Textatelier
BLOG vom: 15.04.2012

Von all den Schwierigkeiten, sich in Indien zu orientieren

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D, zurzeit in Bangalore/Indien
 
Den Benutzer eines Navigationsgeräts, kurz „Navi“ genannt, in Englisch „GPS“, irritiert der Titel dieses Tagebuchblatts. Ich gebe diese Adresse in das Gerät ein. und schon zeigt mir die Software, von Satelliten gesteuert, den Weg dorthin. Das war bisher nur im Auto möglich, jetzt gibt es aber „Google Maps“, abrufbar von jedem Computer oder mobilem Gerät mit Internetverbindung. Das System zeigt Ihnen den genauen Weg von Ihrem Standort bis zum Ziel ... wenn es denn funktioniert. Aber das ist eine andere Geschichte, besonders wenn Sie das Navi partout in die falsche Richtung in die Einbahnstrasse schickt, und das immer wieder. Und was es sonst noch so für Überraschungen auf Lager hat, wie ein Weg, der in den Fluss führt. Oder wenn das Gerät die richtige Strasse in der Stadt auch nicht findet.
 
Ich wage zu behaupten, dass beim Ausfall dieses Geräts oder dieser Software heute viele unserer Zeitgenossen im wahrsten Sinne des Wortes verloren oder besser: orientierungslos sind, besonders, wenn sie unterwegs zu einem ihnen unbekannten Ziel sind, denn sie lernen es nicht mehr, Strassenkarten oder Stadtpläne zu lesen. Jedenfalls würdie diese Fähigkeit in Europa meistens von Nutzen sein.
 
Haben Sie es schon einmal mit einer Adresse z. B. in England zu tun gehabt? Sie könnte so lauten: NN. Fox Hall, Back Bank, Kirton Abbott, Kirton, Boston, PE20TH, Lincs., England, Great Britain.
 
Steht das alles auf dem Briefumschlag, bleibt kaum noch Platz für den Absender. Der Brief kommt an, trotz der irritierenden Bezeichnung Boston, denn die Maschine, die die Schrift abtastet, der Mensch, der sie liest, „hangelt“ sich von Ziel zu Ziel bis zum Bestimmungsort und erkennt, dass nicht Boston, Mass., USA, gemeint ist.
 
Hier in Bangalore wird man auch bei Adressen immer wieder daran erinnert, dass die Briten als Kolonialherren das System eingeführt haben. Das heisst aber noch nicht, dass sich ein Fremder mit der indischen Variante zurechtfindet. Meine eigene Adresse ist so kompliziert wie etwa diese eines Taxiunternehmens: KKCabs, 84/D, 1st Floor, 4th Main, 4th Cross, New Thippasandra, Bangalore-75. Was auf Ihrer Quittung nicht steht, aber im Internet, ist „Markpoint Near Bata Show Room“. Stellen Sie sich vor, Sie müssen dort hin, weil Sie im Taxi Ihr Geld liegen gelassen haben. Und Sie wollen kein Taxi und keine Rikscha nehmen, so ganz ohne Geld in der Tasche. Der erste Orientierungspunkt ist der Stadtteil, also New Thippasandra. Dieser ist ziemlich gross und in viele kleine Stadtteile, die alle irgendwas wie ... Nagar im Namen führen, aufgeteilt. Sie wissen, 4th Main und 4th Cross sagen erst einmal gar nichts, denn jede grössere Strasse in Bangalore hat als Nebenstrassen, die auf diese grosse Strasse stossen, Main Roads und Cross Roads, oft bis 10th oder mehr. Also nehmen Sie sich die Bezeichnung 84/D vor. Sie wissen, es gibt Strassenbezeichnungen mit Zahlen. Diese finden Sie nicht auf Strassenschildern. Das sind etwa die Probleme mit den Strassenschildern: Entweder es gibt keine, oder sie sind in Kannada, der Landessprache von Karnataka, oder sie nennen einen ganz anderen Namen.
 
Ich habe schon einmal eine Strasse gesucht, deren Name sich auf die grössere Firma bezog, die dort ihren Sitz hat. Auf dem Strassenschild steht aber der Name „Sri ...“. Diesen Namen hat aber niemand benutzt oder gekannt. Sie fragen also zuerst einmal einen Passanten nach 84/D. Er weiss es nicht oder ist Analphabet oder will nicht mit einem weissen Ausländer reden, aus welchen Gründen auch immer.
 
Also fragen Sie den nächsten. Dieser zögert, überlegt und schickt Sie in eine bestimmte Richtung. Das muss nicht die richtige sein, denn dieser auskunftsbereite Bürger will sich nur nicht die Blösse geben, es nicht gewusst zu haben und gibt auf jeden Fall eine Auskunft. Dann klärt Sie ein freundlicher, gut englisch sprechender Passant auf, dass 84/D die Hausnummer bedeutet und das Unternehmen in 4. Stock eines Hauses in der 4. Strasse angesiedelt sei, die auf die 4. Main Street stösst und es hier im Stadtteil doch möglich sei, nach der Main Street zu suchen, ohne eine grössere Strasse als Orientierungspunkt zu haben. So, das war schon hilfreich. Sie haben auch schon die 1st Main gefunden und gehen weiter, nein, besser, zuerst fragen sie weiter. Hätten Sie jetzt gewusst, dass das Unternehmen nahe eines Bata Geschäfts angesiedelt ist, hätte Ihnen das vielleicht geholfen, aber Bata Schuhgeschäfte gibt es meistens mehrere in jedem Stadtteil und mit dem Begriff „Showroom“ können nicht viele etwas anfangen. Letztendlich finden Sie die Adresse nach vielem Suchen und bekommen vielleicht auch das verlorene Gut wieder, wenn Sie Glück haben!
 
