BLOG vom: 13.09.2011
Gemeinnützig auf dem Stationenweg bis vor die Löffelabgabe
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Es mögen etwa 60 Personen gewesen sein, die am 09.09.2011 im unteren Stock des unteren (städtischen) Rathauses Aarau Sellerie, Lauch und Rüeblikanton-Rüebli (Karotten, Sinnbilder des Kantons Aargau) zerkleinerten. Die Zutaten für eine salzarme Armensuppe. Die am bitteren Ende jeder selber auszulöffeln hatte.
Das war der Auftakt zum Stationentheater „Wohltäter“, das zum 200-jährigen Bestehen der Kulturgesellschaft des Bezirks Aarau inszeniert wurde. Es führte durch verschiedene gottverlassene Winkel der Aarauer Altstadt, in die der Normalsterbliche kaum hinkommt. In einer ständig wechselnden Kulisse zwischen Gemäuer und unter Lauben bei Einbezug der Innenstadt-Bewohner und von Passanten wurde von der lockeren Schauspielergruppe „Szenart“ (www.szenart.ch – hier sind Auskünfte über weitere Vorstellungen erhältlich) originell und weniger original dargestellt, wie die Kulturgesellschaft (genau: Gesellschaft für vaterländische Kultur im Kanton Aargau) zwischen 1811, 1911 und 2011 ihre segensreichen, gemeinnützigen Hilfsaktionen aufzog, gelegentlich ohne das Helfersyndrom hinreichend im Zaume halten zu können. Dem in Aarau ansässigen Autor Roger Lille, der sich das alles ausgedacht hatte, kam es nur zum Teil auf historische Detailtreue an; denn er wollte vor allem einem unterhaltsamen Abend gewährleisten, bei dem auch einmal über die Schnüre der Zeitgerechtigkeit geschlagen werden konnte. Das ist vollauf gelungen.
Immerhin erhielten die Theaterwanderer, die Klappstühle mit sich trugen und die Klappe zu halten hatten, einen lebendigen Eindruck von den Zuständen im jungen, 1803 gegründeten Aargau, der seinerzeit noch nach Visionen suchte. Die treibende Kraft war Heinrich Zschokke (1771‒1848) gewesen, welcher es am Graben zu einem wuchtigen, überlebensgrossen Denkmal auf einem marmornen Sockel gebracht hat, das in Szenentheater einbezogen wurde und auf das der clowneske, schwindelfreie Conférencier (Markus Fricker) hinaufkletterte.
Der aus Deutschland nach Aarau ausgewanderte Journalist, Schriftsteller, Staatsmann, theologische Philosoph und philosophischer Theologe sowie Pädagoge Heinrich Zschokke entwickelte die Idee, zusammen mit einigen Freunden aus der Freimaurerloge „Zur Brudertreue“ wie Heinrich Remigius Sauerländer, Carl von Hallwyl und Daniel Dolder eine „Gesellschaft für vaterländische Cultur“ zu gründen. So entstand am 02.03.1811 das, was heute Kulturgesellschaft des Bezirks Aarau genannt wird und anfänglich „missverstanden, gehöhnt und verfolgt“ wurde (so Ernst Zschokke in seiner „Historischen Schrift für die Centenar-Feier 1903“), bis sie dann die verdiente Anerkennung fand.
Eine ihrer ersten Grosstaten war die Gründung einer zinstragenden Einlagekasse: der „Aargauischen Ersparniskasse“, die heute Neue Aargauer Bank (NAB) heisst, eine CS-Filiale mit einem gewissen Grad an Selbständigkeit. Die kulturbeflissenen Aarauer, die sich jeden Samstagabend zu einer Sitzung im „Goldenen Ochsen“ und dann im „Schwert“ trafen und im Juli 1812 die 2. Etage von Zschokkes Wohnhaus am Rain 18 in Aarau zum Zwecke der Abhaltung von Versammlungen mieteten, fühlten sich zu noch Höherem berufen und erfanden auch das, was heute in der Aargauischen Naturforschenden Gesellschaft weiterlebt und der man ein Füllhorn von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, festgehalten in üppigen Jahresberichten, verdankt. Zudem wurde eine „Hülfsgesellschaft“ ins Leben gerufen, die sich der Bedürftigen der Stadt Aarau und der Region annahm. Schutzaufsicht und Entlassenenfürsorge gehörten dazu. Denn wer arm geboren wurde, blieb arm: „Wohlfahrt bräucht’s“, war die zeitgemässe Devise, um dem entgegenzuwirken. Und im „Ochsen“ beschlossen die Herren um Zschokke (selbstbewusst gespielt von Stefan Hugi), die Welt zu einer besseren zu machen, wozu das Schaffen von Büchereien gehörte. Er vertrat die Idee des „Uomo universale“ – in einem einzigen Leben alle möglichen Talente zu vereinen, nur die Stümperei gestattete er nicht.
