Naturheilmittel wie Ananastabletten aus dem Call-Center
Autor: Walter Hess
Heute Nachmittag riss mich beim Versuch, die Funktion des Herzens allgemeinverständlich zu beschreiben, eine Telefonverkäuferin einer St. Galler Firma, in der die Silbe „phyto“ (pflanzlich) vorkommt, brutal aus meiner Gedankenwelt. Sie stellte sich und den Namen einer Firma in Schnellsprechweise unverständlich vor, und ich musste nachfragen, wie bitte ihr Name und wie derjenige der Firma genau sei, was sie offensichtlich nervte. Aber sie wiederholte brav…
…und fiel gerade mit einem statistischen Bericht ins Haus: „80 % der Schweizer sind leicht übergewichtig“, sagte sie, das Verkaufsgespräch markant einleitend. Am liebsten hätte ich gesagt „Wem sagen Sie das?“; aber schlagfertig, wie ich gerade war, antwortete ich, "...dann sollen sie weniger fressen und sich mehr bewegen“. Dass das auch für mich gilt, verschwieg ich vorsichtshalber, um nicht die geschäftliche Basis zu verbreitern und meine Lage unnötig zu erschweren.
„Was halten Sie von Heilpflanzen?“ erkundigte sich die Dame, obschon sie das überhaupt nicht interessierte. Doch holte ich zu längeren Erklärungen über meine Sympathie zu allen phytotherapeutischen Massnahmen inklusive den entsprechenden Therapien aus, und sagte auch freimütig, dass ich immer wieder passende Kräutertees trinke, um mein Immunsystem zu stärken; Kaffee würde ich kaum noch konsumieren. Die Dame war mir sympathisch, und ich wollte ihr Nützliches mit auf den weiteren Lebensweg geben.
Die Telefonverkäuferin aus dem Call Center atmete auf und dachte, nun den nötigen Ansatz für den Tabletten-Absatz endlich gefunden zu haben. „Was halten Sie von einer Entschlackungskur mit Spirulina- und Topinambur-Tabletten?“ schmetterte sie in den Hörer (bei der Spirulina handelt es sich um eine spiralenförmige Süsswasseralge); sie (nicht die Alge) hatte ihre Fassung offenbar wieder gewonnen. „Überhaupt nichts“, schmetterte ich im Brustton der Überzeugung zurück. „Sie sehen doch weiss Gott selber ein, dass es ein Unsinn ist, sich zuerst zu verschlacken und dann sich wieder zu entschlacken. Man muss die richtigen, giftfrei angebauten Lebensmittel auswählen, und dann genügt die Funktion der Leber.“ – „Aber jährlich einmal?“ bettelte sie, dem Entschlackungs-Minimum zusteuernd. „Nicht jährlich einmal, meine Leber entschlackt ununterbrochen.“ Meine Leber schien bei diesem Kompliment zu jauchzen. Es tat ihr gut. Ich belohne sie heute noch mit einem Glas Rotwein.
„Und zudem“, fügte ich bei, „Topinambur kann man selber anbauen und ihn dann frisch geniessen. Ich habe winterharte Topinamburpflanzen (Helianthus tuberosus L.), die mit der Sonnenblume verwandt sind, hier in Biberstein auch schon selber im Garten gehabt. Die Pflanze entwickelt Rhizomknollen, die Inulin enthalten, ein Zuckerspeicherstoff, wie er bei der Familie der Korbblütler (Compositae) an der Tagesordnung ist, beispielsweise auch in Zichorienwurzeln.“ Das interessierte die Dame nicht im Entferntesten. Meine detaillierte botanische Lektion war vollkommen für die Füchse, reine Kraftverschwendung.
Als gewiefte Verkäuferin versuchte sie es in Form eines letzten Aufbäumens mit Ananastabletten als Besen zur Schlackenentfernung. Da setzte ich noch einen drauf: „Mir sind frische Ananasse lieber, viel lieber“, hielt ich fest – „und zwar solche aus giftfreier Produktion.“ − „Da weiss man nie, was drin ist“, schluchzte die Dame, den 2. Teil meines Satzes glatt überhörend. „Seit 2003 gibt es auch zertifizierte Ananasfrüchte von Max Havelaar“, konnte ich noch ganz schnell als letzten Zwischenruf platzieren.
Die nette Anruferin, die mir selber allmählich Leid tat, verabschiedete sich, an dieser Stelle angekommen, aus eigenem Antrieb fluchtartig, ohne mir ihr Tabletten-Angebot konkret unterbreitet zu haben. Sie hatte mit mir, diesem Trottel, ohnehin zuviel Zeit vertrödelt. Zeit ist Geld. Auf zum nächsten Kunden! Viel Glück!
Vielleicht essen wir auch einmal unser Brot in Tablettenform. Das könnte uns vom lästigen Kauen befreien, Zeit sparen und täte der Wirtschaft gut.
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