Textatelier
BLOG vom: 07.07.2011

Die SBB führen uns vom Ticketbezug am Schalter weg

Autorin: Rita Lorenzetti-Hess, Zürich-Altstetten
 
Wir standen in der Schlange am SBB-Schalter in Zürich-Altstetten. 5 Personen. Anstatt einen 2. Schalter zu öffnen, kam eine Mitarbeiterin zu uns Wartenden hin und befragte jede Person nach ihren Wünschen. Die vor mir stehenden Männer und Frauen brauchten eine persönliche Beratung. Ich wurde gebeten, zu den Automaten ins Freie mitzukommen. Ich benötigte ZVV-Mehrfahrtenkarten, ebenso solche für den 9-Uhr-Pass.
 
Diese könnten auch am Automaten bezogen werden, erfuhr ich. Das wusste ich noch nicht. Die versierte SBB-Mitarbeiterin tippte meine Wünsche schnell in die Tasten, doch der Kasten akzeptierte meine Postcard nicht. Wir wechselten an einen anderen Apparat, und dort waren die Fahrkarten dann erhältlich. Die SBB-Mitarbeiterin hatte mir zwar jeden Schritt erklärt, damit ich mir die Abfolge einprägen könne, doch mir ging das alles viel zu schnell.
 
Ich empfand es in diesem Augenblick als eine Zumutung, dass man auch Kunden im Pensionsalter keine Billette mehr am Schalter verkaufen will. Das sprach ich auch aus. Vor dem Reiseantritt wolle ich keine Aufregungen mit Automaten. Sie hätte jetzt selber erlebt, dass die erste Variante nicht funktioniert habe, fügte ich bei.
 
Sie regte an, hier immer wieder zu üben. Dieser grundsätzlich richtige Rat überzeugte mich aber nicht. Hier ist so viel Leben. Die Automaten sind meistens besetzt. Wie kann ich da gemütlich üben? Die Unruhe um mich herum würde mich sofort bedrängen. Als ich diese Situation schilderte, meinte sie lakonisch: „Kommen sie doch am Sonntagmorgen, wenn die jungen Leute ausschlafen. Dann ist es hier ruhig.“ Dieses Gespräch fand im April 2011 statt. Seither habe ich da und dort von dieser Erfahrung erzählt, und immer hiess es eindringlich: Beschreibe das! Du musst das machen. Und dieser Rat für den Sonntagmorgen, hiess es übereinstimmend, er sei ungehörig.
 
Auch mich oder uns stört es, dass wir unsere Billetteinkäufe nicht mehr am Schalter tätigen sollen. Wir sind doch oft auf zusätzliche Informationen über eine Reiseroute, nicht nur auf eine Fahrkarte, angewiesen. Es fällt uns schwer, auf die vielen kleinen Dienste am Schalter zu verzichten. Es fehlt in meiner Generation der spielerische Umgang mit Automaten. Für uns sind manche Begriffe und Abfolgen fremd. Und Menschen mit Sehschwächen haben es ganz besonders schwer. Da können sich unerwartet Probleme einstellen, die nur ein Mitmensch lösen kann.
 
2 Monate später stand ich wieder in der Kolonne. Diesmal brauchte ich ein Billett ins Wallis. SBB und Postauto. Wieder das Szenario, dass eine SBB-Frau einzelne Personen aus der Schlange zu den Automaten herausholen wollte. Zuvorderst eine Italienerin, die nur vage Deutsch verstand und mit Gesten ausdrückte, hier am Schalter wolle sie bedient werden. Die 2. Frau wollte ein Abonnement mit Foto bestellen. Ihr wurde der Schalterbereich sofort zugestanden. Und dann wurde ich befragt. Ich wünsche ebenfalls Schalterbedienung. Man wolle mir am Automaten behilflich sein, hiess es. Ich wünsche Bedienung am Schalter. Die SBB-Frau war sichtlich enttäuscht. „Sagen sie es doch ihrem Chef, dass wir eine persönliche Bedienung wünschen.“ Auf diese Bitte reagierte sie dann hilflos: „Das nützt nichts.“
 
Die Frau in der Schlange vor mir kehrte sich um und stimmte mir zu, unterstützte mich. Sie sagte: „Man will offensichtlich Stellen abbauen.“ Und ich folgerte: Wie traurig, da müssen Angestellte ihr eigenes berufliches Grab schaufeln.
 