Dementsprechend wurde das Publikum, das am Stationentheater mitwandernd teilnahm, von resozialisierten Subjekten wie einem ehemaligen Hochstapler und anderen zwielichtigen, mürrischen Gesellen in der Innenstadt umhergetrieben. „Vorsicht vor Dieben!“, warnten sie, weshalb Lücken in der Publikumsprozession nicht geduldet wurden. Die markanten Gestalten mit finsterem Blick erhielten somit eine Aufgabe und Bewährungsprobe, die sie gut bestanden haben. Man darf wieder hoffen. Jeder Teilnehmer war mit einem alten Silber-Suppenlöffel ausstaffiert worden, den er zwar behalten, früher oder später aber dann doch abgeben muss. Um die Löffelabgabe kommt keiner herum.
So pendelte man dann eben durch 200 Jahre Vergangenheit und ein bisschen hinein in die Zukunft, zusammen mit Schindern und Geschundenen, Grossmäulern und Schattengewächsen im Licht und Schatten von Macht, Ohnmacht, menschlichen Schwächeanfällen und Helferei.
Was für Zustände einst herrschten, schilderten 3 Frauen aus der Zeit in einer Kellergalerie (Neue Galerie 6): 4 bis 6 Kinder vegetierten in einer dunklen Stube mit kleinen Fenstern (Resultat: Augenleiden); Wasser musste herangeschleppt werden, und für den Schulbesuch fehlte die Zeit. Innerfamiliäre Streite und Schlägereien kamen vor. „Der Mensch ist gut“, sagte eine der Frauen etwas kleinlaut. „Solange kein Alkohol im Spiel ist“, relativierte die andere. So kam es immerhin zu einer Initiative zur Bebilderung der einfachen Stube. Die desolaten Zustände wurden auf das Fehlen von aufbauendem Gedankengut und geistreicher Lektüre zurückgeführt.
Beim anschliessenden Gang durch die eindunkelnden Aarauer Gassen war ein Familienstreit in der 1. Etage eines Altstadthauses zu erleben. Eine Frau schrie ihren nichtsnutzigen Mann fürchterlich an: „Meist du, ich mache Deine Dienstmagd. Ich mache hier den Dreck nicht mehr“. Die Selbstkocherin explodierte. Sie jagte ihren apathischen Gemahl zum Teufel, warf ihm die Reisetasche und einen Blumentopf hinterher.
Weiter zur nächsten Station. Die Berufe der Aarauer von 1911 wurden in den Abend hinaus geschrien: Dachdecker 3, Färber 2, Goldschmiede 3, Handschellenmacher – äähh: Handschuhemacher 1. Usf.
Die kulturbeflissenen Aarauer wollten in den Gründerjahren Orte der Begegnung schaffen, Prävention betreiben. „Gab es das Wort damals schon?“, fragte einer. Die Rolle der Frau und Mutter, noch nicht vom Feminismus vom häuslichen Herd und vom Kinderbett weggefegt, und der Familie von ehedem wurde vom männlichen Wesen Dr. Blatter so umrissen: „Die Familie als Zelle, gesund bis in den Kern hinein. Alles friedlich. Gemeinsam. Einvernehmlich“. Dr. Blatter sprach, das Herz am rechten Fleck und überzeugt, das Richtige zu tun. Er führte in eine Näherei mit elektrischen Nähmaschinen, eine gar mit Zierstichfunktion, insgesamt eine Ausbildungsstätte zur Ertüchtigung der Frauen, wohl eine Erinnerung der Gründung von Arbeitsschulen für Mädchen in Gansingen AG und Muri AG, bzw. deren Fortsetzung. Die Frauen fädelten ein, diskutierten, teilten Sorgen, sangen das Beatles-Lied „Ob-La-Di Ob-La-Da“ – es kommt wie es muss (aus dem Nigerianischen übersetzt). Das Leben geht weiter. Wäre die Näherei in Tanzkurse ausgeartet, hätte das Dr. Blatter wohl weniger gern gesehen – dann hätte es krumme Nähte gegeben.
Auch die überbordende Festerei wurde etwas eingezäumt. Die Abstände zwischen Sänger-, Schützen- und Turnfesten wurden verlängert, Feste zusammengelegt und dadurch anzahlmässig reduziert, schon um der Fettsucht vorzubeugen. Das Volk sollte arbeiten und nicht festen.
Die weibliche Herrschaft und Raffinesse suchte den Durchbruch: „Wichtig ist, dass die Männer das Gefühl haben, alles sei ihre Idee gewesen“, sagte eine durchtriebene Domina. Der Familienzerfall bahnte sich an. Frauen entfernten sich vom häuslichen Herd, nahmen eine Stelle an, um sich zu verwirklichen. „Mehr Geld für Ferien in Italien“, rief ein Mann dazwischen.
Köstlich war die Versammlung von „Altlasten“ im Dachgeschoss des Kleidergeschäfts K17 (ehemals Leutwyler) – Menschen aus dem Altersheim. Auf Kulturgesellschaftsgründungen gehen das Bezirksaltersheim Suhr (Steinfeld) und das Krankenheim Lindenfeld in Suhr zurück. Die Altersheime seien etwas an den Rand gedrängt, sagten die betagten Damen und Herren, „schon etwas in Richtung Gottesacker“. Und dorthin, an den Rand, gehörten sie schliesslich auch („Altersheim ghöre is Gjät use“ – Altersheime gehören dorthin, wo nur noch Unkraut gedeiht), berichtete eine Insassin. Man habe von der heterogenen Gesellschaft ohne die Nase voll, gab ein alter Knabe aus dem Heim von sich. Integrationsmassnahmen seien sowieso für die Füchse. Man stelle sich einen Ausflug mit Rollator auf Kopfsteinpflaster vor! Und dann das Altersheim-interne Brimborium zur Unterhaltung, zur Belustigung der Alten! – zur Beruhigung des schlechten Gewissens der Jüngeren. Nichts kann man dem Alten recht machen.
Der nächste Ausflug führte das Publikum ins Bezirksgericht-Gebäude, wo mit dem Alkoholismus abgerechnet wurde: „Schnaps sollte Aqua mortis und nicht Aaua vita heissen“, sagte ein gemeinnütziger Helfer mit der Leber auf dem rechten Fleck, der eine Alkoholikerin und einen Alkoholiker, dieser bleich und mit sinnentleertem Blick, als abschreckende Beispiele schonungslos vorführte. 5 Flaschen pro Kantonseinwohner und Jahr seien 1911 im Aargau gesoffen wurden. Es brauche Mässigkeitsvereine, war die Forderung, die sich daraus ergab. Denn im Wirtshaus beginne das Geld zu brennen.
Das Spektakel (Regie: Hannes Leo Meier) fand in der NAB-Vorhalle seinen Abschluss, wo 3 Knaben mit schauspielerischem Talent aus der Schweizerischen Schwerhörigenschule Landenhof (SSS), ebenfalls eine frühe Gründung der Kulturgesellschaft, auf die Bedeutung der Sprache und des Kommunizierens in sympathisch berührender Art hinwiesen.
Eine gemeinnützige Sprecherin lobte in der Bank die Banken über alle Massen. Sparkassen machten mehr aus dem anvertrauten Geld, rief sie in Erinnerung, sie machten aus 1 Franken 1 Fünfliber. Banken seinen die sicheren Häfen, die wir brauchen. Sie würden das in sie gesetzte Vertrauen zu nutzen wissen ... „zu schätzen wissen“, rief einer korrigierend drein. Unser Geld sei ihr, der Bank, viel wert – es sei unser Kapital, von dem alle zehren, eine Garantie für eine blühende Zukunft.
Der SMI hatte an jenem 09.09.2011 gerade 1,78 % verloren, der Dow Jones stand wegen der desolaten US-Entwicklungen mit 2,69 im Minus, der Nasdaq mit 2,42 %, der Nikkei 0,63 %. Die Indices gaben den Cocktails mit vielen exotischen Fruchtsäften, die von der NAB offeriert wurden, ihre Namen, wobei ich den Schweizer SMI vorzog.
An den Börsen zeichnete sich die gleiche Armut für alle ab; die Politik leistet Schützenhilfe. Die Kulturgesellschaft des Bezirks Aarau besteht weiter. Ein starker Trost. Sie wird demnächst wieder viel, viel mehr zu tun haben.
Quelle
Rauber, Hermann: „Geistiges Zentrum des jungen Kantons“, in der „Aargauer Zeitung“ vom 24.08.2011.
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