Wenn die Gegenwart in Zukunft Vergangenheit sein wird
Autor: Walter Hess
Nach der pompösen Inauguration von Georges W. Bush im Hinblick auf seine letzte Amtszeit kommt jetzt die Feier, die solches und alles andere in den Schatten stellt, denn sie dauert nicht nur 4 Tage, sondern ein ganzes Jahr; über den Neujahrsapéro habe ich bereits im Rahmen des Blogs vom 4. 1. 2005 („Sind Altersheime eine Fehlkonstruktion?“) berichtet. Doch an diesem heutigen entscheidenden Datum, um das sich alles dreht, dem 10. Februar 2005, passiert ausnahmsweise gerade überhaupt nichts Einschlägiges: Genau heute vor 725 Jahren soll die Gemeinde Biberstein im Kanton Aargau geboren worden sein.
Was ist denn damals, in jenem Geburtsjahr 1280, um das sich alle Festivitäten drehen, überhaupt passiert? Laut dem Lokalhistoriker Markus Widmer-Dean, CH-5737 Menziken AG, handelte es sich um „eine rein zufällige Angelegenheit, ja nicht einmal ein Dorfereignis“. Das Datum 10. Februar 1280 ist mit der 1. bekannten Erwähnung des Namens Biberstein in den Quellen verbunden, die heute noch vorhanden sind. Damals wurde der „Müller von Biberstein“, dessen Name unbekannt ist, in Oberkirch bei Sursee LU als Zeuge einvernommen; auch der Ritter Jakob von Kienberg spielte eine Rolle. Das geschah in einem langwierigen Prozess zwischen dem Chorherrenstift Beromünster als Besitzer des Meierhofes und der Dorfherrschaft von Küttigen, der westlichen Nachbargemeinde von Biberstein. Der Prozessverlauf tut hier nichts zur Sache; es geht hier bloss um die 1. Erwähnung von Biberstein, die mit der Gemeindegeburt gleichgesetzt wird. Daraus sieht man, dass Gemeinden unter Umständen auch in Gerichtssälen geboren werden können.
Ich möchte an dieser Stelle selbstverständlich nicht etwa das so genannte „XL-Fest“, das in diesem Jahr 2005 in Biberstein aus dem erwähnten Grund gefeiert wird, in Frage stellen oder gar sagen, es sei unnötig. Denn wie jeder Mensch, so will auch jedes Gemeinwesen als öffentlich-rechtliches Gebilde eine Herkunft, einen Stammbaum haben. Ich selber habe in meinen Jugendjahren eine „Genealogische Übersicht über die Hess-Familie (von Wald ZH, Zweig von Laupen)“ als grosse, mit Tusche gezeichnete und geschriebene Schautafel geschaffen, um meine Herkunft zu ergründen. Dazu musste ich alte Schriften entziffern lernen und bin immerhin bis zu einem Hans Hess zurückgedrungen, der 1530 zur Welt kam. Dann gab ich auf. Die Quellen versanken immer tiefer im Dunkel der Vergangenheit.
Wie die Geburtstage im familiären Bereich, so sind ebenfalls Jubiläen für Gemeinden wichtige Aspekte der Geselligkeit und der Ausprägung des Zusammengehörigkeitsgefühls. Der Anlass als solcher spielt an sich keine Rolle. Wichtig sind die Resultate. Eines der Ergebnisse wird ein schwerwiegendes Buch („Ortsgeschichte Biberstein“) sein.
Und so haben wir, die Mitglieder der Begleitkommission, welche die Entstehung dieser 300 Seiten starken „Ortsgeschichte Biberstein“ mit Lokalkolorit anreichern soll, zusammen mit Markus Widmer gerade wieder einen Abend lang getagt; es war die 9. Sitzung. Zu dieser Kommission gehören der heutige Schlossherr von Biberstein, Urban Zehnder, kein Bibersteiner Urgestein zwar, aber lebhaft interessiert. Er kratzt die Schlossgeschichte, was die Heimbewohner betrifft, mühsam zusammen und ist froh um jede Adresse und jeden Kontakt. Wenn immer es ums Auffüllen von Wissenslücken geht, sind der frühere Bibersteiner Gemeindeammann Gottlieb Ott und Willy Mürset, ehemaliges Gemeinderatsmitglied, im Element, reife, ortskundige Persönlichkeiten, die der Kommission selbstverständlich ebenfalls angehören, genau wie die beiden ortsansässigen Historiker Rudolf Schläpfer und Hans Widmer als Fachinstanzen mit historischem Weit- und Weltblick. Von Gemeinderatsseite ist René Bircher dabei, der Kommissionspräsident als Insider – insgesamt ein vereinigtes Kraftpaket an Lokal- und Allgemeinwissen.
Wir wissen häufig noch, wo was auszugraben ist. Aber was nicht mehr da ist, ist weg. So hat der Bibersteiner Schlossbrand 1984 den dort eingelagerten Akten etwelchen Schaden zugefügt. Bei solchen Elementarereignissen oder aber auch wegen Aufräumarbeiten gehen immer viele Schätze verloren. In solchem Zusammenhang erzählte der Historiker Widmer von einer Druckerei, die alte Akten muldenweise entsorgen wollte. Widmer, ein zupackender Mensch und leidenschaftlicher Sammler, konnte rettend eingreifen und das Aargauische Staatsarchiv mit den wertvollen Dokumenten befruchten.
Wenn ich jeweils bei den oft mühseligen Recherchen zur Lokalgeschichte erlebe, wie jedes Zettelchen, jedes Dokument, jede Buchseite für die Nachwelt von Bedeutung sein kann, dann frage ich mich schon, was denn von diesem heutigen Plastikzeitalter des Loslassens eigentlich einmal noch übrig bleiben wird? Alle die elektronischen Speicherplatten wird man bald nicht mehr lesen können, wenn sie nicht laufend auf neue Systeme übertragen werden. Und Zettelchen behält schon niemand mehr auf: Kehricht- und Altpapierabfuhr, so segensreich sie sind, verlocken halt doch zum Wegwerfen. Die industrielle Produktion ist mehrheitlich geradezu für Wegwerfer und Loslasser konzipiert, und so wurde die Kultur des Loslassens auch von dieser Seite gefördert. Umsatz muss her. Auch die Möbel werden heute nicht mehr über Generationen vererbt; immer mehr davon sind eigentlich Verbrauchsgegenstände wie Autos und Velos. Selbst Häuser baut man nicht mehr für die Ewigkeit. Vielleicht geht der Trend Richtung Mobilhome.
Natürlich werden sich zukünftige Vergangenheitsforscher an vielen Sondermülldeponien aus unseren Tagen gütlich tun können, die man allerdings nur mit entsprechendem Schutzgerät wird betreten können, wenn überhaupt (siehe Sondermülldeponie Kölliken SMDK). Der Inhalt wird eine Sache für chemiekundige Analytiker sein, die ihre Schlüsse ziehen können und interdisziplinär zusammen mit Gesundheitsspezialisten dann herausfinden können, warum diese Generationen bald einmal den grössten Teil ihres Einkommens ins Krankheitswesen einbringen mussten.
Es wird wahrscheinlich eher demoralisierend sein, in der Vergangenheit, die unsere Hinterlassenschaft sein wird, herumzustochern. Umso mehr macht es heute Spass, jene Vergangenheit zu ergründen, die eine gute war. Eine gute? Die Natur ist nicht nur ein Paradies, und die nach menschlichen Massstäben und Bedürfnissen umgestaltete ist es schon gar nicht. Man schlug einander schon immer den Schädel ein, um dieses einfache Sinnbild für den menschlichen Umgang miteinander zu gebrauchen. Gestritten wurde schon vor 725 Jahren, wie jener der Bibersteiner Anfänge belegt, den ich eingangs erwähnt habe. Eine freundliche Bibersteiner Einwohnerin, die vor einer Kommissionsabordnung auch heikle Begebenheiten aus der jüngeren Ortsgeschichte zu berichten wusste, fügte nicht umsonst bei: „I wött dänn nüüt gseit haa“ (Ich möchte dann nichts gesagt haben). Hier, in Biberstein, schwärzt man einander nicht an, eine schöne Tugend.
Doch scheint es, als ob auch das Streiten durchaus seinen Sinn haben könne: Man kann daraus ein Jubiläum machen, wie Figura zeigt. Man kann eine durch 25 teilbare Zahl zum Anlass zum Zurückdenken nehmen und daraus auf die Gegenwart schliessen, in der wir leben. Und man kann Lehren ziehen, falls die akute Manie des Loslassens nicht auch noch gute Erkenntnisse auf Nimmerwiedersehen wegspült. In diesem Fall wären auch diese aus Erfahrung gewonnenen Einsichten in unseren Hinterlassenschaften in Zukunft nicht mehr zu orten und definitiv verloren.
Was bleibt von uns zurück? Wahrscheinlich ein leerer Bildschirm.
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