Als mein Mann und ich in Visp ein Billett nach Saint-Maurice kaufen wollten, sprach uns ein SBB-Mitarbeiter in orangefarbener Veste am Eingang in den Schalterbereich an. „Kann ich ihnen behilflich sein?" "Wir wollen ein Billett lösen.“ „Kommen sie mit!“ Wir gingen zusammen ins Freie an den Automaten, und der Helfer tippte unseren Wunsch ein. Er vergewisserte sich, ob wir nicht vielleicht nach St. Moritz reisen wollten und gestand freimütig, er wisse nicht einmal genau, wie Saint-Maurice geschrieben werde. Da half ihm dann der Computer mit dem Angebot an Varianten. Wir konnten den Ablauf gut verfolgen. Der Mann strahlte Ruhe aus. Er wollte uns auch nicht belehren. Er wollte uns offensichtlich nur zu einem Billett verhelfen.
 
Für meine Reise nach St. Gallen versuchte ich, ein Billett am Schalter im Zürcher Hauptbahnhof zu erhalten. Kein Problem. Nachdem ich bezahlt hatte, dankte ich, dass ich bedient worden sei. Warum? Mein Dank irritierte. Weil man jetzt offenbar schweizweit möglichst an die Automaten verwiesen werde. Aha! Und dann: „Also, wenn sie hieher kommen, bekommen sie ihr Billett.“
 
Neu ist im Hauptbahnhof die schlangenförmige Abschrankung vor den Schaltern. Wir müssen uns nicht mehr für eine einzelne Schlange entscheiden. Nur noch anstehen und zuvorderst dann überblicken, welcher Schalter soeben frei geworden ist. Einladend wirkt die Leuchtschrift über den offenen Schaltern: WILLKOMMEN WELCOME.
 
Ich beobachtete, dass der Willkommensgruss ausgeschaltet wird, wenn der letzte Kunde, der bedient werden soll, eingetroffen ist. Ich beobachtete einen Mann, der etwas aufmüpfig und seiner Übersicht sicher rief: „Immer etwas Neues lernen!“ und dann vor einem Schalter eintraf, der kurz zuvor geschlossen worden war. Da stand er dann vor der Tafel „Schalter geschlossen“. Wichtig ist also das leuchtende Wort WILLKOMMEN. Es bedeutet: Schalter geöffnet.
 
In Saint-Maurice gelang es uns, am Automaten Zusatzbillette Visp‒Brig zu lösen. Bedingung für Deutschschweizer: Französisch verstehen. Hilfreich war die Ruhe an diesem Ort. Es warteten keine nervösen Menschen hinter uns. Ein gutes Erlebnis, auf dem wir aufbauen können.
 
Nach den beschriebenen Erlebnissen wirkte der Beitrag „Nie mehr an ein Bahnticket denken“ auf mich wie ein Magnet. Im Tages-Anzeiger vom Samstag, 02.07.2011 wurde informiert, dass ein elektronisches Ticket in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Schweiz die heutigen Billette und Abonnemente ablösen soll. Universell verwendbar, hiess es und über Funk kontrollierbar.
 
Erste Schritte sind nach diesem Bericht 2014 zu erwarten.
 
Nach meinen erwähnten Erfahrungen kann ich mich über eine solche Revolution freuen. Mich beschäftigt jetzt nur eine Frage: Wie bekommt es unserem Nervensystem, wenn die Chipkarte in unseren Jacken- oder Hosentaschen täglich beim Ein- und Aussteigen vom Funk aus der Ruhe geweckt wird?
 
Hinweis auf ein weiteres Blog zum Billettlösen
28.03.2008: Wartezeit, Zeitverluste: Hochkonjunktur der Nervensägen
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
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