BLOG vom: 20.06.2011
Londoner Analphabetismus: Sterben Leseratten aus?
Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
Gemäss „Evening Standard” können viele 11-Jährige in London kaum lesen und schreiben, und deswegen wurde eine Kampagne eingeleitet, ein Versuch, dieses Manko wenigstens zu lindern. Auf freiwilliger Basis sollen Erwachsene einspringen und den Schülern beim Lesen helfen. In vielen Familien fehlen Bücher. Mangelhaft geschult, sind viele Eltern unfähig, ihren Kindern vorzulesen. Die Zeit der Bettgeschichten ist weitgehend vorbei. Dem ist nicht immer so gewesen. Das wissen wir aus vielen Märchen- und Kinderbüchern aus der viktorianischen Epoche, die einst an fleissige und gelehrige Schüler als Preise verteilt wurden. Buchgeschenke waren damals noch beliebt und üblich.
Wer nicht geläufig lesen kann, dessen Sprachschatz verarmt: Er oder sie kann sich weder mündlich noch schriftlich ausreichend verständigen. Viele Erwachsene und ihre Kinder hocken stur hinterm Fernseher verschanzt oder spielen wie besessen mit elektronischem Spielzeug. Hinzu kommt das Twitter-Gestammel. So verkümmern die natürliche Fantasie und Vorstellungsgabe, die in jedem Kind schlummern. Die Kluft zwischen Arm und Reich, Gebildeten und Ungebildeten, vertieft sich. Das ist ein Armutszeugnis für unsere Zeit.
Diesen Zustand mögen vielleicht viele Politiker insgeheim begrüssen; denn die fehlende Urteilsfähigkeit weiter Kreise kommt ihrem Ränkespiel sehr entgegen. Die Leute sind zunehmend manipulierbar und werden mit unerfüllten Versprechen, auf Englisch „pledges“ genannt, abgespeist. Mit leeren Slogans (wie etwa „die allumfassende Gesellschaft“) werden sie gefoppt.
Warum verteuern sich die Lebenskosten in England ausgeprägter als in vielen anderen europäischen Ländern? Der Wertschwund der englischen Währung gegenüber dem Euro wird geflissentlich verschwiegen. Die Pfundschwäche verteuert die Importe merklich. Wer versteht die Auswirkungen des „quantitative easing“ (das Drucken von wertlosen Banknoten)?
Wer kaum lesen kann, wird auch die Kleinsttexte unter den angepriesenen Lockvögeln der Banken und Versicherungen weder lesen noch verstehen. Die Medien und ihre Mogule helfen solcher Hirnwäsche des Publikums wacker voran. Irreführende und bruchstückhafte Meldungen aus Irak, Afghanistan usw. werden allseits geschluckt. Das Evangelium kommt aus Amerika.
Das Pensionsalter wird verschoben, die Pensionen gekürzt. Die Proteste der Studenten über die hochgeschnellten Studienkosten sind wirkungslos verpufft. Kritische Stimmen werden unterdrückt. Immerhin ist – angesichts des Preistreibens bei den Energiequellen, Transportkosten und Rohmaterialien – feststellbar, dass die Konsumenten in der Kostenklemme vor nicht notwendigen Ausgaben („discretionary spending“) zurückkrebsen. Von Geldnöten geplagt, werden Ferien im Ausland gestrichen. Im Lebensmittel-Einkaufskorb herrschen billigere „Own label“-Produkte vor.
Wer kaum lesen und schreiben kann, ist im Vornherein vom reichhaltigen kulturellen Angebot in London ausgeschlossen, seien es Ausstellungen, Theater und andere Darbietungen, die eine gewisse Bildung voraussetzen, wozu auch die Schätze der Literatur zu nennen sind. Für die Leseschwachen ist der Massensport als Ablenkungsmanöver wie geschaffen, und der Klatsch der seichten Celebs (der Berühmtheiten) gehört dazu. Das Gerangel um Eintrittskarten in die Olympiade-Stadions erhitzt ihre Gemüter. Damit ist die Kluft zwischen den „Auserwählten“ und den „Ausgeschlossenen“ in der Gesellschaft, auch ausserhalb des finanziellen Bezugs, vertieft und erweitert.
Die einst vortrefflichen und frei zugänglichen Bildungsstätten für alle sind ausgeblutet – die letzten „Grammar Schools“ serbeln dahin, so gut wie der gesunde Menschenverstand. Viele öffentliche Bibliotheken werden geschlossen. Daraus ableitbar, liegt die Moral in der Gosse – ich denke dabei an den entsetzlich-grausamen Film „Reservoir Dogs“ (1992) aus Amerika, der in diese Kloake führte. Das ist gewiss nicht der Ort für die Leseratten, den ich meine.
Wo bleibt meine Zuversicht auf Besserung? Ich weiss es selber nicht.
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