Mir ist es aber auch schon passiert, dass ich aufgeben musste. Dabei handelte es sich um ein Museum, erst vor 2 Jahren mit neuerer Kunst eingerichtet, inmitten eines Geländes gelegen, das teilweise Zugangsstrassen hat, die für Unbefugte verboten sind. Das Museum kannte niemand der Passanten (die vermutlich noch nie in einem waren) und nach vielem Fragen, bei dem man mich immer wieder in die entgegengesetzte Richtung geschickt hatte, habe ich dann aufgegeben. Normalerweise kennen Rikscha-Fahrer die Adressen, aber auch hier war Fehlanzeige. Es waren keine Zugangshinweise zu finden. Ob das Museum überhaupt Besucher hat, ich weiss es nicht.
 
Einen „Markpoint“ (einen markanten, allgemein bekannten Punkt) nennen zu können, ist meistens ein Vorteil: Ich wohne „near Leela Palace“, in der Seitenstrasse in der Nähe eines Luxushotels der Krasnapolski-Gruppe mit Einkaufsmöglichkeiten darin und auf einem grossen Gelände, mindestens 200 × 100 m gross, das aussieht wie ein Palast, obwohl es erst 15 Jahre alt ist. Meistens nenne ich den Orientierungspunkt einem Rikscha-Fahrer. Dieser mustert der mich zuerst und nennt dann einen dreifach erhöhten Preis für die Fahrt. Zumindest kennen viele Bangalorer das Hotel.
 
Das Hotel ist an der Old Airport Road, eine lange Strasse, die immer verstopft ist und aus der Stadt hinausführt. Da ich die Bushaltestelle in der richtigen Richtung nur über eine etwas weiter gelegene Brücke, welche die Strasse überquert, erreichen kann, wenn ich in die Innenstadt fahren will, nehme ich die nächste Bushaltestelle in der entgegengesetzten Richtung der 6th Cross, an der ich wohne, an einer Main Street, und frage nach einem Bus zum „Majestic“. Das kann der Bus 314 A,B,C oder D oder ein ganz anderer sein. Warum man nicht einfach nur eine Zahl nimmt und nicht auch noch einen Buchstaben dahinter setzt ‒ als ob das Zahlensystem nicht genügend Zahlen bereit halte ‒, werde ich nie verstehen. Die Bezeichnung „Majestic“ finden Sie übrigens nicht auf der Stadtkarte, dort steht „Kempegowna Terminal“, auch am Busbahnhof selbst. Das ist der grösste Busbahnhof in der Stadt, neben vielen anderen etwas kleineren.
 
Der Hauptbahnhof ist um die Ecke. Von dort aus kann ich mich weiter orientieren. Der Mann an der Auskunft sagt mir bereitwillig, welchen Bus ich nehmen muss, will ich weiterkommen. Dabei kann es, will ich etwa an einen anderen Ort fahren, der Teil des Busbahnhofs sein, der 150 m auf der ganz anderen Seite liegt und ich erst einmal quer über den Platz laufen muss. Die Haltestellen sind ebenfalls mit Nummern versehen, die dahinter immer auch einen Buchstaben haben, also 16 A,B,C usw., aber je nach dem, auf welchem Teil des Busbahnhofs Sie sich befinden, den Haltepunkt 16 gibt es mindestens 2 Mal. Es gibt Schilder, die die Busnummern und das Ziel angeben, das der Bus ansteuert, in der Landessprache und auf Englisch, was mir oft nicht hilft, denn ich kenne den Zielpunkt nicht.
 
Bleibe ich in der Stadt, habe ich es von dort aus nicht weit, und ich befinde mich im belebtesten Teil von Bangalore mit vielen kleinen Strassen und Tausenden von kleinen Geschäften, immer voller Menschen. Der City Market, auch K. R. Market genannt (der eine kennt vielleicht nur die eine, der andere nur die andere Bezeichnung), ist ein grosser Gemüsemarkt und immer einen Besuch wert. Er ist im Stadtteil Sultantepe.
 
Dort stehen immer auch eine ganze Reihe von Bussen, obwohl es kein regulärer Busbahnhof ist. Wenn ich dann in meine Wohnung will, ist es schwierig, dem Busfahrer zu erklären, ich wolle nach Kodihalli, dort in die 80-Feet-Road, aber ganz ans Ende. Also frage ich nach einem Bus zur Old Airport Road und zum Leela Palace, und zwar frage ich die Busfahrer direkt. Sie wackeln kurz mit dem Kopf (d. h. sie bewegen den Kopf nach rechts und links in Richtung Schultern, was wir in Europa als ein Nein auslegen würden, hier aber Zustimmung bedeutet), und ich weiss, dass ich einsteigen kann. Der Busfahrer oder die Kassiererin oder der Kassierer vergessen nie, mir auch ein Zeichen zu geben, wenn ich aussteigen muss, egal wie voll der Bus ist.
 
Irgendwann hatte ich das System ein wenig begriffen. Mittels vielem Fragen, sowohl Passanten bzw. auch den Busfahrer, schaffe ich es inzwischen auch, eine Adresse in einem mir unbekannten Stadtteil zu finden oder mit dreimaligem Umsteigen wieder in meine Wohnung zu kommen, auch mitten in der Nacht.
 
Danach habe ich ein richtig gutes Gefühl.
 
 
Hinweis auf weitere Indien-Berichte von Richard Gerd Bernardy
 
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst