Textatelier
BLOG vom: 23.02.2012

Schloss Liebegg: Racletteabend mit etwas Diplomat(ie)

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Den Duft und Geschmack kannte ich sozusagen von alters her: In einer halbfesten Vanillecreme, die in ein rundes Töpfchen abgefüllt worden war, befanden sich kleine Stücke von Zitronat, Orangeat und Makronen, die Kontakt mit Maraschino hatten – offensichtlich bzw. offenriechlich. Der Fruchtlikör aus Kirschen fällt durch sein zartes Bittermandelaroma auf.
 
Regina
Das Dessert schmeckte gut, doch es war wie verhext: Mir fiel einfach der Name dieser süssen Nachspeise nicht ein; ich rang verzweifelt um das richtige Wort, das irgendwo in meinem Gehirn abspeichert sein musste. Das Ringen führte zu keinerlei Erfolg. Doch da war eine liebreizende Serviererin mit einem leichten natürlichen Rotton in den Haaren und von einem Aussehen, als ob sie mit Honig ernährt worden wäre. Sie leistete hier einen freiwilligen Einsatz und mag höchstens halb so alt wie ich sein. Im linken Brustbereich war sie mit „Regina“ angeschrieben. Ich fragte sie unter Hinweis auf meine Vergesslichkeit nach dem Namen dieser Süssspeise. Nach Kennerart schnupperte Regina Heller , wie ihr voller Name lautet, am leeren Becher – ja, das kenne sie natürlich schon, zumal sie aus einer Zofinger Bäckerfamilie stamme. Sie zog den Duft nochmals in kurzen Zügen durch die schön geformte, ebenmässige Nase ein ... und sagte, es sei ihr jetzt richtig peinlich, dass ihr das Wort nicht einfalle.
 
Für mich war das ein Trost: Wenn man in jungen Jahren etwas vergisst, dann ist das nichts Besonders, im höheren Alter aber taucht die Vermutung nach Gehirnverkalkung, wenn nicht sogar an den Neuropathologen Alois Alzheimer (1864‒1915) auf, an dessen Name ich mich zum Glück noch erinnern kann, auch wenn diese Erinnerung keine besonderen Lustgefühle hervorbringt.
 
Die dienstfertige Regula eilte zum Buffet, wo weitere Lustbarkeiten wie Linzer- und Holländertorten sowie Cremen aufgereiht waren. Sie erkundigte sich beim Küchenpersonal und kam mit der erfreulichen Mitteilung zurück, jetzt wisse sie den Namen: Diplomat!
 
DIPLOMAT!!! Ja, genau. Das war die gesuchte Buchstabenfolge. Das Diplomat ist nicht unbedingt eine Schweizer Spezialität, sondern die Diplomatencreme kennt man weit über die Landesgrenzen hinaus.
 
Dieses Diplomat ist ein Konditorei-Kunstwerk auf der Basis von Vanillecreme. Im „Grossen Buch der Desserts“ von Brunhilde Thauer (Teubner Edition im Verlag Gräfe und Unzer 1981) ist ein Diplomatencreme-Rezept zu finden. Sie wird wie die Englische Creme mit Gelatine und Schlagrahm (Sahne), parfümiertem Weinbrand und Maraschino hergestellt. Im Kapitel „Zubereitung“ wird zudem auf die Beigabe von zerkleinerten Makronen und Biskuits verwiesen (Seite 196). Ja, genau so schmeckt die Delikatesse, die man früher in Konditoreien kaufen konnte. Sie war meistens in ein griffiges weisses Kartonbecherchen mit gefaltetem Rand verpackt.
 
Die Dessert-Diplomaten gehören zur heidnischen Familie der Götterspeisen, mit der ich allerdings nicht nur gute Erfahrungen gemacht habe. In der Schweizer Armee der 1950er- und 1960er-Jahre wurden mir Götterspeisen vorgesetzt, die ich als fürchterliches Geschluder an der Grenze des Geniessbaren empfunden habe. Sie wurden mit grossen Suppenkellen in den Teller geknallt.
 
Zugegeben, das war eine durchaus sinnvolle Verwertung von altbackenem Brot oder von jahrelang haltbaren Militärbiskuits („Bundesziegeln“), aufgeweicht, innerhalb einer schwer definierbaren Mischung aus Apfelmus, Vanillecreme, Fettstoff, in dem das Brot angeröstet wurde, und Zucker. Manchmal waren auch Rhabarberstangen darunter, was die Sache kaum verbesserte und mich beinahe zur Fahnenflucht trieb. Doch waren wir Grenadiere auf Härte getrimmt. Und hätte einer gesagt, das könne man ja nicht fressen, wäre ihm entgegnet worden, solch abgeschmackte Kritiker seien meist jene, die daheim noch viel tiefer unten durch müssten.
 
Cécile
Götterspeisen tauchen in vielen Ländern und in allerlei Variationen auf. Der Schriftsteller Theodor Fontane hat eine besondere Ausgabe davon im Roman „Cécile“ (1884/86) erwähnt. Darin beschreibt er das Schicksal einer aus gutem Hause stammenden verarmten Witwe. Sobald sie die spärliche Witwenrente aufgebraucht hatte, machte sie aus der Not eine Tugend und fertigte ihre Götterspeise an:
 
„Sie hatte ganz verschrobene Ideen und war abwechselnd unendlich hoch und unendlich niedrig. Sie sprach mit der Herzogin auf einem Gleichheitsfuss, am liebsten aber unterhielt sie sich mit einer alten Waschfrau, die in unsrem Hause wohnte. War dann das Geld vertan, was keine Woche dauerte, so hatten sie zwölf Wochen lang nichts. Es wurde dann geborgt oder von Obst aus dem Garten gelebt, und wenn auch das nicht da war, so gab es ,Pilzchen’. Aber glaube nur nicht, dass ,Pilzchen’ wirklich Pilze gewesen wären. Pilzchen waren grosse Rosinen, in welche, von unten her, halbe Mandelstücke gesteckt wurden. Das war mühevoll genug, und mit Anfertigung davon verbrachte Frau von Zacha den ganzen Vormittag, um die Götterspeise dann mittags auf den Tisch zu bringen. Inmitten des Schüsselchens aber lag, um auch das nicht zu verschweigen, eine besonders grosse Rosine, die nicht nur den ihr zuständigen Mandelfuss hatte, sondern auch noch von zwei horizontal liegenden und ebenfalls aus Mandelkern geschnittenen Speilerchen kreuzartig durchstochen war. An den vier Spitzen dieser Speilerchen sassen dann ebenso viele kleine Korinthen und stellten das morceau de résistance her, das in der Sprache der Zachas ,le Roi Champignon’ hiess. Eine Bezeichnung, von der die Leute sagten, dass sich sowohl der Witz wie das damalige Französisch der Familie darin erschöpft habe.“
 
Soweit Fontaine. In der Regel sind Desserts nicht unbedingt Speisen, die der Mensch zum Überleben braucht. Bei der erwähnten Witwe war dies jedoch der Fall, und man möchte kommentierend sagen, dass ihr die Götter günstig gesinnt waren.
 
Zu meiner Kochbibliothek gehört auch „Heimerans Küchen-Lexikon“ von Erhard Gorys (1975), das bedrohliche Zerfallserscheinungen vor allem am Buchrücken zeitigt. Beim dem Stichwort „Diplomatenpudding“ wird auf -> Kabinettpudding verwiesen: „Eine glatte, ausgefettete Puddingform schichtweise mit zerbröselten Löffelbiskuits, eingeweichten Rosinen und gewürfelten Konfit- oder Rumfrüchten füllen, mit Eiern verquirlte Vanillemilch darübergiessen, bis die Füllung gut getränkt ist. Den Pudding im Wasserbad garziehen lassen, nach leichtem Auskühlen stürzen und mit Englischer Creme überziehen.“
 
Desserts, die in üppiger oder milder Version heute beinahe ein Bestandteil eines Menus sind, gehören meistens in den Bereich der Sünde. Bei Betty Bossi habe ich gelesen, das „Diplomate“ komme in Marcels Prousts Roman „Sodom und Gomorrha“ vor, was ich nicht bestätigen kann, weil ich dieses Werk nicht kenne. Doch der Bezug passt nicht schlecht. Denn wie im biblischen Sodom und Gomorrha werden Gesellschaften und ihre Städte, in denen sich die Sünde breit gemacht hat, vom strafenden und mordenden Gott unter einem Regen aus Schwefel und Feuer begraben. Sicher wären auch Götterspeisen nicht unbehelligt davongekommen, denn man darf doch keine anderen Götter neben sich haben und sogar noch die gleichen Speisen wie diese essen ... Desserts zu geniessen gehört in den Sektor des Sündigens.
 
Man muss, wenn immer man sich solche Ausrutscher leistet, klug, ja geradezu diplomatisch, agieren, um wenigstens heil über die irdischen Runden zu kommen. Ein Diplomat, meist im auswärtigen Dienst tätig, ist ein Wesen, das sich (laut Duden-Herkunftswörterbuch) „im Umgang mit seinen Mitmenschen durch ein klug berechnendes, aber nach allen Seiten zu Kompromissen geneigtes Wesen auszeichnet“. Ob das Diplomat-Dessert sprachlich irgendwie damit in Zusammenhang zu bringen ist? Jedenfalls sollte es eine ausgewogene und damit diplomatische Mischung aus den verschiedenen Zutaten sein. Das Griechische diplóos heisst ja doppelt, vielleicht auch doppelbödig. Doch möchte ich mich nicht schon wieder in die Politik verlieren.
 
Im Schloss Liebegg
Es bleibt mir nur noch, die Quelle des Diplomat-Desserts anzugeben: Das Schloss Liebegg im unteren Wynental. Dorthin hatte der Präsident des 10-jährigen „Vereins Schloss Liebegg“, Magnus Würth, der auch als Holzdesigner tätig ist, auf den 17.02.2012 zum traditionellen, öffentlichen Fondue- und Racette-Obe (Abend) geladen. Und natürlich war in der heimelig renovierten Schlossscheune unter dem Holzbalkenhimmel mit den Streben und Sparren (Dachstuhl) wieder alles besetzt, als Käse- und Weindüfte das offene, zweistöckige Gebäude durchzogen und parfümierten.
 
Der in der Käserei Muhen im Suhrental bezogene Raclettekäse (man hört da schon das Muhen der Kühe als Lieferanten des Raclette-Ausgangsmaterials) war von einer Helferequipe in lange Streifen geschnitten worden, die genau in Schaufeln mit den abgewinkelten Wänden passten. Und auf deren Form wiederum war der Racletteofen abgestimmt. Etwa 8 Stück davon fanden nebeneinander Platz und wurden wie auf einem Förderband von links nach rechts geschoben. Der rechts angekommene Käsestreifen, der genug Oberhitze erhalten hatte und eine hellbraune Verfärbung aufwies, wurde mit einem Spachtel von der richtigen Breite in die Teller der hungrigen Gäste geschoben, links wurde der Schuber neu geladen. Gschwellti (Pellkartoffeln), Streifen von Essiggurken und Silberzwiebeln lagerten bereits auf dem Geschirr. Man wanderte zu seinem Tisch. Ein St-Saphorin sous les Rocs (Chasselas, Gutedel), auf den Terrassen von Dézaley in der Region Lavaux am Genfersee gewachsen, war dazu fast zu luxuriös. Man darf ihn ums Himmelswillen nur nicht direkt nach dem Essiggemüse trinken, sondern nach Käse und Kartoffeln; denn Essig zerstört jeden Wein.
 
Im Übrigen stellt sich beim Racletteessen immer eine ungezwungene, redselige Atmosphäre ein, die auch ohne Diplomatie auskommt und deshalb entsprechend ergänzt werden muss.
 
Damit beende ich dieses Kapitel Kulinarikgeschichte, zu der Kühe und den Käse zubereitenden und schmelzenden Hirten vieles beigetragen haben. Sie brauchten die Kunst, konstruktiv aneinander vorbeizureden (so der italienische Diplomat Daniele Varé, 1880‒1956, über die Diplomatie) nicht zu üben und konnten sich beherzt dem Handfesten zuwenden. Und genau so war es auf der Liebegg, die sich zu einem zunehmend gern frequentierten Treffpunkt entwickelt. Die Diplomatie betrifft zwischenstaatliche Beziehungen, die Liebegg-Veranstaltungen zwischenmenschliche.
 
 
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