also eine ganze Menge. Er ist Nahrungs- und Heilmittel zugleich. Aber es gibt leider auch Menschen, die den Löwenzahn als Unkraut sehen und ihn aus ihren Gärten ausrupfen und vernichten. Das ist schade. Aber vielleicht ändert sich die Einstellung zum Löwenzahn bei einigen Lesern, die sich diesen Blog zur Gemüte führen. Das ist meine Hoffnung.
Internet
www.gesundheit.de (Heilpflanzen-Lexikon)
Literatur
Künzle, Johann: „Das grosse Kräuterheilbuch“, Verlag Otto Walter AG, Olten 1945.
Scholz, Heinz; Hiepe Frank: „Arnika und Frauenwohl“, Ipa-Verlag, Vaihingen 2002.
Scheer-Nahor, Friedel: „Seicher oder Schiesser: Der Löwenzahn hat´s schwer“, „Badische Zeitung“, 09.06.2000.
Vonarburg, Bruno: „Energetisierte Heilpflanzen“, AT Verlag, Aarau 2010.
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